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Die Tempelspinne
Oma Mine stand auf der Terrasse und wunderte sich. Ihre Strickjacke war fort. Einfach weg. Sie bückte sich und schaute unter dem Tisch nach. Nein, da lag sie auch nicht. Vielleicht hatte der Märzwind sie weggeweht? In der Nacht war er mit lautem Getöse gegen Fenster und Türen gedonnert, blies durch die Bäume und Sträucher und rüttelte das letzte Laub aus den Ästen und Zweigen.
Warum bin ich auch so tüddelig und habe die Jacke nicht mit ins Haus genommen? Verärgert schüttelte Oma Mine den Kopf. Es war noch früh. Müde streifte ihr Blick durch den Garten; über den Rasen hin zum Gemüsebeet und weiter zu den Blumenrabatten. Auch zwischen den Him- und den Johannisbeeren konnte sie die Jacke nicht entdecken. Gerade, als sie die Suche aufgeben wollte, fiel ihr Blick auf den Komposthaufen. Es konnte nicht schaden, hinüberzugehen und nachzuschauen. Und tatsächlich! Zwischen Zwiebelschalen, welken Salatblättern und Rasenschnitt fand Oma Mine ihre Jacke. Erfreut bückte sie sich, doch genau in dem Augenblick, als Oma Mine sie greifen wollte, begann die Jacke sich zu bewegen. Wie ein Rasenroboter glitt sie vom Kompost hinab ins Gras. Verdattert blickte Oma Mine ihrer Jacke hinterher, die sich eilig durch den Garten davonmachte.
„Potzblitz!“, rief sie und rannte hinterher. „Wirst du wohl stehen bleiben!“
Doch die Strickjacke blieb nicht stehen, sondern raste geradewegs auf die Gießkanne zu. Es gab einen dumpfen Schlag, Wasser schwappte hinaus und die Jacke blieb regungslos liegen.
„Hab’ ich dich! Mich so durch den Garten zu scheuchen“, schimpfte Oma Mine und hob schnaufend die Strickjacke auf. Doch was war das? Vier blaue Augenpaare schauten sie ängstlich an und acht haarige Beine zitterten. Die Spinne war so groß wie ein Katzenkind.
„Entschuldigung, mir war kalt, darum bin ich unter die Jacke gekrochen!“
Oma Mine verschlug es die Sprache. Eine Spinne, die sprechen kann, muss eine ganz besondere Spinne sein. „Wo … Wieso … Woher kommst du?“
„Von da.“ Ein Vorderbein deutete auf das Haus der Nachbarn.
„Aha“, sagte Oma Mine, und dann sagte sie nichts mehr.
„Aber mein Zuhause is-s-s-st der Tempel Atukai in Af-f-f-frika.“
„Aha“, sagte Oma Mine wieder.
Dann zitterte und klapperte die Spinne so doll, dass Oma Mine sie kaum noch verstehen konnte.
„M-m-m-mir is so-o-o schreckk-k-klich ka-ka-ka-lt.“
„Komm mit ins Haus. Da ist es warm.“
Auf der Terrasse, vor der Schale mit Katzenfutter, blieb die Spinne stehen.
„Ich bin so hungrig. Darf ich?“
„Natürlich. Aber warte, ich nehme es mit ins Warme.“ Sie hob das Schälchen auf und öffnete die Tür.
Während die Spinne fraß, schaute Oma Mine das Tier ganz genau an. Wunderschön war es. Auf ihrem Vorderkörper befanden sich zwei große Augen, die wie Diamanten strahlten. Sogar seitlich an Vorder- und Hinterleib glänzten kleinere Augen in alle Richtungen. Ständig in Bewegung schienen ihre Kieferklauen zu sein, schwarz und leicht gebogen, wanderten sie mit Kopf und Brust hin und her. Wie in Samt gehüllt, schimmerte der blauschwarze Körper. Die Haare an ihren Beinen waren kuschlig wie Katzenfell.
„Vielen Dank“, sagte die Spinne, nachdem sie sich den letzten Krümel in den Mund geschoben hatte.
„Gern geschehen.“ Oma Mine klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich und die Spinne kletterte zu ihr auf das rotgestreifte Sofa.
„Jetzt musst du mir erzählen, wie du aus Afrika zu meinen Nachbarn gekommen bist“, bat Oma Mine.
