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Die Zwangsstörung
„Wir sollten was unternehmen“, sagte Margot und strich die Marmelade auf ihrem Toast platt.
„Was denn unternehmen?“, fragte Luis, während er mit der Fliegenklatsche nach der Wespe schlug, die es auf den Frühstückstisch abgesehen hatte.
„Ich weiß nicht. Einfach raus. Man darf keine Wespen töten, Luis.“
„Ich will sie auch nicht töten. Nur sehr schwer verletzen“, antwortete er, während er die Flugbahn des Insekts verfolgte, „Warum willst du denn einfach raus?“
„Sie haben gesagt, dass es heiß wird.“
„Es ist doch schon heiß.“
„Es wird noch heißer“, sagte Margot und nahm einen Bissen Toast, „Bis zu 35 Grad könnten es werden, haben sie im Fernsehen gesagt.“
„Mhm“, murmelte Luis und nahm einen Schluck Kaffee, ohne das Insekt aus den Augen zu lassen, dass sich quer über den Tisch in Richtung Butter schlich.
„Wir könnten an den See fahren“, schlug Margot vor, „Ich könnte uns etwas zu Essen einpacken für ein Picknick und ...“
„Jetzt aber!“, rief Luis und schlug mit der Klatsche auf die Wespe.
Schwer getroffen und unkontrolliert mit den Flügeln surrend, wand sich das Insekt hin und her.
„Luis“, mahnte Margot.
„Siehst du. Nur schwer verletzt“, sagte Luis, lud das angeschlagene Tier auf die Fliegenklatsche und warf es über die Hecke, „Die Kleine von nebenan will doch Tierärztin werden. Kann sie schon Mal üben.“
„Manchmal bist du unmöglich“, sagte Margot und griff zur Kaffeekanne.
Luis legte die Fliegenklatsche zur Seite, ließ sich in den Stuhl sinken und rückte den Schirm seiner Mütze zurecht.
„Möchtest du noch Kaffee?“, fragte Margot.
„Sehr gern“, antwortete er, „Aber an den See möchte ich nicht.“
„So?“, fragte sie und verteilte den Kaffee möglichst gerecht, „Was möchtest du denn machen?“
„Nichts“, antwortete Luis knapp.
„Also irgendwas unternehmen sollten wir schon“, sagte Margot, stellte den Kaffee ab und griff zur Milch.
„Warum?“
„Willst du stattdessen den ganzen Tag auf dem Balkon verbringen?“.
„Nein“, sagte Luis und nippte an seinem Kaffee, „Nach dem Frühstück wollte ich eigentlich rein.“
„Rein“, Margot schüttelte den Kopf, „Bei der Sonne, Luis.“
„Eben. Drinnen ist es kühl.“
„Und was möchtest du drinnen machen?“
„Wenn ich ehrlich bin, habe ich eigentlich nichts Bestimmtes vor“, sagte er und nahm einen großen Schluck Kaffee.
„Ach, dann können wir auch genauso gut an den See fahren.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte er.
„Was verstehst du nicht?“
„Warum an den See fahren genauso gut sein soll wie nichts zu tun. In meinen Augen sind das zwei völlig verschiedene Dinge.“
„Das habe ich damit doch gar nicht gemeint“, sagte Margot und ließ sich ebenfalls in den Gartenstuhl sinken, der daraufhin ein knarrendes Geräusch von sich gab, „Aber wieso nichts tun, wenn man auch etwas unternehmen kann?“
„Wir fahren sonst nie an den See.“
„Heute aber bietet es sich an.“
„Warum?“, fragte Luis und beobachtete einen kleinen Vogel, der sich in einem mit Wasser vollgelaufenen Blumentopf wusch, „Warum wolltest du letzten Monat nicht an den See?“
„Da war es nicht annähernd so warm wie heute.“
„Genau. Heute werden alle da sein“, sagte Luis, „Wir hätten fahren sollen, wenn sonst niemand hinfährt.“
„Wir können natürlich auch etwas anderes unternehmen“, antwortete Margot, „Es muss nicht unbedingt der See sein.“
„Was wäre denn etwas anderes?“, fragte Luis.
Margot nahm einen weiteren Bissen von ihrem Toast, kaute ausreichend darauf herum und winkte einer Nachbarin zu, die mit dem Fahrrad vorbeifuhr.
