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- 01.05.2009
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Die unbenannte Zone
Es gibt einen heiligen Ort am Rande des Waldes: Eine Hütte, die aussieht, als wäre sie nur gebaut worden, um den Turm darüber zu stützen. Sie ist aus Holzbalken gefertigt, mit Teer bestrichen. Ein einzelner Raum, der stets sauber gehalten wird. Darin riecht es nach Harz, wie der Atem eines fremden Tieres. Man erzählt sich, früher hätten die Menschen dort Heilung erfahren. Wie, kann heute niemand mehr sagen, aber sie haben Zeugnisse hinterlassen – Zähne, zu Ketten aufgefädelt, Hautstücke wie Trockenpilze auf der Leine, Gliedmaßen an die Wand genagelt als wäre es Dörrfleisch. Vielleicht waren es überschüssige Arme, oder Kinderhände, aus denen Hufe wuchsen.
An einer Wand dieser Tšašouna sind bemalte Holztafeln aufgereiht, in ihrem Gold spiegeln sich die Kerzenflammen. Viele von uns haben Scheu vor diesen Bildern und es heißt, Dinge geschähen, wenn man sie berührte. Auf ihnen sind Menschen abgebildet, die Gesichter erstarrt, die Augen geweitet. Selbst wenn man sich vor sie stellt, schauen sie durch einen hindurch, begegnen niemals dem Blick. Einer ist darauf, den man den Heiligen Sohn nennt, und er ist wie wir. Trotzig zeigt er seine verwachsene Hand, an der nur zwei Finger sind. Es heißt, damit habe es angefangen, bevor die Tiere mit zwei Köpfen geboren wurden, mit Spinnenbeinen und Gummiknochen. Die Goldbekleideten mit ihren Fischaugen und verhangenen Lidern geben uns das Gefühl einer Heimat, einer Vergangenheit, von der nur noch Geschichten geblieben sind.
An schlimmen Tagen, wenn Josefiina nicht aufhört, nach mir zu schreien, gehe ich an diesen Ort. Vor ihrer Rückkehr war Josefiina die Schwiegermutter der Nachbarin zwei Querstraßen weiter. Heute ist sie meine.
Vieles aus meiner Kindheit sind unzuverlässige Erinnerungen. Oft bin ich unsicher, ob mir etwas erzählt worden war, oder ich es selbst erlebte. Aber eine Begebenheit ist mir deutlich im Gedächtnis geblieben: Es war einer der letzten hohen Festtage im Frühjahr, zu denen sich das Dorf versammelte. Alte und Junge gingen voraus und läuteten kleine Glocken, ohne jegliche Melodie. Nicht alle hatten im Innenraum Platz gefunden, aber wir Kinder durften in der ersten Reihe stehen. Wir waren glücklich über diesen Schattenplatz, den Teergeruch, das Gold, die Opferketten. Wir sollten den heiligen Mann nicht unterbrechen, hatte man uns eingeschärft. An sein Gesicht habe ich wenig Erinnerung, aber an seine Stimme, dunkel und durchdringend. An seine Gewänder, lang und zerschlissen, so dass sich kaum noch eine Form erahnen ließ.
„Was hat eine weiße Schale und ein gelbes Herz?“, fragte er.
„Ein Ei!“, piepste Talvi neben mir. Meine Schwester hielt sich immer in meiner Nähe, folgte mir, wohin ich ging.
Der Mann lächelte. Mit gewichtiger Geste legte er jedem von uns ein Hühnerei in die Hand. Wie wir es jeden Tag zu Hause aßen – der Mann musste ein Verrückter sein. Ich versuchte, hinter mich zu schauen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, ob meine Eltern im Raum sind. Ob der Weg zur Tür frei wäre.
„Zerbrecht das Ei und trinkt“, wies er uns mit einem Nicken an. „Und die Schale müsst ihr essen, nichts darf vergeudet werden!“
Wir gehorchten, der Schleim lief mir die Kehle herunter, Knirschen zwischen den Zähnen. Als ich mir mit der Hand über den Mund wischte, sagte er: „Das Weiße außen ist das Leichentuch, das Gelb ist das Herz und die Liebe des Wiederauferstandenen, der zu uns zurückkehrte.“
Ich erbrach das gerade Geschluckte vor seine Füße.
Talvi weinte, in ihrem Ei hatte sie kleine, gefiederte Krallen gefunden.
Heute Morgen waren Josefiinas Haare an der Wand festgefroren. Wie Spinnenfäden hatten sie sich über die Holzbalken gebreitet, Silber schimmert im Eis. Ein gutes Zeichen – sie atmet, hat auch diese Nacht überstanden. Josefiina liegt eng an die Wand gepresst, die Finger kneten den Bettbezug, den sie oben nassgelutscht hat. Seit einiger Zeit scheint sie vom Kauzwang besessen. Ihre Lippen bewegen sich lautlos.
Eigentlich ist es mir recht, dass sie dort am Bett fixiert ist. So kann ich sie waschen, die Laken haben bereits ihren Geruch nach Vergorenem angenommen. Auf dem Weg in die Küche überlege ich, ob ich sie bald festbinden müsste. Gestern Morgen hing sie über dem Bettrand und kaute an der Holzkante herum. Ihr Gaumen blutete, das Gebiss spuckte sie aus, weil es nicht mehr passte, und mahlte stundenlang die wunden Kiefer aufeinander. Ihr Blut war dunkel und ließ sich nicht stillen. Irgendwie muss ich sie wieder an das Gebiss gewöhnen. Vielleicht mit Schmalz – sie liebt alles Fettige. Ich setze unseren größten Topf auf den Herd und fülle ihn mit Wasser. Es ist angenehm kalt.