Satt und behaglich im Warmen begann die Spinne zu erzählen. „Ich lebte in einem Tempel, tief im Urwald von Afrika. Dort haben mich die Priester mit Früchten, toten Mäusen und anderen Leckereien versorgt. Geschlafen habe ich in einer alten Holztruhe, die mit heiligen Zeichen verziert ist. Zum Öffnen und Schließen der Truhe muss ich eines meiner Beine in ein winziges Loch stecken, dann bewegt sich der Deckel. Meine Aufgabe war es, heilende Netze zu weben. Die Priester legten sie auf die Wunden und die Verletzungen heilten.
„Oh, was für eine wunderbare Gabe“, flüsterte Oma Mine und schaute auf das Pflaster an ihrem Daumen. Sie hatte sich beim Kartoffelschälen verletzt und die Wunde wollte und wollte nicht verheilen. „Entschuldige, dass ich dich unterbrochen habe.“
„Darf ich?“, fragte die Spinne, die das Pflaster schon längst bemerkt hatte.
„Gern.“ Oma Mine zog das Pflaster ab und die Spinne begann ein Netz darüber zu weben, während sie weiter erzählte. „Eines Nachts wachte ich auf und hörte, wie jemand in den Tempel kam. Gewiss sind es die Priester mit einem Verletzten, dachte ich und öffnete die Truhe. Vom Licht des Mondes beschienen, der durch die nächtlichen Fenster leuchtete, sah ich einen Fremden. Ohne mich zu bemerken, steckte er zwei goldene Kerzenhalter in einen großen Sack. Schnell zog ich mich zurück und verschloss den Deckel. Keine Minute zu früh, denn mein Haus begann zu ruckeln und schuckeln, der Dieb packte es in seinen Sack. Ich dachte, jetzt werde ich sterben.“
„Wie furchtbar“, sagte Oma Mine und spürte das Netz der Tempelspinne auf ihrer Wunde. Leicht und kühl wie Seide schmiegte es sich an ihre Haut. „Und wie ging es weiter?“
„Eine ganze Weile später versuchte der Mann, die Truhe zu öffnen. Erst vorsichtig, aber der Deckel ging nicht auf, der Dieb schrie wütend und schlug auf mein Haus. Ich glaubte schon, er würde die Truhe zerstören, doch dann vernahm ich die Worte einer Frau: ‚Was soll das? Du zerstörst die Truhe nur. Nimm sie mit auf den Markt und verkaufe sie an die dummen Touristen. Sag ihnen, sie bringt Glück und Reichtum. Und so geschah es dann auch.“
„Himmel, was für eine Geschichte!“, seufzte Oma Mine. „Sag bloß, du hast nach all der Zeit zum ersten Mal die Truhe verlassen?“
„Nun ja, sie stand eine ganze Weile still und ich dachte, ich könnte es riskieren, den Deckel zu öffnen. Ich hatte ja auch so furchtbaren Hunger!“, sagte die Spinne.
„Natürlich hattest du das! Du armes Ding, was machen wir denn jetzt mit dir?“
Die Spinne hob das Netz von Oma Mines Daumen und siehe da, von der Wunde war nichts mehr zu sehen. Noch nicht mal eine klitzekleine Narbe konnte Oma Mine entdecken. „Vielen Dank, liebe Spinne.“
„Gern geschehen. Vielleicht kannst du mir helfen, mein Haus wiederzubekommen, wenn ich auch nicht mehr in meine Heimat kann“, sagte die Spinne traurig.
Oma Mine sprang auf. „Wir holen deine Truhe! Und ich werde auch dafür sorgen, dass du wieder in deine Heimat kommst. Komm, wir gehen gleich rüber.“
Oma Mine klingelte und die Nachbarin öffnete die Tür.
„Hallo Olga“, grüßte Oma Mine. Doch die hörte ihr gar nicht zu. Sie schrie nur noch: „Hilfe, eine Riesenspinne! Uwe! Schlag sie tot! Schlag sie sofort tot!“ Olga rannte durch den Hausflur und die Spinne rannte zurück in Oma Mines Garten. Ganz gewiss wollte sie nicht totgeschlagen werden.