„Ja. Zum Beispiel“, sagte sie noch immer kauend, „Wir könnten mit dem Fahrrad fahren.“
„Haben die im Fernsehen nicht gesagt, dass es bis zu 35 Grad werden soll?“
Margot schluckte den Toast herunter. Hinter der Hecke konnte man einen Moment lang noch immer die schwer verletzte Wespe am Boden umher surren hören.
„Na gut“, sagte Margot,“Dann sag mir doch worauf du Lust hättest.“
Luis überlegte, tippte mit dem Finger auf der Oberfläche des Tisches herum.
„Heute ist doch Samstag, oder?“, fragte er.
„Ja.“
„Dann schaue ich eventuell das Quiz.“
„Ach, Luis“, Margot faltete die Hände im Schoß zusammen, „Fernsehen schauen kann man jeden Tag.“
„Mit dem Fahrrad an den See fahren und picknicken auch“, sagte er.
„Wenn es kalt ist, dann nicht“.
„Wenn man sich warm anzieht, dann doch.“
Am Himmel zog ein Flugzeug seinen Kondensstreifen über den ansonsten blauen Himmel. Kurz darauf konnte man auch das weit entfernte Dröhnen der Turbinen vernehmen.
„Du willst den Tag also drinnen verbringen?“, fragte Margot.
„Ja“, Luis kratzte an einem Fleck auf seinem Hosenbein herum, „Ich schätze schon.“
„Was machen denn deine Kollegen von der Arbeit dieses Wochenende? Bleiben die alle zu Hause?“
„Dafür müsste ich sie alle nacheinander anrufen, um das herauszufinden.“
„Redet ihr auf der Arbeit nicht miteinander?“
„Doch. Manchmal“, sagte Luis und streckte sich, „Aber es ist immer so laut, da versteht man ja sein eigenes Wort nicht.“
Margot beäugte aus dem Augenwinkel eine ganz neue, quicklebendige Wespe, die um den Rest ihres Marmeladentoasts umherkreiste.
„Soll ich sie verletzen?“, fragte er.
„Lass das Tier in Frieden, Luis. Die sind geschützt.“
Margot schlug die Beine übereinander und griff nach der kleinen Gießkanne, die neben ihrem Stuhl stand. Vorsichtig goss sie Wasser über die Blumen, die sie im Sitzen erreichen konnte.
„Also ich erinnere mich, dass wir letztes Jahr bei solch einem Wetter immer etwas unternommen haben“, sagte sie dabei.
„Das stimmt.“
„Da hattest du noch deutlich mehr Lust.“
Luis nahm die Mütze ab und kratzte sich am Kopf.
„Das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht“, sagte er.
„Was meinst du denn damit?“, fragte Margot und stellte die Gießkanne wieder an ihren Platz zurück.
Luis setzte die Mütze wieder auf und sorgte dafür, dass sie ihm auch genug Schatten ins Gesicht warf.
„Na ich meine damit natürlich, dass das voriges Jahr war und ich mir nicht sicher bin, ob ich damals tatsächlich mehr Lust hatte als jetzt. Damals war ich schließlich noch nicht in Behandlung.“
„Ach, Luis. In Behandlung bist du wegen deiner Zwangsstörungen.“
Luis zog die Füße aus den Mokassins und bewegte seine Zehen an der frischen Luft ein wenig hin und her.
„Das weiß ich doch. Ist ja immerhin auch schon deutlich besser geworden.“
„Na, das mit Sicherheit, Luis. Einmal am Tag duschen reicht ja auch völlig.“
„Da konnte ich ja nichts für“, sagte Luis und kratzte sich mit dem rechten Zeh über den linken Fuß, „Das war ein innerer Zwang, der in Nichtübereinstimmung und Disharmonie zu dem stand, was ich eigentlich wollte.“
„Ich weiß, Luis. Die Broschüren haben wir ja immerhin gemeinsam gelesen.“
„Mhm“, machte Luis und legte die Beine übereinander, „Und darum glaube ich nicht, dass ich letztes Jahr unbedingt mehr Lust hatte etwas zu unternehmen. Das war auch eher so eine Art von innerem Zwang.“
„Im Sommer etwas unternehmen zu wollen ist doch keine Zwangsstörung, Luis.“
„Also die Symptome stimmen“, sagte Luis und unterdrückte ein Gähnen.