Mit den Zähnen könnte Josefiina allerdings die Möbel zerbeißen, ich weiß keine Lösung – früher hatte sie diesen Beißzwang nicht. Ich habe Scheu, jemanden um Rat zu fragen: Es ist immer unterschiedlich mit denen, die zurückkehren. Man muss sich irgendwie behelfen, improvisieren.
Wintersonne scheint durch das Küchenfenster, glitzert in den Eiskristallen am Glas. Diesem Licht fehlt jegliche Farbe. Kein Blau des Abends, kein Gold des Sommertages, ist es das, womit ich mich am wohlsten fühle. Fragile Gebilde strecken ihre Fühler aus, als ob sie die Fläche für sich einnehmen wollten. Würde ich nähertreten, könnte ich abertausende Verzweigungen sehen, die die Form wieder auflösten. Aber meine Augen sind längst nicht mehr gut genug, Einzelheiten von hier aus zu erkennen. Josefiina stöhnt, und ich erinnere mich wieder, was zu tun ist.
Als ich mit dem warmen Wasser zu ihr ins Zimmer komme, hat sie die Augen geöffnet, ihr Blick ist hasserfüllt auf mich gerichtet. Beim Aufdecken schon schreit sie los: „Ich hab keine Haare mehr und ich hab keine Haare und ich zeig dich an! Was machst du da, ich zeig dich an, keine Haare mehr!“
Die vergangenen Nächte habe ich zu tief geschlafen, Dinge gesehen, die ich nicht abschütteln kann. Sie fühlen sich an wie Erinnerungen, nicht wie Träume. Ich bin in einem Haus, in dem nur Tote wohnen. Ihre Haut ist trocken, grau wie Kitt. Eine unerklärliche Angst zwingt mich, ihnen nicht in die Augen zu sehen – vielleicht, damit sie nicht die Fremde in mir spüren, den Eindringling auffressen. Obwohl ich Zweifel habe, dass mein Trick undurchschaut bliebe, wechseln die Toten nur einige Worte mit mir, und verlassen mich. In ihren Bewegungen liegt keine Eile, dennoch bin ich sicher, dass diese Trägheit trügerisch ist. Im Haus gibt es außer Tischen und Regalen nichts von praktischem Wert. Kleidungsstücke, Unterwäsche, Notizbücher, beklebte Schachteln und Döschen, Küchenutensilien – alles wie zufällig abgelegt und vergessen. Möglicherweise gehören die Stücke nicht den Bewohnern, sondern Besuchern wie mir. Aber ich stelle mir vor, es seien Dinge aus ihrer Vergangenheit, die sie aufbewahrten, um sich nicht ganz zu verlieren. Vorsichtig durchstöbere ich die Regale, gleichzeitig voller Angst, ertappt zu werden und neugierig, etwas über ihre Identität zu erfahren.
Jemand hat mich an der Schulter gepackt und zerrt an mir. Mein erster wacher Gedanke ist, dass Josefiina nachtaktiv geworden ist, im Haus herumgeisterte und sich vor etwas erschrocken hat. Ich drehe mich um und mache im Dunkel ein kleines Gesicht aus. Nur ein Auge glotzt mich an, anstelle des anderen klafft eine Höhle. Der Nachbarssohn, Livanas Jüngster, der nie zu sprechen gelernt hat. Nach wie vor hält er meine Schulter umklammert – sein Gestammel ist unverständlich, aber von eindeutiger Dringlichkeit.
„Fröschlein, mein Guter“, sage ich. „Warte doch mal ...“ Dann fällt mir ein, dass ich Nachtwache halten sollte, drüben im Stall, bis das Kalb geboren ist. Verschlafen schäle ich mich aus den Laken, das Kind zieht mich an der Hand hinter sich her, bevor ich den Kittel ganz zugeknüpft habe.
„Du bist spät dran, hast alles verpasst“, begrüßt mich Livana mit einem Lächeln. Fröschlein lässt meine Hand los und läuft hinaus, die Tür schlägt hinter ihm zu. Im Stall feuchte Luft, die die Flammen der Fettlampen zu ersticken droht.
Aus der Brust des Kälbchens wächst ein fünftes Bein. Verkümmert und ohne Kraft hängt es dort und zuckt. Livana reibt das Kleine trocken. Auch seine anderen Beine sind schwach – einige Male rappelt es sich hoch, aber die Gelenke strecken sich nicht durch. Dann gibt es auf, liegt keuchend im Stroh, die Zunge hängt ihm aus dem Maul. Das Muttertier ist von ihm abgerückt, als ginge es die Sache nichts mehr an.
„Das wird schon“, meint Livana. „Die anderen haben wir ja auch durchbekommen. Besser als eines mit zwei Köpfen allemal.“ Sie überlässt mir das Kleine, schnappt sich einen Blecheimer und melkt, was das störrische Muttertier herzugeben hat. Die Nachgeburt gibt sie dazu – einen langen, blutigen Sack, der an Wurstdarm erinnert. Mit geübter Hand nimmt sie ihr Messer vom Gürtel und teilt die zähe Haut in Stücke. Derweil habe ich das Kalb in eine Wolldecke gewickelt, gerieben, bis es aufgehört hat zu zittern und zu zappeln. Es versucht, meine Finger in sein Mäulchen zu bekommen – die feuchte Schnauze hat genug Lebenswärme.
