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Die Zeit heilt keine Wunden
Jetzt, wo ich dem Sterben nahe bin, das Leben aus mir herausrinnt, weil diese gnädige Krankheit im Endstadium ist, jetzt, wo der Tod mich in Kürze aus diesem Dasein befreien wird, jetzt endlich habe ich die Kraft, die Wahrheit aufzuschreiben. Ich habe mich kurz gefragt, für wen ich das mache. Es ist keiner mehr da, den die Wahrheit wirklich interessieren könnte.
Die Antwort ist einfach.
Ich schreibe für mich.
Ich überlege heute manchmal, was er eigentlich verbrochen hatte und was mich dazu gebracht hatte, ihn zu töten. Allein die Tatsache, dass er ein egoistisches, charakterloses Schwein war, darf mein Handeln nicht rechtfertigen. War es verspätete Rache? Oder einfach Lynchjustiz?
Rechtlich war er jedenfalls nicht zu belangen für das, was er getan hatte.
Vielleicht hilft mir das Schreiben weiter.
Ich starre auf die gelb getünchte Wand des Untersuchungsgefängnisses, in dem ich einsitze. Der Farbton erinnert mich an den halb verdauten Auswurf meines Hundes, wenn er sich wieder etwas vom Tisch stibitzt hatte. Er ekelt mich an.
Gelb war eigentlich meine Lieblingsfarbe, frisch, optimistisch, strahlend. So strahlend wie meine Tochter Christine.
Ich sehe sie im Garten spielen, in ihrem gelb geblümten Frühlingskleid, die Haare offen, die Füße nackt. Ihre ansteckende Fröhlichkeit verbreitete sich augenblicklich, wenn man sie sah. Das Leben war schön und es lag vor ihr.
Als ich die zwei Schüsse abgab, fühlte ich, dass das Leben doch noch einen Sinn für mich hatte. Vorher hatte ich mich oft gefragt, was mir durch den Kopf gehen würde, wenn ich es tat.
Jetzt wusste ich es.
Es war eine gewisse Art der Genugtuung, nicht mehr. Ein bisschen mehr Gerechtigkeit in einer absurden Welt ohne Gott. Es war die Skepsis einer himmlischen Gerechtigkeit gegenüber und die Einsicht in die Ohnmacht menschlichen Handelns.
Und doch hätte ich es immer wieder getan.
Ich blickte in die erstaunten Augen des Mannes, den ich einmal geliebt hatte, und der jetzt langsam zu Boden sank. Verständnislosigkeit war wohl das Letzte, was er auf dieser Welt wahrnahm. Eine undefinierbare Leere blieb, denn ich wusste ja, dass ich seinen Tod nur für kurze Zeit überleben würde. Der spitze Aufschrei der Hausangestellten, die in den Eingangsbereich zurückgelaufen kam, durchbrach die sich anschließende Stille in der Halle der Jugendstilvilla. Die knallrote Blutlache bildete einen comicartigen Kontrast zum schwarz-gelben Steinmosaik.
Langsam entglitt der Revolver meinen Fingern und polterte zu Boden.
Liebevoll strich ich mit meiner Hand über das hölzerne Treppengeländer, das ich immer so bewundert hatte, und setzte mich gedankenverloren auf eine Stufe.
„Rufen Sie die Polizei“, sagte ich leise.
Wenn sie den Raum betrat, veränderte sich die Atmosphäre sofort. Keiner konnte sich ihrem Charme entziehen. Am wenigsten die jungen Männer. Ich sehe noch die strahlenden Augen ihres Tanzpartners auf dem Abschlussball ihrer Schule. In seiner naiven Art war er der glücklichste junge Mann auf der Welt. Nur, weil er mit ihr zusammen sein konnte.
Es war mein schwerster Gang, als ich das Unfassbare akzeptieren musste.
Christine war tot.
Als der Rechtsmediziner das weiße Tuch von ihrem Gesicht hob, war ich sehr gefasst. Sie lag da, weiß, starr, mit geschlossenen Augen. Die dunkelbraunen Strangulationsmale am Hals hoben sich schrecklich krass von der bleichen Hautfarbe ab.
„Sie hat sich eindeutig selbst das Leben genommen“, sagte der Arzt leise und emotionslos.
Ja, sie war es. Unbegreiflich, aber sie war es.
Christine, meine Tochter.
Sie riss die Tür auf und wedelte mit einem Brief von der Universität Tübingen. Es war die lang ersehnte Zusage für ihren Studienplatz. Sie sprang mir um den Hals und küsste mich auf die Wange.
„Mutter, ich bin ja so glücklich!“
Mein Zusammenbruch kam später.
