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Die Stimme des Meeres

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20.08.2001
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Die Stimme des Meeres

Ein weisser Sandstrand. Die Sonne reflektiert auf dem Meereswasser. Möwen kreischen gegen den Wind.
Auf einer Düne sitzt ein alter Mann und weint. Die Sonne scheint nicht stark genug um seine Tränen zu trocknen.

Zwei Jahre zuvor. Das Flugzeug nach Australien riss Hunderte von Menschen mit sich. Nur zehn Passagiere überlebten.
Der alte Mann wollte mit seiner Frau fliegen, doch sein Koffer war ins falsche Flugzeug gebracht worden.
Während seine Frau alleine mit den restlichen Passagieren im Flugzeug sass, wartete der alte Mann auf seinen Koffer. Er hatte zu ihr gesagt:

„Hab keine Angst, Anna. Der Flug wird reibungslos vorüber gehen. Du kannst drüben ja schon ins Hotel gehen, wenn ihr ankommt. Und während du dich in einem Liegestuhl am Strand entspannst, vielleicht einen Caiperinja trinkst, werde ich schon auf dem Weg zu dir sein. Du wirst schon sehen.“

Sein Herz schrie auf, wenn er daran dachte. Und doch wiederholte er die letzten Sätze immer wieder in Gedanken. Sie solle sich nicht beklauen lassen, hatte er noch gesagt. Ihr letzter Wortwechsel. So unbedeutend, dachte er traurig.
In diesem Augenblick landete eine Möwe vor ihm im Sand. Ihre gleichgültigen Augen schauten ihn an. Aus ihrem leicht geöffneten Schnabel kam ein leiser, krächzender Laut.
Der alte Mann war leicht verwundert, dass sich eine wilde Möwe so nah an einen Menschen heran traute. In seinem Magen machte sich ein etwas mulmiges Gefühl breit. Irgendwas an dieser Möwe war komisch. Ihre Augen waren die einer normalen Möwe, gleichgültig und ohne jede Erwartung und trotzdem hatte er dieses merkwürdige Kribbeln im Bauch. Er schaut ihr eine Weile in die Augen und je länger er das tat, desto mehr kam es ihm so vor, als würde in seinem Kopf jemand flüstern ohne dass er selbst er hören konnte.
Ohne zu wissen, was er tat, begann er zu sprechen.

„Weisst du, ich habe ihr gesagt, dass sie aufpassen soll, sich nicht beklauen lassen. Ich hätte ihr noch so viel zu sagen gehabt, wenn ich gewusst hätte, dass wir uns nicht wieder sehen. Das Meer hat sie mir genommen.“
Die Möwe legte den Kopf schief und musterte den alten Mann immer noch mit seinen tiefschwarzen Augen.
„Als wir geheiratet haben, sah sie so wunderschön aus in ihrem weissen Kleid. Die Schuhe waren ihr zu gross und das Kleid war auch nur eine billige Requisite aus einem Theaterstück, doch ich habe sie nie heller strahlen gesehen als an diesem Tag und als unser Sohn geboren wurde.“
Der alte Mann musste sich beherrschen, nicht wieder anfangen zu weinen.

„Ihre Mutter hatte sie immer vor mir gewarnt, ich sei nicht gut genug für sie, zu unbeständig und unvernünftig. Anfangs hatten wir es schwer. Der Job, den ich hatte, brachte uns gerade soviel Geld ein, dass wir die Miete und die Rechnungen bezahlen konnten und genug zu Essen hatten, doch wir waren zufrieden. Schliesslich konnte ich ihr doch ein gutes Leben bieten, meinst du nicht?“
Die Möwe schaute ihn unbeeindruckt an. Der alte Mann konnte nicht erkennen, ob sie ihm zustimmte oder nicht. Er fuhr trotzdem fort in seinem Gespräch mit dem Vogel.
„Trotzdem war ich nicht bei ihr als es am wichtigsten gewesen wäre. Wäre ich doch mit ihr abgestürzt, wir wären jetzt wenigstens zusammen.“
Die Möwe legte den Kopf schräg und krächzte. Dann flog sie wieder davon, wie sie gekommen war.
Der alte Mann schaute ihr verwundert nach. ‚Manche Tiere verhalten sich schon komisch‘, dachte er.
Der schnelle Abgang des Vogels hatte ihn etwas abgelenkt, doch die Trauer fand den Weg zu seinem Herzen schnell wieder. Er hockte noch eine Weile trübselig auf seiner Sanddüne bis die Sonne sich dem Ende des Ozeans näherte. Dann ging er langsam zu seinem Bungalow zurück. Zuhause würde noch eine Flasche billiger Gin auf ihn warten und die frühabendlichen Gameshows. Viele Abende gestalteten sich in letzter Zeit so in seinem Leben und er wusste, dass die alten Schläuche das nicht mehr lange mitmachen würden, doch andererseits war es ihm egal. Alles, was seinen Seelenschmerz betäubte, war ihm willkommen.