Livana hält eine Flasche voll rosa Milch, Gewebefetzen treiben darin. „Sie fressen es selbst, wenn man nicht aufpasst“, sagt sie, als sie sich zu uns kniet. „Aber das Kleine braucht es dringender.“
Der Schnuller ist aus einem Stück Hartgummi gefertigt, dessen ursprüngliche Verwendung ich nicht mehr erkennen kann. Es ist sicher seit Generationen in diesem Haushalt. Wie viele andere Dinge, von denen niemand mehr weiß, wofür sie einmal gedacht waren. Nicht für alles davon hat man Verwendung gefunden, manches steht wie außer Gebrauch gekommene Votivbilder in der Ecke. Livana ist abergläubisch, wie wir alle. Man sagt, die Zeiten würden noch einmal besser, wenn man Altes aufbewahre. Diese Überbleibsel wie eine Garantie, dass es ein anderes Leben geben kann.
Das Kälbchen hat die Flasche leergetrunken und fällt in tiefen Schlaf. Während der Nachtwache erzählt Livana Geschichten aus der Alten Zeit. Das Vieh sei viel größer gewesen, sagt sie. Das kam daher, dass es genügend Tiere gab – immer sei was übrig gewesen, und so habe man die Milchkühe besser füttern können. Mit Hühnern und Ziegen, zermahlen, und davon seien die Kühe groß und kräftig geworden. Ein paar Liter Milch am Tag war gar nichts, die Euter haben sie kaum noch mit sich schleppen können. Sie erzählt, als sei sie dabei gewesen. „Wenn ein Rind geschlachtet wurde, konnte die Familie noch was an alle Nachbarn abgeben. Richtiges, festes Muskelfleisch. Und das Geflügel war so fett, dass es nicht mehr laufen konnte und vornüber fiel!“
„So ein Quatsch“, sage ich müde. Und höre ihr trotzdem gerne zu.
Wir hatten sogar alte Schulbücher, als ich Kind war: viele Worte und ein paar Bilder. Heute werden sie kaum noch benutzt. Oder zumindest nicht mehr für die Kleinsten, die Alpträume bekommen von den Dingen, die sie sehen. Vieles ist zu phantastisch, als dass man glauben könnte, was dort Geschichte sein soll. Die meisten Bände sind verfeuert worden.
Im Dorf ist Schlachttag und drei Jäger sind eingetroffen. Sie werden das Fleisch verteilen, mehr, als wir alle verzehren können, und Fett für die Lampen. Josefiina hat sich im Nachthemd auf den Boden gesetzt und poliert Werkzeug, das sie aus irgendeinem Schrank gekramt hat. Ich kann in Ruhe Kartoffelhälften aushöhlen und Dochte zuschneiden, einige dunkle Wochen ohne Schnee haben uns beinahe alle Kerzen gekostet. Bevor ich Livana drüben anspannen helfe, schließe ich alles Essbare in der Vorratskammer ein.
Kaum bin ich aus dem Haus, kann ich durchatmen. Mit Josefiina muss ich stets auf der Hut sein, dass sie sich nicht verletzt, nichts kaputtschlägt. Es strengt an wie körperliche Arbeit – bin ich draußen, frage ich mich, was sie tut, bin ich im Haus, ermüdet mich das Gezeter, ihre sinnlosen Fragen. Ich bin froh, Livana zu sehen, die sich gerade fluchend mit dem Kummet abmüht. Ziehe mit an, und schließlich bekommt sie die Schlaufe ums Holz gelegt.
„Das Ding hat noch nie gepasst, das ist einfach falsch, so was Dämliches!“
„Du hast nur das falsche Pferd“, sage ich und umarme sie zur Begrüßung.
Wir tätscheln dem Wallach von beiden Seiten den breiten Hals. Der Falbe ist das kräftigste Zugtier im Dorf, sieht mit seinem dichten Fell und stämmigen Beinen als einziges gesund aus. Livana schwört, er sei eines der Wildpferde, doch bei ihr geht er ruhig genug. Wir sitzen auf und diskutieren, ob wir aus den Kartoffelschnitzen Mittagessen kochen oder eine Tinktur destillieren sollen. Der Wagen poltert über gefrorene Erde, wir passieren ein uraltes Straßenschild. Nur noch die letzten fünf Buchstaben sind lesbar: …NOBYL. Weiter entfernt auf einer Wiese ein kleineres, ebenfalls ausgeblichenes Schild: dreieckig, darauf in Rot und Gelb ebenfalls Dreiecke. Niemand weiß, was sie einst bedeuteten. Von diesen kleineren gibt es eine ganze Menge, wahllos verstreut stehen sie verloren mitten im Nirgendwo.
„Stinkmorchel“, schlägt Livana vor. „Das gab es schon ewig nicht mehr. Oder Fliegenpilze, ich hab bald keine Pflaster mehr, und dieses blöde Kummet ...“ Sie wechselt die Zügel in eine Hand und zeigt mir einen Splitter im Finger.
„Bei mir zu Haus stinkt es schon so genug“, sage ich. „Wie wär‘s mit Birkenknospen? Irgendwas Liebliches ...“
„Von Birken hab ich langsam die Schnauze voll, und gleich gibt‘s wieder was davon. Holunder. Lass uns den nehmen, oder das Zeug so trinken.“
Am Marktplatz hat sich bereits eine Menschenmenge versammelt. Die Leute rücken Bänke zurecht, breiten Leinendecken mit Blumenmuster über die Tische, tragen Geschirr aus den Häusern. Die Kundschafter sind umringt von Neugierigen. Sicher erzählen sie von dem Gebäude, das aufragt über geborstenem Stein und einem Gerippe aus Metall. Ein graues Ungeheuer, an dessen Wänden Schlieren herunterlaufen wie schwarzes Blut. Etwas war darin eingeschlossen gewesen, von schweren Toren und Gittern, Stacheldraht. Längst verrostet ist er überall – auf den Mauern, vor den Steinrippen, der offenen Flanke. Den Weg hinein zu finden ein Wagnis. Aber das ist nicht die eigentliche Mutprobe. Dazu muss man in den Bunker hinabsteigen. Einen Beweis mitbringen – etwas, das es bei uns nicht gibt.