„Unsinn“, sagte Margot und schob sich den verbliebenen Rest Toast in den Mund, „Wie lange sind wir jetzt verheiratet, Luis?“
„30 Jahre.“
„32. Und wir haben jeden Sommer etwas unternommen.“
„Stimmt“, sagte Luis und schnippte einen Brotkrumen vom Tisch in den gemähten Rasen, „Bis ich in die Behandlung gegangen bin.“
Margot verzog die Mundwinkel, griff zu einer Serviette und tupfte sich etwas Marmelade von den Fingern.
„Also magst du den Sommer eigentlich gar nicht“, diagnostizierte sie und legte die Serviette zurück.
„Das kann gut sein“, antwortete Luis und legte die Stirn in Falten, „Sonst wäre ja der innere Zwang nicht da, etwas tun zu müssen, was man im Grunde gar nicht mag.“
„Ach, Luis. Warum soll man denn den Sommer nicht mögen?“
„Warum muss man ihn denn mögen?“
„Also müssen tust du gar nichts“, sagte sie.
„Ja ich weiß. Sonst wäre ich ja mit dir heute an den See gefahren.“
Margot nahm ihr Glas vom Tisch und goss sich was von dem Orangensaft ein.
„Das heißt, du möchtest diesen Sommer und alle kommenden viel lieber drinnen verbringen“, sagte sie, während sie ein für zu groß empfundenes Stück Fruchtfleisch aus dem Glas zupfte und auf ihren Teller legte.
„Ja. Jetzt wo ich so darüber nachdenke.“
„Na gut, wenn du das für richtig hältst.“
Luis blinzelte ob eines Sonnenflecks, der durch ein Loch im Sonnenschirm gewandert war und ihm trotz Mütze ungünstig ins Gesicht schien.
„Ich könnte mir vorstellen, dass wir an dieser Stelle nicht weiterkommen, wenn wir versuchen in richtig und falsch denken“, sagte er und rückte den Stuhl um wenige Zentimeter nach vorne.
„Na einen Grund wird es sicher geben, dass im Sommer mehr Leute zum See rausfahren als im Winter.“
„Mhm“, murmelte Luis, „Vielleicht ja so etwas wie eine kollektive Zwangsstörung.“
Margot räusperte sich und nahm noch einen Schluck Orangensaft, ehe sie das Glas zurückstellte.
„Es ist eben schöner" sagte sie.
„Wärmer.“
„Bitte?“
„Es ist wärmer“, sagte Luis, „Ob etwas schön ist oder nicht, darüber kann man sich ja nun streiten. Aber zu sagen,dass es im Sommer wärmer ist, darauf kann man sich wohl problemlos einigen.“
„Und das es warm ist, das muss man doch ausnutzen.“
„Mhm“, Luis schnalzte mit der Zunge, „Genau das habe ich mir ja früher auch immer gedacht. Auch, wenn ich eigentlich überhaupt keine Lust hatte.“
Margot atmete tief ein, hörbar aus und starrte eine Zeit lang vor sich ins Gras.
„Was ist?“, fragte Luis nach einer Weile.
„Ich denke gerade nach.“
„Worüber denn?“
„Ob ich es nun besser finde, dass du deine psychische Störung losgeworden bist oder früher gerne an den See gefahren und bis zu siebenmal am Tag frisch geduscht gerochen hast.“
Luis kratzte sich hinterm Ohr. Von irgendwoher näherte sich gut hörbar eine Mücke, was nicht bedeutete, dass man sie auch sah. Luis griff zur Fliegenklatsche und legte sie sich auf den Schoß.
„Also wie wir gerade festgestellt haben“, begann er schließlich, „Gerne im Grunde ja nicht.“
„Ich glaube das habe ich verstanden, Luis.“
„In Ordnung.“
Margot erhob sich aus dem knarrenden Stuhl, stand auf und klopfte sich die Hosenbeine ab.
„Bist du fertig mit dem Frühstück?“, fragte sie.
„Ja.“
„Gut. Dann nehme ich bereits etwas davon mit rein.“
Wie aus dem Nichts tauchte die Mücke auf, die bislang wie ein Phantom um Luis herumgeschwirrt war und sich nun auf einem seiner freien Füße niederließ.
„Margot?“
„Ja?“
„Was ist mit Mücken?“, fragte er und hob langsam die Fliegenklatsche, „Sind die geschützt?“
„Nein, Luis“, sagte Margot und ging mit den leeren Tellern an ihm vorbei ins Haus, „Mücken darf man töten.“
„Fabelhaft“, sagte Luis und schlug zu.