Der nächste Tag, eine verwahrloste Kneipe in der Nähe des Strandes, ein muffiger Dunst durchzieht die Luft.
Der alte Mann hockt an der Bar und trinkt Wein. Seine Stimmung hat sich seit dem Vortag nicht wesentlich gebessert. Seine Gedanken kreisen immer noch um die Tatsache, dass er seine Frau wegen eines Koffers hat alleine fliegen lasse, dass sie allein unter Fremden starb.
Durch die wurmstichige Tür aus altem Mahagoni stapft eine gelb gekleidete Gestalt. Der alte Mann kann nicht wirklich erkennen, wer es ist; der Wein hat bereits seine Wirkung auf ihn ein wenig entfaltet.
Die Gestalt bleibt neben ihm stehen und jetzt erkennt der alte Mann, dass es ein Fischer mit gelber Öljacke ist. Dieser beachtet das alte, angetrunke Wrack neben sich überhaupt nicht und stiert mit leuchtend grünen Augen an das mit Spirituosen vollgestellt Regal.
„Das gleiche wie immer, nicht wahr, Jasper?“, fragt der Barkeeper.
Der Fischer nickt nur und blickt weiterhin auf die Flaschen.
Wie bei der Möwe hat der alte Mann wieder dieses Gefühl, ein seltsames Kribbeln in der Magengegend und das Wispern in seinem Kopf, welches jedesmal, wenn er versuchte hinzuhören, verschwand.
Ohne jede Vorwarnung begann er wieder von seiner Frau zu erzählen, von den vielen wunderschönen Erlebnissen, die er mit ihr hatte, von den Hochzeitstagen, den Ausflügen, den langen Nächten. Aber auch von den Streitereien und kleinen Lügen.
Der Fischer hatte nun seine Augen auf den alten Mann gerichtet. In ihnen flackert ein undefinierbares Leuchten, die Miene des Fischers bleibt weiterhin undurchsichtig und wie aus Stein gemeisselt.

„An unserem zwanzigsten Hochzeitstag hatten wir einen Streit, einen von der heftigen Sorte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, um was es ursprünglich ging, es war so unwichtig. Nachher haben wir miteinander geschlafen, viermal hintereinander, wenn ich mich recht erinnere.“

Der alte Mann redet lange, jeder anderer wäre schon lange davongelaufen, besonders weil sich sein Zustand von angetrunken zu betrunken gewandelt hat und er sich immer wieder beherrschen muss, nicht loszuweinen. Doch der Fischer hört ihm weiterhin zu ohne jede Gesichtsregung.
Als der alte Mann schliesslich doch noch zu einem Schlusspunkt kommt, beginnt der Fischer überraschenderweise zu sprechen, leise und mit unerwartet hoher Stimme.