Dieses Mal war es Frettchen, der flinkste unter den Jungs. Er hat ein spitzes, feines Gesicht und kann seine Hände nicht stillhalten. „Die anderen lügen“, sagt er gerade. „Es sind überall Risse dort, sogar ein Mann würde hindurchpassen. Und es ist hell genug, oben in der Halle. Sie muss von Riesen gebaut worden sein. Da kraxel ich also runter, die Leiter ist ganz klein und quietscht und wackelt, viele sind schon abgestürzt und nie wieder gefunden worden. Das ist da, wo die Geister leben – nicht die der Unsrigen, sondern von früher, vom Krieg. Sie müssen sich verirrt haben dort unten, und nie wieder ans Tageslicht gefunden. Anna – letztes Jahr. Hat einen von ihnen gesehen. Sie keuchen ganz laut, so ein Pfeifen, Saugen, und ihre Kleidung raschelt, wie trockenes Laub.“
Aber wer weiß schon, ob das die Wahrheit ist. Das nächste Mal stieg Anna runter und kam nie wieder. Wenige haben die Weißen Geister mit eigenen Augen gesehen. Hörst du sie atmen, ist es schon zu spät, ihre Berührung verbrennt Fleisch bis auf die Knochen. Und selbst wenn sie dich nicht sofort umbringen, sondern mitschleifen, um mit dir zu spielen, bedeutet ihre Nähe den Tod. Es herrscht Unklarheit darüber, wer sie sind. In meiner Kinderzeit hieß es, sie wollten Rache nehmen für erlittenes Unrecht, selbst wenn die Nachgeborenen büßen müssten. Wir wurden gewarnt, sie kämen den langen Weg durch den Wald, mit den Wölfen zusammen, und holten uns aus dem Bett. Heute glaubt man eher, die Geister seien friedfertig und nur einsam dort. Sie könnten den Bunker gar nicht verlassen – fingen daher Besucher, die sich zu tief in ihren Unterschlupf wagten. Und tatsächlich hat bislang niemand einen von ihnen im freien Feld beobachtet.
„Was hast du mitgebracht?“, piepst Raijsa aus ihrem Korb. Raijsa hat weder Arme noch Beine und muss getragen werden. Sie ist immer fröhlich und leicht zu begeistern, aus ihrem Mund fließt ein Faden Spucke. Der Junge kramt in seiner Tasche, beugt sich zu ihr hinunter und öffnet verschwörerisch die Hand. Raijsa quiekt. Wir anderen verrenken uns die Hälse, schließen den Kreis enger.
Frettchen hält uns einen Klumpen hin, dessen eine Seite glänzt. „Da“, sagt er und zeigt auf die glatte, silbrige Fläche. „Da hab ich ihn abgebrochen. Er gehört zu einem Ding, so riesig wie ein Schrank. Ach was, wie ein ganzes Zimmer!“
Zum Bunker führt kein Weg, er liegt in der Zone der Vergessenheit. Vom Dorf aus drei Tagesmärsche durch die Wildnis. Und schließlich den Roten Wald, von dem gesagt wird, es sei der Ort des Todes; aber in Wahrheit gibt es keinen, der darin gestorben wäre. Schlimmer ist die verlassene, weißblaue Kapelle. Ich war dort und will mich nicht erinnern.
Der Besuch des Bunkers ist seit jeher ein Ritual. Es wird spontan ausgeführt, von Kindern, die sich eines Tages am Marktplatz zusammenfinden und losmarschieren. Ausgerüstet mit Proviant und Waffen. Wichtig ist, dass man zu Fuß geht – Pferde zu benutzen, ein Tabu. Auf die Erkundung folgt eine Jagd. Größtes Ansehen erlangt der, der eines der wehrhaften Huftiere erlegt. Riesige, braunbefellte Wesen mit Geweih. Für sie gibt es viele Bezeichnungen, denn keines gleicht dem anderen. Die Tiere haben wenig Fett, aber nahrhaftes Muskelfleisch, ihre Sehnen sind zäh. Der Tradition nach werden sie roh verzehrt. Fleisch aus dem Wald ist unrein – es muss in Birkensaft ziehen und wird mit jungen Fichtenspitzen serviert. Eingelegte tun es auch, oder ihr Sirup. Es ist ein Fest, zu dem das ganze Dorf zusammenkommt; umso beliebter, als dass keiner genau weiß, wann genau die Kundschafter mit Beute eintreffen.
“Ich habe die Sommer damit verbracht, weiße Kleider anzuziehen, zu feiern. Wenn ich nur noch zwei weitere Sommer hätte, um mit den Jungs auszugehen ... Mein Liebster war hier, ist gefallen auf die Blätter, kalt und schwarz geworden.” Livana hat eine melodische, dunkle Singstimme.
„Das ist aus der Alten Zeit“, behaupte ich. „Wer singt denn heute noch vom Sommer?“ Mit Schaudern denke ich an die Sonne, die selbst nachts die Haut verbrennen will. Wir alle werden im Herbst geboren – selbst im Frühjahr kann keiner einen fremden Körper am eigenen ertragen. Wenn die Haut juckt, die Augen vor Trockenheit brennen, dass wir manchmal Schmieröl und Teer nehmen müssen, um den Schmerz zu lindern.
