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Die Vorbeiziehende

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26.05.2016
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Die Vorbeiziehende

Zufälligerweise saß ich an einem Augustnachmittag in einem Caféhaus in München und trank aus meinem Kaffee, als sich folgendes zutrug: Es war am helllichten Tag. Ich las aus den kostenlos ausgelegten Tageszeitungen und war nicht sonderlich in die Berichte vertieft. Immer wieder hatte ich das Bedürfnis um mich zu schauen, Menschen zu beobachten, auf andere Gedanken zu kommen. Währenddessen fiel mir auf, wie sich mitten auf der Einkaufspassage eine Menschenmenge bildete. Ich beobachtete es einen Augenblick und war fasziniert, mit welcher Schnelligkeit einzelne Passanten sich zu einer geschlossenen Gruppe zusammenbilden konnten. „Was geschieht draußen?“ fragte ich einen Gast, der gerade von draußen das Café betrat. „Vermutlich ein Fußballspieler. Dies passiert hier öfters.“ beantwortete er. Die Antwort gefiel mir nicht, denn auch Fußballspieler, gerade sehr erfolgreiche, lassen sich nicht ohne weiteres von so einem gewaltigen Auflauf von Menschen umgeben. Was, wenn darunter gewalttätige sind? Ich bezahlte und ging raus und erahnte nicht erfolglos, dass mein Weg mich nicht umsonst hierhergeführt hatte.

Ich bewegte mich langsam in die Richtung der Versammelten. Binnen kürzester Zeit waren noch einmal Hunderte dazu gekommen. Und jeder drängte in das Zentrum des Geschehens. Sie waren alle etwas nervös. Genauso, als verstünden sie selber nicht, warum sie eigentlich das gewisse Etwas in diesem menschenumgebenen Zentrum sehen wollten. Was verbarg sich hier? Wer zog so viele Menschen auf sich?
Aus dem inneren Zirkel des Kreises ragten schöne und teure Smartphone hoch. Die Versammelten kopierten blitzschnell voneinander Verhaltensformen. Nach einer kurzen Weile hielten Dutzende solche Geräte in die Luft, tausende Bilder entstanden in wenigen Sekunden. Andere wiederum hielten die Geräte lange in der Luft und zeichneten das Geschehen auf. Nun vermutete ich auch, dass es sich um eine bekannte Persönlichkeit handeln musste. Ich hörte heiteres Gelächter. Die Menschen an den äußeren Rändern waren aufgeregt, manche wurden böse, weil sie nichts zum Sehen bekamen. Ein junger Mann, der sich mit seinem Smartphone aus dem Getümmel befreit hatte, murmelte laut vor sich hin: „Ein schönes Video für mein YouTube Portal. Das wird mir Millionen Klicks bringen.“ Ein anderer der ihm folgte und erkennbar zu seinen Freunden gehörte, ergänzte: „Ich habe es gerade auf Facebook, Twitter, Instagram geteilt. Mein Cousin in Amerika hat es gleich weitergeteilt. Wow! Wie geil Mann!“
Der Kreis der Gaffer wurde immer größer. Menschen aus allen Schichten, alle Hautfarben, jedes Geschlecht, war vertreten. Es herrschte jedoch auch eine ablehnende Distanz. Irgendetwas war nicht ganz in Ordnung. Sie bedrängten und schubsten, jaulten, haderten, jodelten, triumphierten, und waren gierig und ungeduldig wie Drogensüchtige und wollten mit aller Kraft nach dem Zur-Schau-Gestellten vordrängen. Manche sprangen aufeinander. Einige ältere schlugen sogar mit dem Gehstock auf die Innersten, damit diese Platz machten und auch sie die Schau zu Gesicht bekamen.
Doch ich fühlte Unangenehmes. Ich presste mich durch die dicht an dicht gesammelten Menschen. Sie waren alle gekommen: Dick, dünn, jung, alt, hellhäutig, dunkelhäutig, Kopf und Körper bedeckt, offen, behindert, athletisch. Bis ich mich zum Objekt der Begierde durchdrang, vergingen viele Minuten. Ich wurde mehrmals nach hinten durchgereicht, einige verpassten mir aus Boshaftigkeit herbe Schläge in die Magengrube, in die Nieren, zwischen meinen Beinen. Doch auch diese Schmerzen hielten mich nicht auf, denn die Mitte des Geschehens zog mich wie ein Magnet an. Und als ich im Zentrum des Geschehens ankam, das Objekt der Begierde direkt vor mir stand, erfüllte mich dieselbe Freude und derselbe Hass, wie es auch von der versammelten Menge ausgedrückt wurde. Endlich hatte sich der Hungerkünstler Kafkas in die moderne Welt getraut. Er stand vor meinen Augen. In neuer Gestalt. Es war eine Frau! Sie stand da, splitternackt, ihren Blick in die Menge gerichtet, verstört vom Mechanismus des Alltags, bleiche Haut, trauriges Gesicht, hängende Busen, die Schamhaare unrasiert. Sie wartete, wie erfroren wartete sie. Sie blickte ohne mit den Wimpern zu schlagen in die Menge. Vielleicht wartete Sie einfach auf die einzig wahre Frage, nach dem „Wozu?“ des ganzen Theaters.
Die Menge tobte, jaulte, grollte, brüllte und lachte. Sie war jetzt eine Zirkuskünstlerin, mitten in der Fußgängerzone und war in wenigen Minuten zum Star des Internets aufgestiegen. Eine unsichtbare Hand legte sich auf meine rechte Schulter und ich spürte den Hauch des Todes und ich gab mich der Stimme hin: „Es ist ihr letzter Tag. Am letzten Tag ihres Lebens protestiert sie mit ihrer Sexualität gegen das Unvergessen. Gegen die Ignoranz der Menschen.“ Ich ließ diese Informationen über mich ergehen, denn ich wusste, dass ich zu jeder Zeit verfolgt wurde.