Es dauerte ein bisschen, dann kam der Nachbar an die Haustüre. Uwe blickte nach unten, nach rechts, nach links. Dann tippte er sich mit dem Zeigefinger an die Stirn: „Die hat sie doch nicht mehr alle, überall sieht die Riesenspinnen.“ Und dann grüßte er freundlich: „Hallo Oma Mine!“
Oma Mine grüßte freundlich zurück. „Hallo Uwe, schön, dass ihr wieder hier seid.“
„Ja, wir sind vor zwei Tagen aus Afrika zurückgekommen.“
„Genau deshalb wollte ich …“, es gelang Mine nicht, ihn zu unterbrechen, denn sofort erzählte Uwe weiter.
„Davor waren wir in Indien, man muss doch was von der Welt sehen. Wo warst du denn im Urlaub?“
„Ich war mit meinem Enkel im Harz. Auf dem Brocken und in der Barbarossahöhle“ , war wunderschön, dachte Oma Mine.
„Schatz!“ Uwe drehte den Kopf und rief ins Haus. „Weißt du, wo das Harz ist? Da war Oma Mine im Urlaub.“
„Ich glaube, das ist in Italien. Hast du das grässliche Vieh tot geschlagen?“
„Nein. Hier ist keine Spinne.“
„Ich habe gehört, ihr habt aus Afrika eine Truhe mitgebracht und …“ Wieder gelang es Oma Mine nicht, ihre Bitte vorzutragen.
„Klar, wir bringen von jedem Urlaub ein Andenken mit. Und die Truhe, die ist toll.“
„Das hab’ ich auch gehört. Ob ich mir die wohl mal anschauen dürfte?“ Endlich. Endlich hatte sie den Satz zu Ende sprechen können.
„Gern. Komm rein!“ Uwe führte Oma Mine in ein Zimmer, das voll mit ausgestopften Tieren, kunstvoll verzierten Waffen und bemalten Totenmasken war. Zwischen einem Pandabären und einer Mumie stand auf einem riesigen Schildkrötenpanzer die Truhe der Spinne.
„Das ist sie“, bemerkte Uwe stolz.
„Sie soll Glück und Reichtum bringen“, sagte Olga, die jetzt hinter dem Pandabären hervorkroch.
„Was habt ihr dafür bezahlt? Ich möchte sie euch abkaufen.“ Die Worte sprudelten einfach so aus Oma Mines Mund. Erst, nachdem sie es ausgesprochen hatte, kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht gar nicht so viel Geld besaß.
Olga flüsterte ihrem Mann ins Ohr, doch Oma Mine verstand jedes Wort. „Nenn ihr den dreifachen Preis. Sie soll uns doch wenigstens etwas Geld einbringen.“
Uwe räusperte sich. „Du kannst die Truhe haben. Für 1500 Euro bekommst du sie.“
Oma Mine schluckte, sie bekam nur eine kleine Rente. „Ich werde es mir überlegen“, stammelte sie und verabschiedete sich.
„Ich habe keine 1500 €“, beendete Oma Mine ihren Bericht, als sie der Spinne von ihrem Besuch bei den Nachbarn erzählte und sie fühlte sich sehr unglücklich dabei.
„Und jetzt?“, fragte die Spinne.
Oma Mine zuckte mit den Achseln. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Dann kam Oma Mine ein Gedanke. „Wie alt ist die Truhe eigentlich?“
„Sehr, sehr alt. Die Schriftzeichen auf dem Deckel sind tausend Jahre alt.“
„Dann gilt für die Truhe sicher ein striktes Ausfuhrverbot. Überhaupt für viele Dinge, die ich in dem Zimmer gesehen habe. Wir werden dein Haus zurückholen. Anzeigen können die uns nicht. Sie würden sonst selbst ins Kitchen wandern. Aber wie kommen wir an die Truhe ran?“
„Wenn die Bewohner des Urwalds nicht wissen, was sie machen sollen, fragen sie die Geister ihrer Verstorbenen. Kannst du deine nicht fragen?“ Alle acht Spinnenaugen blickten Oma Mine an.
„Du hast mich auf eine Idee gebracht!“, rief Oma Mine aus. „Wir erschrecken sie. Die sollen glauben, dass es in ihrem Haus spuckt.“
„Kannst du denn deine verstorbenen Geister in das Nachbarhaus schicken?“ Die Spinne schien tief beeindruckt zu sein.