„Fröschlein ist heute Nacht gestorben“, erwidert Livana, ohne direkt zu antworten. Sie schluckt und blickt an mir vorbei. „Seine Lungen haben sich mit Flüssigkeit gefüllt und er ist erstickt, und keiner weiß, warum.“
„Er kommt sicher zurück“, versuche ich, sie zu trösten. Ich könnte mir auf die Zunge beißen, dass mir nichts Persönlicheres einfallen will.
„Aber wenn, nicht zu mir!“ sagt sie wütend. „Außerdem ... einige bleiben beerdigt. Sie sind tot, einfach so. Es ist eine Krankheit. Ansteckend, eine Seuche. Das hat es bisher nie gegeben, was sollen wir denn jetzt tun?“
‚Allein leben’, möchte ich sagen, will sie aber nicht verletzen. Es ist schwerer, wenn es Jüngere trifft. Und in letzter Zeit geschehen verrückte Dinge – aus dem Nachbardorf wird erzählt, eine Frau habe ein Kind geboren, das bereits in ihrem Leib gestorben sein musste. Ein langsames, zurückgebliebenes Kind, blind und stumm, das frisst, was ihm unter die Finger kommt. Die Mutter hält es in einem Laufstall, ist aber glücklich, ihm nicht eines Tages beim Sterben zusehen zu müssen. Das Ereignis wird als etwas Unnatürliches angesehen, und obwohl die beiden niemandem etwas zuleide tun, werden sie von allen ausgegrenzt.
Livanas Lachen unterbricht meine Gedanken. Es klingt eher wie ein Husten. „Manchmal habe ich Lust zu schauen, was eigentlich jenseits des Bunkers liegt. Ich könnte das Pferd nehmen, zu schaffen wäre es“, sagt sie. „Andererseits - was soll es da schon geben ... mehr Wald, mehr Bäume, ein paar verfallene Hütten, genau wie bei uns. Trotzdem ... ach naja. Stell dir vor, man würde so Sachen finden, wie die aus den Büchern.“ Sie zuckt die Schultern.
„Ja, oder wie solche, die man bei der Kapelle im Roten Wald gefunden hat“, sage ich schärfer als gewollt. Hilflosigkeit kenne ich bei ihr nicht, und dieser Tage irritiert mich alles Unbekannte.
"Was du immer hast", erwidert sie ohne Bitterkeit. "Erstmal ist die Kapelle viel schöner als unsere. Sogar aus Stein, angestrichen in Schneeweiß und Himmelblau, sie leuchtet richtig. Dann sind auf dem Friedhof nur ein paar alte Knochen, die hat man gefunden und gleich wieder eingebuddelt. Das müssen welche von früher gewesen sein, die kommen nicht mehr wieder!"
Hunderte in einer Grube. Nicht sorgfältig geschichtet, so als ob sie übereinander gekrochen ... „Vergiss es", sage ich nur. "Vielleicht ist deine Idee ja gar nicht so schlecht. Aber lauf mir nicht allein los.“
Wir nehmen einen Umweg über das Feld – keine von uns hat es eilig, nach Hause zu kommen.
„Durst“, klagt Josefiina zum dritten Mal.
Ich schiebe den Becher näher zu ihr hin.
„Das ist Gift!“
„Nein, Kornblumentee, schön abgekühlt. Du kannst ihn trinken, schau.“ Ich nehme einen Schluck davon.
„Worunter ist das?“
„Aus dem Brunnen. Ungefährlich.“
„Wovon hast Du dafür gezahlt? Banditen! Elende Scheißbanditen! Sie bitten um ein Ei und nehmen dir den Hahn. Du musst Meldung machen!“
„Ich musste nichts dafür tauschen, Brunnenwasser ist frei. Du hast doch Durst, komm.“
Es ist wichtig, viel zu trinken. Diese Zustände. Manchmal denke ich, es hängt damit zusammen, dass sie zu wenig trinkt.
Josefiina hebt die Tasse, doch setzt sie wieder ab. Ihre Augen haben sich verschlechtert, sie müht sich, etwas im Tee zu erkennen. „Aus dem Fluss ist kein trinken, du willst mich vergiften! Ich will nach Hause. Drecksau du, immer schließt du die Fenster ab!“
Wir stehen gleichzeitig auf – einen Moment bin ich alarmiert, doch sie schlurft nur zum Schrank und inspiziert die Wäsche. An den Bewegungen ihrer Lippen erkenne ich, dass sie versucht zu zählen. Als sie erneut an der gleichen Stelle anfängt, räume ich leise den Tisch ab. Manchmal kann sie sich in einer Beschäftigung vergessen, gibt eine Weile Ruhe. Ich verliere noch den Verstand darüber, wie sie neben mir her lebt, wie sie einfach nur lebt, um die Zeit bis zum Ende zu füllen.
Heute Morgen kam Livanas Fröschlein zurück. Er watschelte verloren die Straße herunter und sah aus, als könnte er jeden Moment hinfallen. Seine Körperform ist selten geworden – der Oberkörper abgemagert, die Gliedmaßen unterhalb der Taille geschwollen, als hätte jemand Wasser in die zu weiche Haut gefüllt. Unter den Fußlappen, so weiß ich, ähneln die Zehen den Fingern einer Hand. Im Laufe der Jahre hatte er es auf eine erstaunliche Beweglichkeit gebracht, nun stolpert er wieder herum wie ein Kleinkind. Er nimmt mich nicht wahr, als ich an ihm vorbeigehe, sucht die Zäune und Häuser nach etwas Vertrautem ab. Ich denke nicht, dass ich ihn später vor meiner Tür vorfinde – sie kommen immer allein, und nie in ein Haus, das bereits einen Gast beherbergt.