Ich war betroffen und irritiert zugleich. Hatte Sie nie bewusst wahrgenommen, wie ignorant Menschen sein konnten? Ich beobachtete meine Umgebung. Alle Versammelten verband die Strenge der Einsamkeit. Sie waren alle so schwach und von bemitleidendem Charakter. Aber in der Gemeinschaft fühlten sie sich stark, unberechenbar, in kulturelle Einheiten zusammengeschlossen. Ich schaute auf das Objekt der Begierde: Ihre Lippen waren aufgerissen, wie aufgetragene Sandkörner klebte vertrocknetes Blutgerinnsel auf ihnen. In Ihrem nackten Zustand hatte Sie etwas Attraktives an sich. Ihr dürrer Körper strahlte Sexappeal aus. Wie die unschuldige Eva unter dem Apfelbaum. Ich spürte den Atem der aufgegeilten Menschenmenge. Mehrere Männer griffen tatsächlich nach ihrem Penis und fühlten in der weit sitzenden Hose den erigierten Zustand und massierten ihr Denkorgan. Sie fühlten auf ihre eigene Art mit.

Lachsalven, lautes Aufschreien, gestikulierende Menschen, tausende Fotos, Bilder für eine Collage, Filmchen, private Sexfilme; die Fantasie der Menschen kannte keine Grenzen. Natürlich war sie zu haben. Sie alleine. Sie stand still. Sie stand bereit. Ein frischer Sommerwind blies ihr ins Gesicht, der Himmel leuchtete honiggelb. Doch das Gesicht war wie von einem Bildhauer geschnitzt. Keine Bewegung. Nicht einmal ein Atem.

