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diesem Versprechen und wir erwachen plötzlich vor
Van Goghs Selbstporträt steht am Wegesrand und malt die letzten Wirbel des vollen Mondes an den blau-schwarzen Himmel. Sein Anzug und die Hose aus dunkel-braunen, dicken Pinselstrichen sind kaum von den Schatten der Nacht zu unterscheiden. Er hat seinen Rücken zu uns gedreht und malt lautlos, mit geschwungen Bewegungen an der Welt. Wir treten vorsichtig etwas näher. Nur zwei Geräusche durchbrechen die Stille: das Knirschen des Kieses unter unseren Schuhen und unsere Gedanken. Wir bleiben stehen und schauen still dem Abbild des Meisters zu wie es hell-graue Farbe mischt und glitzernde Strudel in die Aare malt. Auf einmal wird es jemandem von uns zu viel, jemandem wird es schwindlig von all den Kreisen, Wirbeln und den Wiederholungen. Wir hören uns rufen, dass wir doch schon einmal hier gewesen seien. Jemand will ausbrechen, will das Geheimnis wissen, will wissen, was hier gerade genau geschieht, ob das alles Real ist und immer so weiter gehen kann. Jemand tritt also näher um in Van Goghs Palette zu sehen, seinen Koffer mit den Utensilien zu begutachten, seine Pinsel, seine Arbeitsweise. Fast wäre noch eine Frage gefallen. Da blickt Van Gogh auf, dreht sich langsam um und sieht uns überrascht an. Die Pinselstriche seines Gesichtes fliessend ineinander, vermischen sich, trennen sich wieder, aber immer bleibt der erstaunte Ausdruck. Nach einigen Augenblicken wendet sich Van Gogh ab und beginnt seine Sache zusammen zu packen. Als er alles in seinem Koffer verstaut hat dreht er sich wieder zu uns, nickt uns zu und schreitet, ohne uns weiter zu beachten, schwer an uns vorbei. Wir hören seine Tritte langsam verklingen in der Dunkelheit. Wir hoffen er malt irgendwo weiter. Wir hoffen wir haben nichts zerstört. Wir schämen uns, sind verlegen, verstricken uns in Diskussionen, werden sogar laut, streiten uns und erwachen plötzlich auf
dem selben Weg fliesst das Wasser neben uns viel zu still, als hätte jemand etwas vergessen, als hätte jemand nicht an die Geräusche gedacht. Vielleicht aber ist es Absicht: die Stille verleiht den Formen und Farben mehr Raum. Es bleibt mehr Platz für Details. Die Oberfläche ist silbern, glänzend. Das Wasser ist dunkles Türkis und alles verändert sich, alles ist in Bewegung. Jedes Bild ist zu schön um zu bleiben. Linien krümmen sich, wachsen, verästeln sich. Wir sehen Fraktale, die immer tiefer gehen, die unter der Oberfläche noch viel weiter gehen würden, immer weiter, tiefer bis zur Unendlichkeit. Diese Oberfläche, und das Gedachte darunter – dies alles Fluss zu nennen, Aare, diesem ganzen Bild, das gar nie existiert, weil jeder Augenblick Gegenwart so klein ist, dass er nicht fassbar ist, weil der Fluss als solches nicht mal als Momentaufnahme existieren kann – weil all dies so ist, lachen wir leise. Wir klopfen uns auf die Schultern, lachen dann lauter, weil wir nicht wissen was sonst tun, konfrontiert mit der rohen Schönheit dieses Flusses, und erwachen plötzlich unter
der grossen steinernen Brücke hören wir Dämonen murmeln. Leise, dumpf aber hörbar. Geraune und Gezische. Laut dann wieder leise. Mal beschwörend, mal lustig, bedrohlich dann wieder sanft und einladend. Wir bleiben stehen und hören zu. Die Stimmen reden zu uns, mit uns, sie verbinden sich mit uns – es sind keine Dämonen. Es ist eine junge Nymphe. Unter der Brücke können wir noch so leise denken, unter dem steinernen Bogen, auf die andere Seite, über das Wasser zurück ruft uns Echo zu. Wir schauen einander an, hören uns selber zu, lauschen den vergangenen Gedanken, die kurz eingefroren in der Zeit zwei mal existieren dürfen. Dann wollen wir Echo herausfordern, wir rufen laut ihren Namen, immer lauter und lauter ruft sie zurück und plötzlich erwachen wir nach