„Gehen Sie an den Strand. Dort werden Sie Frieden finden. Lassen Sie sich vom Meeresrauschen trösten. Vergessen Sie Ihren Kummer und denken Sie nur an die guten Zeiten, die Sie mit Ihrer Frau hatten. Das Meer und der Wind werden Ihren Schmerz lindern.“

In diesem Moment lässt der Barkeeper das Glas fallen, welches er gerade abtrocknen wollte. Sein Gesicht ist aschfahl und die Augen geweitet. Doch der alte Mann nimmt es nicht zur Kenntnis. Das Geräusch des zerbrechenden Glases scheint in weiter Entfernung.
Er sieht nur diese Augen.
Der Fischer steht auf, bezahlt und verlässt die Kneipe, während der Barkeeper die Scherben auf dem Boden einsammelt und der alte Mann sich von der kurzen Mitteilung des Fischers erholt, es scheint ihm fast, als wäre er hypnotisiert worden.
Als sich der Barkeeper aus seiner hockenden Haltung erhebt, bemerkt der alte Mann erst den Ausdruck auf dessen Gesicht.

„Sagen Sie mal, geht es Ihnen nicht gut?“, fragt er besorgt mit einem leichten Lallen, was die Frage etwas grotesk erscheinen lässt.

„Alles in Ordnung“, erwidert der Barkeeper mit leicht bebender Stimme. „Ich bin manchmal etwas schreckhaft, wissen Sie. Und dieses Klima bekommt mir wohl nicht mehr richtig.“

„Na dann. Ich mache mich auch langsam auch auf den Weg.“

Der alte Mann bezahlt und verlässt das Lokal. Als er ausser Sichtweite der Bartheke ist, schnappt sich der Barkeeper eine der Flaschen und giesst sich selbst einen Drink ein. Er hat gelogen, als der alte Mann nach seinem Wohlbefinden gefragt hat, nichts ist in Ordnung. Er ist auch nicht schreckhaft und das Klima gehört seit seiner frühesten Kindheit zu seinem Leben. Nur der Fischer hat ihn einen Höllenschrecken eingejagt. Oder besser formuliert, seine Stimme.
‚Mein Gott‘, denkt er sich, ‚das kann nicht sein, das ist doch unmöglich!‘ Seine Gedanken springen auf und ab und der Puls rast immer noch.
Der Fischer kommt seit Jahren jeden Abend in dieses Lokal und trinkt einen kleinen Feierabend-Aufmunterer und daher weiss der Barkeeper, dass der Fischer mit einem tiefen, rauhen Bariton spricht. Das vorher war nicht seine Stimme, sondern die des alten Stadtrats, der in einem alten Haus mit Turm zum Meer an der Westküste der Gemeinde gewohnt hatte. Er war vor wenigen Jahren bei einem Sturm aus unerklärlichen Gründen auf den Turm gestiegen und ins Meer gestürzt.

Der alte Mann denkt immer noch über die Worte des Fischers nach, als er wieder dieses Wispert in seinem Kopf bemerkt. Es wird immer lauter, doch er kann trotzdem nicht verstehen was es ist. Dann hört er die Stimme.

Geoooorge! Geeooooooorge!
Er erschrickt furchtbar, er hat das Gefühl als würde sein Körper unter Hochspannung stehen.
„Anna“, flüstert er. Seine Augen sind geweitet und er bemerkt gar nicht wie er einen anderen Weg einschlägt, als er ursprünglich geplant hatte. Wie ein Schlafwandler bewegt er sich nun auf dem gepflasterten Gehweg, wobei ihm die restlichen Passanten ausweichen müssen. Sie wundern sich nicht gross über den alten Mann, nach Alkohol und Altmännerschweiss riechend ist er für sie nichts weiter als ein volltrunkenes Wrack.
Die Stimme in seinem Kopf wird immer lauter und schliesslich füllt sie seinen ganzen Kopf aus, ein leises Rauschen ist noch im Hintergrund zu hören, wie von Wasser, das an einen Felsen brandet.

GEEEEEORGE! KOMM ZU MIIIIIIIR...!

Der alte Mann kann keinen einzigen Gedanken mehr fassen. Er hört nur noch diese Stimme und das hypnotische Rauschen. Doch er ist überglücklich, sein ganzer Körper ist von einem Gefühl erfüllt, dem nur ein unglaublicher Orgasmus gleichkommt. Er sieht nicht, wohin er geht, er sieht überhaupt nichts mehr, seine Sinneswahrnehmung scheint verändert, so dass er nichts anderes mehr als diese Stimme wahrnimmt.