Im Himmel glühte die Sonne auf die Erde, doch davon spürte sie nichts. Denn die Menschen umgaben sie mit eiskaltem Antlitz und erfrorenen Herzen. Und wieder kam die Stimme und flüsterte in mein Ohr: „Sie sah ihr Ende kommen. Nun kämpft sie ein letztes Mal für das Leben. Aber wenn interessiert es? Sie ist neunundvierzig. Sie hat viel erlebt. Aber nicht so viel, um sich später das Leben zu nehmen. Ich will sie nicht haben. Mir nützt sie nicht. Ihr Geist ist zu schwach.“

Ich dachte mir: Als sie noch bekleidet war, den Menschen ähnelnd, der Mode entsprechend, da fiel ihre innere Leere, Verzweiflung und Hilflosigkeit niemandem auf. Jetzt aber sollte jeder erkennen, in welcher trostlosen Lage sie sich befand. War das so? Und sie protestierte um des Überlebenswillens. Gegen das ständige Ignorieren. Mit einem trostlosen Blick stellte sie sich zur Schau. Das Gesicht in harten Zügen und das Herz vielleicht in Liebesleid ausgebrannt. Während ich sie noch einmal von unten nach oben begutachtete, sprach die Stimme: „Sieben Tage lang suchte sie vergeblich nach ihrem Mann, der eines Abends nicht mehr nach Hause zurückkehrte. Verschwunden. Wie von der Bildfläche verwischt. Sie erkannte, dass sie alleine nicht mehr zum Überleben fähig war. Und sie entschloss sich, ein letztes Mal für das Leben, für das eigene Leben, zu kämpfen. Sie hat ihr Schamgefühl längst verloren und sie ist sich ihres Handelns bewusst.“

Ich merkte erst jetzt ihre zerwühlten und fettigen Haare. Sie hafteten aneinander und leuchteten dunkelbraun. Und ihre Busen waren zusammengeschrumpft. Wie die einer neunzigjährigen. Auf dem Marmorboden der reichen Stadt lagen ihre Kleider; eine Bluse, die Hose, die Unterhose, ein Büstenhalter.