langer Zeit finden wir uns weiter schreitend dem selben Kiesweg neben der Aare. Wir schauen nach oben, rechts oben, wo irgendwo hinter einem Urwald eine Stadt stehen sollte. Aber wir sehen nur den Urwald. Er ist grün. Grün und smaragd-grünstes grün. Weit hinten im Urwald glühen Scheinwerfer, von hinten erleuchten sie Bäume und Farne. Die Farne sehen aus wie Skelette, feingliedrige Gerippe. Wir sehen Schlingpflanzen, Sträucher und tief im Urwald, mitten in unwirtlichstem Gebiet: Scheinwerfer. Jemand muss so weit vorgedrungen sein. Es scheint unmöglich. Aber dort muss etwas sein. Wir sehen Totenköpfe und Gerippe, dann wieder nur Farn und Gewächs. Der Urwald raubt uns den Atem, lädt uns ein. Wir fürchten uns nicht. Wir zeigen einander die herrlichsten Bäume. Sie sind riesig, sie sind alt und Moos wächst auf ihren Stämmen. Wir rätseln über die Scheinwerfer. Sind sie eine Bedrohung, eine Falle? Sind es Leuchttürme für wagemutige Wanderer, wie wir es sind? Sind wir dies überhaupt? Was haben wir beim letzten mal gemacht? Wir argumentieren mal für das eine, dann wieder dass andere und plötzlich erwachen wir auf
der anderen Seite der Aare klebt der gemalte Mond gross und blass und gelb an den dicken, blauen, dunklen Spiralen, den verspielten Pinselstrichen des Himmels. Darunter, davor, darin die Stadt. Fremd, unentdeckt und neu. Alles ist anders, obwohl es doch so ist wie es immer war. Es ist als ob ein Schleier gelüftet wurde, der bisher ihr wahres Ich verborgen hat. Wir sehen nicht mehr nur die Einzelteile der Stadt, die Gebäude, die Strassen, die Gärten, die Dächer, den Sandstein, die Fenster. Wir sehen alles auf einmal. Wir sehen die Möglichkeiten hinter der Fassade der Stadt. Ihre Seele. Die Stadt ist alt und voller Geschichten. Es gibt viele Brunnen in den Pflastersteinstrassen, sie stehen dort seit Ewigkeiten und ihr plätschern kann uns diese Geschichten erzählen. In dieser Stadt können wir das Fürchten wieder lernen, wir können unser Glück finden. Wir stellen uns vor: Im Münsterturm, oberhalb der Glocken, da wohnt ein Kobold oder eine verstossene Prinzessin oder ein verzauberter Prinz. Irgendwo gibt es eine ergraute Frau mit alten, unglaublichen Geschichten und alle sind wahr. In der Stadt, da gibt es versteckte Ecken und Erker und Türme und Statuen und irgendwo gibt es einen geheimen Raum mit einem Schatz, Gold und Saphire und Rubine, welcher vom Geist eines greisen, unglücklichen Königs bewacht wird. Es gibt dunkle Gassen und Fallen in der Stadt. Es gibt Kellergewölbe und knorrige Fässer und hinter den Fässern gibt es weitere Gewölbe. Es gibt Alchemisten und Wahrsager. Irgendwo, da gibt es einen Saal, von Kerzen erleuchtet und darin maskierte Gestalten. Es gibt geheime Handschläge, Zeichen und Runen. Es gibt fremde Gebräuche und Regeln. Es gibt versiegelte Briefe und Intrigen. Es gibt Helden und Dichterinnen, es gibt eine Zauberin und einen Hofnarr. Es gibt graue Katzen mit leuchtenden, gelben Augen die sich Hexen halten. Und irgendwo in dieser alten Stadt, da gibt es die wahre Liebe. Die Stadt ist ein Versprechen der Kindheit, welches vergessen wurde. Ein Märchen, das möglich ist. Wir schreiten voran und machen uns auf durch ihre Tore einzutreten, in dieses Bern, das erreicht werden kann in dieser Nacht. Wir sind bereit und schreiten weiter und erwachen in