Die Jahreszeiten wechseln, selbst der eisige Wind kann nicht darüber hinwegtäuschen. Intensiver Geruch von nasser Erde. Schmelzwasser glitzert auf den Grashalmen, im Schilf. Als ich über die Schwelle auf die Veranda trete, ist das Holz unter meinen Füßen sonnengewärmt. Eine Nessel hat sich durch die Planken geschoben, das erste Grün. Ich widerstehe dem Impuls, es mit der Zehenspitze wieder zurück in den Schatten zu pressen. Das vermodernde Holz der Veranda erinnert mich an einen anderen Anblick: einen häufig wiederkehrenden Traum von einem verkrüppelten Fohlen. Irgendwie weiß ich, dass es tot geboren wurde. Mit Beinen, die abgeknickt und in sich gefaltet sind, mit spitzen Hufen, nicht breiter als die Fesseln selbst. Seine Augen sind geschlossen, blind kriecht es vorwärts, zielstrebig. Sein Fell gekräuselt von Feuchtigkeit, und ich stelle mir vor, dass es klebrig sein muss. Ich wage kaum, Atem zu holen – im Raum ist es so still, dass es mich sofort verriete. Möglicherweise ist das Fohlen einfach von dunkelbrauner Farbe, aber es ähnelt Kadavern, die man zu lange im Feuer geröstet hat. Zähne treten wie gedunkelter Knochen unter den Lefzen hervor, übergroß, als ließe sich das Maul nicht darüber schließen. Oft liege ich im Bett, und höre es kommen, das Scharren seiner Gelenke auf den Dielen. In den Träumen herrscht keine Nacht, eine kalte Sonne wirft Schatten auf die Wände. Die Bodenbretter wirken organisch, pelzig, mussten lange der Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen sein: Sie haben sich aufgeworfen, sind gesplittert. Dazwischen klaffen Risse und sie sind es, die mich bisher vor dem Fohlen bewahrten. Ich versuche, die Erinnerung abzuschütteln und mich wieder meinen Aufgaben zuzuwenden, aber die Furcht klebt an mir wie zäher Schimmel. Beinahe zitternd betrete ich Josefiinas Schlafzimmer.
Ihr Blick findet keinen Fokus, die Augen sehen aus, als wäre jene bläulich schillernde Haut darüber gespannt, die sonst Muskelfasern oder Eingeweide trennt. Ich kann das Gefühl nicht abschütteln, Josefiina versuche angestrengt, hindurchzusehen. Sie will sich die Lippen lecken, die Zunge ist trocken, weißlicher Pelz darauf. Ich möchte aus dem Zimmer laufen, doch es ist sonst niemand da, der sich um sie kümmert.
„Ich will ...“ krächzt sie, die Stirn in Falten gezogen. „Ich will dieses Hunger!“
„Du hattest heute früh etwas zu essen, bevor du wieder eingenickt bist. Flechtenbrei, weißt du noch?“
Aus ihrem Mund dringt ein Laut zwischen Würgen und Husten. Die Suche nach den richtigen Begriffen kostet sie Kraft – sie schaut nicht mehr zu mir, sondern geradeaus an die Wand. „Medizin“, keucht sie. „Hase in Milch. Nicht gekocht. Die Zähne musst du ihm ausschlagen vorher. Sonst gehen sie ab und schwimmen in der Blutsuppe.“
Ich weiß nicht, wovon sie redet. Unsere Kaninchen haben nicht geworfen dieses Jahr und es gab auch nichts zum Tauschen.
„Hase und Igel. In Erde gebacken, gleich in die Glut. Die Stacheln fallen ab, ganz von allein, du kannst ihn rauspellen wie aus einer Eierschale ...“
Bei dem Gedanken an das Ei wird mir schlecht. „Du hast gegessen. Morgen wieder“, sage ich entschieden zu dem Gesicht, das mich nicht anschaut. Ich trete zurück, versuche mich hinauszustehlen.
„Gib mir wenigstens ein paar Muränen!“, keift sie, plötzlich hellwach.
„Du meinst kleine Maränen. Warte.“
Ich gehe in den Garten und grabe den Porzellankrug aus unserem eingezäunten Vorratsbereich. Hoffe, Josefiina schläft in der Zwischenzeit ein.
Doch sie blickt mich erwartungsvoll an – besser, in Richtung Kleiderrascheln und Tapsen nackter Füße. Ihre Augen haben einen fiebrigen Glanz bekommen. Sie will die Arme heben, doch die Muskeln gehorchen ihr nicht. Das Zappeln unter dem Bettlaken lässt mich an Forellen denken, wenn man mit dem Knüppel schlecht gezielt hat. Ich konzentriere mich auf den klaffenden Mund mit der Pelzzunge. Fasse einen der winzigen Fische an der Schwanzflosse und lasse ihn in ihre Kehle fallen. Mit einem glitschigen Geräusch verschwindet die Maräne Josefiinas Speiseröhre hinunter. Langsam, sie wird bald vergessen haben, dass sie Hunger hatte. Oder, ob sie nicht schon einen Eimer dieser Dinger verschlungen hat. Die Augen der Maränen sind so groß, dass ihr Kopf aus nichts anderem zu bestehen scheint. Ihre Haut ist bedeckt mit Schleim und wie geschaffen für alte, trockene Kehlen. Nach fünf Stück muss Schluss sein, sonst reichen unsere Vorräte nicht.