„Als sie auch die Hose auszog und von sich abweisend auf den Boden schmiss, überkam sie unerwartet doch noch ein menschliches Schamgefühl“, sagte mir die Stimme. Ich dachte mir, so, wie es uns von der Eva in den Buchreligionen mitgegeben wurde. Als ich meinen Blick auf ihre Kleider zog, überkam mich Ekel. „Es ekelt nicht nur dich.“, sagte mir die Stimme und fuhr fort: „Als die Hose auf dem Boden lag, blickte sie ebenfalls sehr lange auf die hintere Seite ihrer Hose, die blutgetränkt vor ihr lag. Vertrocknetes Eigenblut, der vier Tage lang aus ihrem Leib floss.“ Sie muss geahnt haben, wie viel Blut an ihrer Unterhose kleben müsste, dachte ich mir. Tatsächlich war die Hose orangerot. Mit allen Körperflüssigkeiten aus ihrem Leib getränkt. Jetzt merkte ich, wie an ihren Beinen noch ihr Blut klebte. Vertrocknet und nicht mehr so dunkel. Es ist denn Frauen eigen, dass sie sich in Zeiten ihrer Tage zurückziehen. Manche sich mit einem heftigen Krampf im Bett zusammenrollen und tagelang den Schmerz aus ihrem Unterleib heraus heulen. „Sie ist auch eine davon.“, sagte mir die Stimme, meine Gedanken aufnehmend. Vermutlich bemühte sie sich vergeblich auf der Arbeit ihre Schmerzen zu unterdrücken, dachte ich weiter. Und sie war bestimmt stets gepflegt und täuschte innere Zähheit vor. Wie viele Frauen es ständig machen müssen. Nun stand sie da und führte einen äußeren Kampf. Die Stimme erzählte: „In einem Monat, genauer beziffert, in vierundzwanzig Tagen, würde sie fünfzig werden. Sie hätte gefeiert, obwohl sie gar keinen Grund gehabt hätte. Fünfzig Jahre hätte sie auf dem Buckel, aber keinen Mann, keine Kinder, kein Leben. Doch sie hätte gefeiert, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben von einem Mann in die Arme genommen worden wäre. Von ihrem verschwundenen Freund, denn sie erst seit einigen Monaten kannte und ihr Mann nannte.“ In die Arme genommen zu werden. Geliebt zu werden. Getröstet werden. Was für schöne Momente. Zweisamkeit. Vielleicht hatte sie so sehr gelitten und nun mit neunundvierzig die Krönung ihres Lebens erfahren. „Sie hatte die schwarze Trauer abgelegt. Es war ein trauriges Jahr. Und doch fand sie sich unter diesem Himmel in der Trunkenheit eines leidvollen Lebens wieder. Was käme als nächstes, wenn nicht der Tod?“ sagte die Stimme und mich gruselte es.
Und jetzt stand sie da: Versteinert. Still. Schweigsam. Das Herz ausgebrannt und vielleicht doch voller Schuldgefühle dem nackten Blick dieser Gotteskinder ausgesetzt. „Schaut hin, Sie ist nackt!“ sagte eine jugendliche Stimme. „Eine Verrückte!“ entgegnete ein anderer. „Sie muss verrückt sein.“ schallte es auf dem Platz. Doch sie war beim vollen Verstand. Schwer verdauliche Worte flogen um ihren Leib. Ihre Ehre wurde gekränkt, doch prallten sie wie ein Fußball an eine Steinmauer ab.
Die Stimme sagte: „Sie hat schon so harte Schmerzen wie den Verlust von Menschenleben eingesteckt. Du weißt selbst, dass diese krankhafte Hysterie, diese helle Aufregung, in der sich jetzt plötzlich viele befinden, ihr Seelenheil nicht mehr betrüben wird.“ Ich wusste die ganze Zeit, dass mich diese Stimme verfolgte. Überall, auf jedem Platz dieser Erde. Es konnte mich nicht noch mehr schmerzen, genauso, wie es ihr Protest war, war mein Protest die Suche und das Finden. Und ihr Protest hatte mich meinen Verfolgungen nähergebracht.
Es war nun ihr Protest. Ihr einziger Ausweg vielleicht. Doch wie viele verstanden es tatsächlich?