Die Weinkrämpfe wollten nicht aufhören, sie wurden nicht kürzer. Selbst Tage nach der Beerdigung kam ich nicht zur Ruhe. Das nächtliche Dahindämmern, unterbrochen von Schweißausbrüchen und Schreianfällen, zehrten meinen Körper aus. Kein Sinn war mehr im Leben. Weggerissen wie von einer riesigen Lawine aus Leid und Unverständnis.
Gott war abwesend. Oder gab es für mich doch noch einen Sinn in meinem Dasein?
Wie konnte es dazu kommen? Welche verdammten Umstände hatten dieses frische Leben beendet? Wie verzweifelt musste Christine gewesen sein? Ich musste es wissen, musste es herausfinden!
Langsam hatte ich wieder die Kraft dazu. Und sie wuchs von Tag zu Tag.
Hektisch durchwühlte ich ihre Sachen. Seit einigen Jahren wohnte sie in Tübingen, um zu studieren. Bei mir war sie nur noch selten, obwohl ich nicht weit entfernt lebte. Zu meinem ehemaligen Mann, ihrem Vater, hatte sie keinen Kontakt mehr. Ich war schon mehr als fünfzehn Jahre von ihm geschieden und wusste auch nicht, wo er sich aufhielt.
Sie war genauso unordentlich wie als Kind.
Ihr Zimmer glich der unendlichen Leichtigkeit des Seins.
Was hatte sie in den Tod getrieben? Was hatte sie zum Schluss geschrieben? Gab es einen Abschiedsbrief?
Diese Fragen hämmerten pausenlos in meinem Kopf.
Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man.
Das ist eine Lüge, erfunden, um jemanden zu trösten, der nicht zu trösten ist. Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf, als ich ihr Tagebuch in einem unscheinbaren Kästchen fand und die letzten Eintragungen Christines mit zitternden Händen las. Das Bild des Mannes, der auf dem eingeklebten Foto zu sehen war, hatte sich in meiner Seele festgebrannt.
Ich kannte den Mann.
Ich erinnere mich nicht daran, dass sie ihn jemals erwähnt hatte, wenn sie mich besuchte. Sie hatte sicherlich ihre Freunde gehabt, das wusste ich, aber alles Studenten in ihrem Alter.
Er ist mein Dozent in Philosophie, schrieb sie. Sein Wissen hat etwas Erotisches für mich, dem ich mich nicht entziehen kann. Heute hat er mich zum Essen eingeladen.
Ich zittere vor Aufregung.
Genau das hatte ich damals auch gespürt.
Damals, als ich ihn nach dem Abitur auf einer Rucksackreise durch Spanien kennen gelernt hatte. Ich liebte seine feingliedrigen Hände, sein fröhliches Lachen, seinen umfassenden Intellekt.
Ich war ihm von da an verfallen.
Bedingungslos.
Lange ging ich bei ihm ein und aus, wohnte schließlich mit ihm in der Villa seiner Eltern, gegen den Willen meines Vaters. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens, glaubte ich damals.
Ich kann es nicht fassen! Meine Beine beben vor Erregung. Meine Gedanken explodieren wie Feuerwerkskörper. Sein Geruch betäubt meine Sinne.
Ich will mehr!
Aber keiner darf es erfahren.
Er ist verheiratet.
Es stört mich nicht.
„Tun Sie es nicht! Werfen Sie Ihr junges Leben nicht weg!“
Ich drehte mich vorsichtig um. Die ältere Dame kam langsam aus dem Fahrstuhl. Sonst befand sich niemand auf dem alten Aussichtsturm.
„Bitte kommen Sie nicht näher, bitte“, flüsterte ich zitternd und wischte mir mit einer Hand die Tränen aus den verheulten Augen. Die Dame blieb stehen. Die Zeit dehnte sich zur Unendlichkeit.
„Er hat dich abgelegt, nicht wahr? Abgelegt wie eine flüchtig durchgeblätterte Illustrierte. Er ist es nicht wert, glaube mir, Kindchen. Die Zeit heilt alle Wunden.“
Ich glaubte ihr.
Die Zeit heilt keine Wunden, schrieb Christine auf der letzten Seite. Man muss die Wunden selbst versorgen, damit sie heilen oder an ihnen sterben.
Verzeiht mir.
Die Wunden selbst versorgen, dröhnte es in meinem Kopf.
Wie lange hätte ich dazu noch Zeit bei meiner Krankheit? Lohnte es sich noch?
Ich traf die Entscheidung wohlüberlegt, als ich wieder zu Hause war. Eine gewisse innere Ruhe stellte sich augenblicklich ein.
Langsam zog ich die Schublade meines hölzernen Schreibtischs auf und griff nach der alten Pistole aus dem Nachlass meines Vaters.