Der Sonnenuntergang beginnt und ein paar Surfer verlassen den Strand um sich das Schauspiel vom besten Platz aus anzusehen.

„Ey, Carver, schau mal da rauf. Der Alte da ist ziemlich auf dem Trip, so wie er grinst.“
„Ja, und schau dir erstmal seinen Blick an. Würde mich interessieren, wo’s das Zeug zu kaufen gibt, das der eingeworfen hat. Muss ja hammerhart sein.“

Der alte Mann geht an ihnen vorbei, ohne ihnen jegliche Beachtung zu schenken. Die Surfer hören nur, wie er flüstert, doch können sie es nicht verstehen.

„Scheisse, Mann. Ich glaube, der hat sich was echt ungesundes reingezogen. Vielleicht XTC oder so was. Soll ja angeblich die Hirnzellen abtöten, hab‘ ich mal gehört.“
„Ich habe echt keine Ahnung, aber scheiss drauf. Wir haben jetzt keine Zeit für solchen Mist. Der Sonnenuntergang läuft uns sonst noch davon.“

Die beiden rennen die Böschung hinauf ohne zurückzuschauen. Hätten sie es doch getan, würden sie nun sehen wie der alte Mann den ersten Schritt in das salzige Meereswasser setzt. Er bemerkt gar nicht, wie sich seine Schuhe und Socken sofort mit Wasser vollsaugen und seine Beine von kühler Nässe umgeben werden.
„Ich komme, meine Geliebte. Bald sind wir wieder vereint“, sagt er heiser, während er immer weiter ins Meer hinausgeht.

Die Sonne ist fast schon hinter dem Horizont verschwunden. Mit ihren letzten, rötlichen Strahlen verwandelt sie die endlosen Wassermassen in ein Flammenmeer, das mit sanften Wellen an den Strand brandet.
Über diesem endlosen Meer fliegen die Möwen, krächzend und kreischend versuchen sie einander die erbeuteten Fische abzujagen. In ihren Augen lässt sich keine Regung erkennen, nur die totale, gleichgültige Schwärze.

 

Schöne Geschichte! Auch wenn ich mich frage, was denn nun den alten Mann dazu bewegt, mit der Möwe zu reden und warum der Fischer mit einer fremden Stimme spricht. :confused:
Vielleichgt könntest Du diese Aspekte noch etwas stärker herausarbeiten.
Die Geschichte erzeugt Gefühle, was eindeutig für sie spricht. Man sieht die Figuren und die Orte vor sich, sehr schön!

Grüße von der chaosqueen

 

chaosqueen: Ist doch ganz klar! :cool: Die Möwe ist seine erste Begegnung, bei denen es darum geht, dass die Toten, die sich mit dem alten Mann in irgendeiner Weise identifizieren können, seinem Leiden nachlauschen. Bei der zweiten Begegnung (mit dem Seemann) hat sich wohl der eine bereits tote Typ, der nun mal dermaßen gerührt war, entschlossen dem armen alten man nen Rat zu geben. Dem ist es wohl auch ähnlich ergangen.

Ich fand die Geschichte übrigens auch recht gut (für Rainer: auch ziemlich eigen! ;) ) und finde, dass man z.B. die Stelle mit der falschen Stimme des Seemanns eher im Gegenteil hätte weniger ausführlich erklären sollen.

 

danke für die kritik
ich war mir nicht so sicher, ob die geschicht wirklich ankommen würde. ziemlich traurige handlung, aber das bild von dem alten, weinenden mann geisterte in meinem kopf herum und schlussendlich musste ich einfach schreiben, was mir am besten erschien (obwohl mir die stelle in der kneipe wirklich nicht so perfekt gelungen ist. auf den schlussteil bin ich aber stolz... :D )
ich könnte ein paar stellen "ausbessern", aber ich bin immer zu faul, eine geschichte umzuschreiben, auch nur die rechtschreibfehler zu verbessern.

 

Ui, die Geschichte hat mir gut gefallen, vor allem der melancholische Ton, der sie durchzieht. Hatte anfangs Angst, daß sie zu Klischeeüberladen wird (Frau tot, Mann traurig...), ist sie aber nicht. Schön.
Gruß MB

 

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