Eine ältere Dame, die nicht mehr so gut laufen konnte und einen Rollator vor sich herschob, und schon lange ihr zusah und auf ein Ereignis wartete, rollte ihren Geh Wagen und blieb dicht neben ihr stehen, schaute zunächst verdutzt, dann hasserfüllt auf ihren Kleiderhaufen, und inspizierte anschließend von unten nach oben ihren gesamten Körper. Bestärkt durch die Masse, schleuderte sie dem Objekt der Begierde ein heftiges: „Schämen Sie sich denn eigentlich nicht, sie dreckiges Stück!“ entgegen und entfernte sich durch einen Gang, den die Menge ihr gewährte, mit dem Blick einer Diva weiterhin vor sich unverständliches Zeug plappernd.
Wenn schon die älteste Passantin, die selbst auf die Mithilfe anderer angewiesen war, stumpfsinnig und sich jegliche Kommentare anmaßend unempfänglich für ihre innere Trauer war, wer sollte schon mitfühlen?
Vielleicht fühlte sie sich durch diese Randbemerkungen noch mehr bestärkt. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, sonst würde sie sich nicht durch den Menschen peinigen. Vielleicht wünschte sie sich von oben ein heftiges Regen, der alles bereinigte. Aber war sie denn nicht genug gepeinigt worden, wie einst Hiob, wenn sie denn von ihm wusste.
Ihr Gesicht war in der Zwischenzeit eiskalt, die Physiognomie wie eine Figur Michelangelos unbeweglich festgefroren. Doch aus ihren Augen drang der feste Wille, die vielen Selbstgerechten zum Umdenken zu bewegen. Vielleicht war es ihre selbstauferlegte Strafe. Vielleicht war es das letzte Signal, mit dem sie ihren Gewissen noch einmal zum Überleben zwingen wollte. Vielleicht war das der Höhepunkt eines nicht gelebten Lebens, einer zerbrochenen Seele. Vielleicht war sie es leid, die ihr gegebenen Chancen zerflattert zu haben. Vielleicht auch etwas Anderes.
Dann kamen die Ordnungshüter und ihre Show ging zu Ende. Nach dem Verhör auf der Polizeistation wurde sie mit einem Dienstwagen nach Hause gefahren. Sie hatte nichts verbrochen. Hilflosigkeit war nicht strafbar. Exhibitionismus schon. Was hatte sie nicht über sich ergehen lassen! „Hilferufe“, sagte ihr die Putzfrau auf der Polizeiinspektion, seien das letzte Warnsignal. „Entweder werden sie erhört, oder die Sirenen verstummen.“ Sie saßen eine Weile zusammen, auf einer Bank, in der langen Flur eines alten Gebäudes. Sie putzte die Gänge, Anna saß in sich zusammengebrochen und wartete. Anna sagte nur: Es war ein Appell! Sie aber hatte seitenlange Lebensweisheiten zu erzählen. Es waren vermutlich Annas letzte Worte. Vielleicht. An dem Tag, an dem Anna Quirin tot aufgefunden wurde, starb auch ihre Hoffnung. Sie lag seit mindestens zehn Tagen tot in ihrer Badewanne. Im Badewasser. Es war September, das Laub verfärbte sich, die Asphaltstraßen waren öfters nass. Im auf gekippten Badfenster drang Verkehrslärm hinauf, ein Güterwaggon fuhr täglich vorbei, Menschenstimmen vermischten sich, Hunde bellten, kalte Luft von draußen vermischte sich mit dem beißenden Leichengestank in der Wohnung. Das Leben ging weiter. Und doch lebte jeder für sich alleine. Alle Bewohner der acht Wohnungen, in die eigene kleine Welt zurückgezogen.
Wieder hatte sie die Polizei gefunden. Sie war gekommen, um ihr eine Nachricht zu überbringen. Die Uhr schlug 20.15, es war Sonntag, Deutschland vertiefte sich in die Krimisendungen. Ihr Mann war gefunden worden, tot, in einem Maisfeld, fern der Stadt, auf dem Land. Seinetwegen war sie auf die Straßen gezogen. Seinetwegen hatte sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben und nun lag Sie, den eigenen Magen mit Tabletten vergiftet, Tod in dieser Welt und lebendig auf der Anderen? Vielleicht. Vielleicht ist sie auch nur gestorben und damit zu Ende gegangen. Aber sie hatte noch Hoffnungen und ein unvollendetes Leben. Sie lebte weiter, nur nicht mehr unter den Menschen, nicht unter denen auf der Erde der Lebendigen.