Das vorletzte. Dann werde ich aufstehen und gehen, bevor sie Worte findet, mich aufzuhalten. Ich sehe nicht, wie ihr Arm unter dem Laken hervorschießt, fühle nur den eiskalten Griff ums Handgelenk. Ihr Kopf schnellt hoch. Auf ihren Lippen zermatscht eine Maräne zu öliger Schmiere, und ich höre mich selbst schreien. Meine Finger in ihrem Mund, zwischen Knochenplatten, die sich aufeinanderpressen. Ich springe auf. Als ich Porzellan klirren höre, finde ich mich in der Küche wieder, meine Finger pochen, als seien sie in einer Tür eingeklemmt gewesen. Im Zimmer ein dumpfer Aufschlag, den ich nicht zuordnen möchte. Wenigstens die Vorräte retten ... ich halte die gequetschte Hand an mich gedrückt, obwohl der Schmerz schon abklingt. Gestern hatte ich ihr das Gebiss weggenommen. Heimlich draußen im Schnee vergraben wie ein totes Tier. Sie hätte mir jetzt damit die Finger abbeißen können.
Ich schleiche mich ins Zimmer. Josefiina liegt am Boden, einen Arm unter sich, den anderen verdreht vom Körper gestreckt. Füße mit verknoteten Venen zucken, schaben über Holzdielen. Ihre Lippen suchen den Boden ab, schlürfen die verstreuten Maränen auf, Blut tropft herunter, bräunlich, wie geronnen. In ihrer Gier hat sie die Scherben vergessen, schluckt alles, ohne zu kauen.
Ich habe zwei Möglichkeiten: Die Sense aus der Scheune. Der Schürhaken aus der Küche.
Es wäre klug, die übriggebliebenen Fische in ein Glas umzufüllen. Nahrung für zwei Wochen. Abspülen. Den Rest wegkehren. Knochensplitter aus den Dielenspalten stochern. Den Teppich waschen, dessen Fransen in Blut und Fischschleim hängen. Totes Fleisch im Fluss versenken. Ich kann mir nicht leisten, Feuerholz dafür zu verbrauchen; wenn jetzt die Wölfe so nah ans Dorf kommen.
Am liebsten möchte ich die Tür hinter mir verschließen und mich schlafen legen, bis das Holz des Fußbodens alle Flüssigkeit aufgenommen hat, und ich den Körper wie die zarte Hülle eines Insekts nach draußen tragen könnte.
Im Haus ist es still. Aber der nächste Gast könnte bald an meine Tür klopfen – als witterten sie, wo wieder ein Bett frei ist.
Das Jahr schreitet voran und es wird Sommer – von einem Tag auf den anderen wie mir scheint. Gras und Schlingpflanzen überwuchern die Veranda. Im Garten Wildblumen, die mir bis zur Schulter reichen. Der Sommer ist ein Fluch, der von einem Tag zum anderen über uns hereinbricht. Einer Krankheit gleich frisst sich die Hitze durch unser Fleisch. Das Gewebe wird mürbe, aufgeschwemmt von Gift und Schlacke. Sechzig Kilo Fleisch schleppe ich auf meinen Knochen herum, nutzlos produzieren Organe Abfall, verpesten den Organismus. Und wie zum Hohn wächst der Hunger, alles würgen wir herunter: Trockenfisch, rotes Fleisch, verschlingen Kröten lebendig und schöpfen Laich vom Wasser. Einige haben darüber den Verstand verloren, andere fliehen in die Grabhäuschen und schmiegen sich im Schatten an die Erde, bis das Schlimmste vorüber ist. Die wenigen, die arbeiten können, dürfen keine Pause machen, sonst gibt es nicht genügend Vorräte für den Winter. Ich schlafe nicht mehr. Bin zu müde, Schattenplätze zu suchen, meine Haut schält sich ab, die Augen sind voller Staub. In der Nachtsonne schleppe ich mich die Straße entlang, denke an ein Bad in Eiswasser und ein paar Stunden Ruhe. Den Rauch sehe ich erst, als ich fast vor meinem Haus stehe. Der Herd war doch gar nicht beheizt, ist mein einziger Gedanke.
Eine Feuerwand, die Holzbalken darin nur noch ein Gitter in hartem Kontrast. Aus den Flammen löst sich eine Gestalt. Das Fohlen kriecht auf mich zu, auf gebrochenen Beinen. Dürren Spinnenbeinen, vom Feuer verkrümmt, geschwärzt, ohne Fleisch, schartig. Seinen Kopf vorgestreckt, als hätte es meine Witterung aufgenommen. Etwas hängt ihm aus dem Maul, die Zunge oder hochgewürgtes Gedärm, noch feucht. Ich will schreien, doch fürchte ich, es könnte mich hören. Es ist ein Traum, immer wieder dieses Fohlen, und die Erkenntnis wird mich aufwachen lassen.