„Nein, natürlich nicht.“ Oma Mine hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, es zu können. Stattdessen ging sie in Gedanken durch jede Geisterbahn, die sie im Laufe ihres Lebens besucht hatte. Was davon konnte sie bei den Nachbarn anwenden. Es fiel ihr nichts ein, was Olga und Uwe aus ihrem Haus treiben würde.
„Ich könnte sie doch noch einmal erschrecken!“, schlug die Spinne vor.
„Nein, nein. Uwe würde dich sofort totschlagen.“ Oma Mine schüttelte energisch den Kopf.
„Und wenn wir ganz viele wären? So viele, wie du Haare auf dem Kopf hast?“, fragte die Spinne.
Das wiederum beeindruckte Oma Mine schwer. „Gut, jetzt weiß ich, was wir machen; sage allen deinen Spinnenfreunden Bescheid, sie sollen um Mitternacht in das Haus meiner Nachbarn krabbeln und schrecklich viel Lärm machen. Ich hoffe, dass Olga und Uwe dann aus dem Haus fliehen.“
„Oh ja, ich werde sie sofort benachrichtigen.“ Die Spinne begann einen seltsamen Tanz. Sie schlug ihre Beine gegeneinander. Dabei drehte sie sich im Kreis und klopfte in einem immer lauter werdenden Takt mit ihren Kieferzangen auf den Boden. Abrupt hörte sie auf.
Oma Mine sah eine Spinne am Vorhang herunterklettern. Zwei weitere Spinnen krabbelten unter dem Sofa hervor. Von der Zimmerdecke ließen sich gleich mehrere Spinnen herunter. Aus allen Richtungen kamen sie gekrochen. Nie hätte Oma Mine vermutet, dass es in ihrem Haus so viele davon gab.
„Sie werden in den Gärten und Häusern der Nachbarschaft tanzen und damit allen mitteilen, was wir vorhaben. Bis Mitternacht werden Tausende hier sein. Bitte öffne die Terrassentüre, damit sie hinaus können.“
Mine zog die Türe auf und sah zu, wie Winkelspinnen, Zitterspinnen, Weberknechte und Kreuzspinnen hinauskrabbelten.
Kurz vor Mitternacht standen die Spinne und Oma Mine unter der Straßenlaterne vor dem Haus der Nachbarn. „Ist dir kalt? Soll ich meine Jacke über dich legen?“ Besorgt blickte Oma Mine auf die Spinne.
„Nein, sonst bekomme ich von dem ganzen Spaß nichts mit. Ich bin so aufgeregt, mir ist nicht kalt.“
„Schau nur“, sagte Oma Mine mit einem Blick auf das Haus, „sie haben alle Rollläden heruntergelassen.“
„Keine Sorge, wir kommen überall hinein.“
Sie beobachteten, wie von überall große und kleine Spinnen auf das Nachbarhaus zuliefen. Nach und nach füllte sich die Hauswand. Aus Weiß wurde Schwarz. Die Spinnen schlüpften durch winzige Risse oder krochen durch den Kamin ins Haus. Kurz darauf war die Hauswand wieder weiß.
Die nächtliche Stille wurde durch einen markerschütternden Schrei unterbrochen. Kreischen und wildes Gepolter folgte. Die Haustür wurde aufgerissen. Olga, im rosa Nachthemd, barfuß und mit Lockenwicklern in den Haaren, stürmte schreiend aus dem Haus. Uwe folgte ihr in einem bunt geblümten Schlafanzug. Beide rannten in wilder Flucht die Straße hinunter.
Die Nachbarn sahen nicht, wie Tausende von Spinnen die Truhe aus ihrem Haus trugen. Dann genauso schnell verschwanden, wie sie gekommen waren. Und wie Oma Mine einen Umschlag in ihren Briefkasten warf.
„Was tust du da?“, wollte die Spinne wissen.
„Ich habe 500 € für Fliegengitter gespart, wir sind doch keine Diebe!“, Oma Mine lächelte.
Dann trug sie die Truhe in ihr Haus, setzte sich an den Computer und suchte die Adresse der Priester von Atukai.
Während Oma Mine schlief, spann die Spinne vor jedes ihrer Fenster ein wunderschönes Netz. So fein und zart wie der leichteste Schleier.
Am Morgen verabschiedeten sie sich voneinander. Die Spinne kroch in ihr Haus, Oma Mine verpackte die Truhe und brachte sie zur Post.