 

Liebe Wortkrieger Community,

ich bin erst vor einigen Tagen auf diese Seite gestoßen und habe gleich viele Texte konsumiert. Nach einigem Überlegen habe ich mich auch mal getraut, einen Text von mir zum Verriß freizugeben. Freue mich über jeden Kommentar, der mir hilft, mich stetig zu verbessern. Was ich schon jetzt weiß: Ich werde auch regelmäßig Eure Texte durchlesen und meine objektive Bewertung dazu abgeben. Es ist eine große Chance, die hier geboten wird.

Viele Grüße, Said Rezan

 

Guten Morgen Said,

Ob eine Bewertung tatsächlich objektiv sein kann, lass ich mal so im Raum stehen... ;)

Nun zu deinem Text.

Ich finde dein Spiel mit den Erzählperspektiven sehr gelungen. Immer wieder diese Stimme, die dem Ich-Erzähler ins Ohr flüstert und die man nicht so ganz zuordnen kann, die aber anscheinend alles weiß, und zum Schluss der komplette Wechsel zu dieser Stimme, der Ich-Erzähler fällt weg ohne dass man das im ersten Moment so richtig mitbekommt und es spricht nur noch die Stimme.
Nun lässt sich natürlich diskutieren, ob die letzten Sätze dann nicht logisch falsch sind, oder ob sie vielmehr ein Verwirrspiel mit dem Leser spielen. Du wählst zum Schluss ja einen Erzähler, der alles weiß, warum sollte er also Wörter wie "vielleicht" verwenden? Entweder es ist doch kein "allwissender" Erzähler, oder aber er belügt den Leser. Letzteres finde ich aber "vielleicht" gar nicht so schlecht ;)

„Vermutlich ein Fußballspieler. Dies passiert hier öfters.“
Ich wage die Unterstellung, dass das kleine Wörtchen "dies" im Sprachgebrauch eher weniger vertreten ist. Auch wenn es natürlich zu deinem erzählenden Schreibstil gut passt, würde ich in der wörtlichen Rede dennoch eher "das" verwenden.

Der Kreis der Gaffer wurde immer größer. Menschen aus allen Schichten, alle Hautfarben, jedes Geschlecht, war vertreten.

Sie waren alle gekommen: Dick, dünn, jung, alt, hellhäutig, dunkelhäutig, Kopf und Körper bedeckt, offen, behindert, athletisch.

Hier hast du eine Dopplung drin. Ich würde mich darauf beschränken an einer Stelle im Text zu erwähnen, wer so alles in der Menge vertreten ist.

Ihr dürrer Körper strahlte Sexappeal aus.

Davon abgesehen, dass ich nicht weiß, was an einem dürren Körper Sexappeal ausstrahlen soll, empfinde ich das Wort "Sexappeal" in deinem Text als unpassend, störend. Er spielt zwar in der Jetztzeit, dein Schreibstil ist aber eher... hm. altmodisch? :D
Auch im weiteren Verlauf wird Anna ja eher weniger schmeichelhaft umschrieben:

Ich merkte erst jetzt ihre zerwühlten und fettigen Haare. Sie hafteten aneinander und leuchteten dunkelbraun. Und ihre Busen waren zusammengeschrumpft. Wie die einer neunzigjährigen.

Das passt einfach nicht zum Sexappeal. Vielleicht wäre an dieser Stelle sowas wie "eigentümliche Erotik" eher angebracht.

Was mich in der Geschichte gestört hat, ist der fehlende Realitätsbezug. Okay, es ist Fiktion, schon klar. Aber eine nackte Frau in der Fußgängerzone, und keiner, wirklich keiner fühlt sich verantwortlich ihr mal ne Jacke um die Schultern zu legen und sie zu verhüllen? Ich weiß nicht. Dieser Hass und diese Sensationsgeilheit der Menschen erscheint mir doch sehr überzeichnet.
Der Ich-Erzähler ist in dem Punkt ja auch nicht viel besser, er prangert zwar an, dass die anderen Zuschauer kein Mitleid empfinden, er hilft der Frau aber auch nicht. Ich habe mich mehrmals gefragt, ob sich Anna vielleicht doch nicht umgebracht hätte, wenn einfach mal jemand zu ihr gegangen wäre und sie aus dieser Menge herausgeholt hätte.

Fragen über Fragen.
Du siehst, der Text lässt mich ein bisschen unschlüssig zurück, ich weiß nicht so recht wie ich ihn abschließend beurteilen soll. Dein Schreibstil und auch das Spiel mit den Perspektiven gefällt mir sehr gut, inhaltlich weiß ich nicht ob ich den Text überhaupt richtig verstanden habe, es ist für meinen Geschmack allerdings zu sehr konstruiert ;)

Liebe Grüße,
Sommerdieb.

 

Lieber Sommerdieb,

vielen Dank für deine Kritik! Ich werde diese Punkte berücksichtigen. Der Text ist ein Ausschnitt aus einer längeren Erzählung. Den Text habe ich zuerst mit einer Einleitung hochgeladen, aber wieder rausgenommen, um den geposteten Umfang deutlich zu kürzen.
Vielen lieben Dank!

 

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