Der Wind dreht, ich spüre die Hitze auf meinem Gesicht, ringe nach Atem in der Trockenheit der Luft. Von dem Tier geht ein Gestank aus, der mich würgen lässt: nicht süß wie gebratenes Fett, sondern Bitterkeit versengten Knochens. Es ist keinen Schritt mehr von mir entfernt. Ich öffne den Mund zum Schrei, atme Flammen ein, Luft wie kochendes Wasser, Schmerz explodiert hinter meinen Augen. Dann Schwärze. Ein Nichts, die Abwesenheit von allem: Raum, Zeit. Grenzen. Nichts Eigenes, nichts Fremdes. Die Absolutheit entsetzlicher als Todesangst und Schmerz. Sie wird nicht enden. Es gibt keinen Körper und keine Richtung, in die ich mich bewegen könnte. Ich habe keinen Mund zum Sprechen, keine Augen, die Dunkelheit zu sehen. Zukunft hat aufgehört zu existieren; ich muss die Vergangenheit nachspielen, um wenigstens ein Jetzt zu schaffen. Sonst wird sich mein Bewusstsein mit allem anderen zusammen auflösen. Gleichgültig, wo man beginnt, alles ist Wiederholung. Kindheit. Beeren pflücken im Wald. Ein Pferd mit einem warmen Rücken. Baden im Fluss. Er ist breit, viel Grün am Ufer. Jugendzeit. Die Schule, fünf, sechs andere Kinder. Bücher. Eine ... Frau, die vorliest. Ich habe vergessen, wie man sie nennt. Bäume, ein ... viele Bäume sind ... ich kenne das Wort nicht mehr. Das Bild dazu wie ausgelöscht. Was war vorher? Der Fluss, darin ist ... ich spüre, wie sich das Bild beginnt, aufzulösen. Die Welt entgleitet mir, es wird nichts mehr geben, woran ich denken könnte – ein Bewusstsein ohne Erinnerung. Für immer.
In der Leere eine Stimme. Sie ist Teil von mir und nicht ich selbst.
Weiß und Blau und mattes Gold.
Ich kenne die Worte nicht.
Bögen und Spitzen, Kuppeln und Säulen.
Kein Bild. Worte werden gesprochen, lösen sich wieder auf.
Sonne und Schatten, Bäume und Gras.
Türen, Fenster. Kein Eingang, kein Entkommen.
Ich habe Angst. Die Stimme ist bösartig, es ist eine Falle.
Wächter, Fremde. Viele gehen vorüber.
Genagelte Lederstiefel, lange Mäntel.
Sie bleiben stehen.
Gesprochenes fließt vorüber – Worte, Pausen. Betont, unbetont, Singsang, manchmal ein Reim. Ich konnte nie dichten.
Gitterstäbe, Eisenzäune. Steine, ohne Farbe.
Markierungen, Buchstaben, Nummern.
Versteckte Bedeutungen, Codewörter.
Es ist ein Rätsel! Ich habe zu lange nicht hingehört. Den Anfang vergessen.
Metallbolzen in die Erde getrieben,
bei Tageslicht und in der Nacht
… sie graben, schichten Erde … Erschöpfung
Körper fallen. Knochen brechen.
Etwas Weiches. Stoff und ein Gesicht.
Noch mehr, zu eng.Nicht nachdenken, abschweifen, der Tonfall wird dringlicher. Die Stimme wird nicht ewig sprechen – sie endet, bald, und dann muss ich die Lösung wissen.
Tief und zu viele. Ersticken im Dunkel.
Schreie. Schweiß. Erdgeruch.
Kein Raum zum Schreien.
Nichts ergibt einen Zusammenhang. Die Worte folgen schneller aufeinander.
Die Erde. Der Schnee.
Auskühlendes Fleisch.
Sie rufen, bis der Winter kommt.
Plötzlich Stille. Das Rätsel ist beendet. Alles ist vergessen bis auf die letzten Worte. Ich werde nicht entkommen. Werde alles vergessen. Sogar mich selbst.
Talvi – meine Schwester. Ihr Spitzname bedeutet Winter. „Die Kapelle. Lebendig Begrabene. Nur meine Schwester hatte keine Angst, mich in jenem Winter von den Stimmen der Toten wegzuholen“, flüstere ich in die Leere.
Mein Herzschlag erstickt mich, mein Mund ist trocken, die Sicht verschwommen. Aber ich bin wach. Hartes Gras unter mir. Mein Fleisch drückt mich nieder, die Haut gequetscht zwischen Knochen und Boden. Nur aufstehen. Zu Hause werde ich längst erwartet.
- Quellenangaben
- Anmerkungen:
Um den havarierten Reaktor 4 von Tschornobyl existieren vier Exklusionszonen: Die Todeszone oder „Zone der Vergessenheit“, die Dauerhafte Überprüfungszone, die Periodische Überprüfungszone, und die Unbenannte Zone (Strahlungswerte sind unnatürlich hoch, aber es existieren keinerlei Kontrollen).
Am 19. November 1941 verübte die deutsche Wehrmacht einen Genozid an der jüdischen Bevölkerung von Tschornobyl. Sie hoben neben einem bestehenden Friedhof ein Massengrab aus, erschossen bis zu 450 Opfer und warfen sie aufeinander in die Grube – allerdings waren einige nur verletzt. Nachdem das Massengrab zugeschüttet worden war, hielten sich zwischen den Leibern vereinzelte Lufträume. Zeugen gaben später an, dass sie noch Tage darauf Schreie aus der Erde hören konnten.
Quellen:
Äußerungen Demenzkranker, teils wörtlich übernommen: Mit großem Dank an Angelika Knapp, Fachkraft für Geriatrie (und - leider längst inaktives - Forenmitglied hier).
Alle Rezepte außer Fleisch: SERDE (Hrsg.): Exercise Book of Traditions – Foraging in Central Kurzeme. Aizpute, Lettland 2010; eigene Gespräche mit Signe Pucena, SERDE.
„Ich habe die Sommer damit verbracht (…) kalt und schwarz geworden.” Koivune / Die Birke, Karelisches Volkslied.
“Was hat eine weiße Schale und ein gelbes Herz?” christlich-orthodoxes Osterrätsel aus Ostkarelien mit Doppelbedeutung wie verwendet: Eierschale / Leichentuch und Dotter / Liebe.