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Echos
Die Socke stört mich. Der Anblick dieses weißen, dicken Baumwollüberzugs, halb von seinem Fuß gerutscht, viel zu locker sitzend, viel zu viel Stoff. An seinem zweiten Fuß ist die Socke noch ein wenig weiter heruntergerutscht und ich ziehe die Augenbrauen zusammen, schaue noch genauer hin, betrachte die krausigen Haare, die sich aus dem Sockenbund quetschen, die immer dichter werden, je weiter mein Blick nach oben wandert, bis hin zu der weißen Feinrippunterhose. Da ist es endgültig vorbei.
Ich räuspere mich und versuche ein wenig von ihm weg zu kommen, doch er hält mich fest, hält mit beiden Händen meine Schultern umfasst.
»Nora?« Er sucht fragend meinen Blick. Ich spüre den Druck seiner Hände, das Fordernde in seiner Stimme, er möchte weitermachen, doch meine Augen wandern wie selbstständig wieder zu dem Feinripp seiner viel zu großen Unterhose.
Ich entgegne nichts, schließe die Augen und mache einen großen Schritt zurück. Dabei streife ich seine Hände von meiner Haut. Er hält mich nicht mehr. Mir wird bewusst, dass ich kein Oberteil anhabe. Ich sehe mich um, finde es rechts neben mir auf der Ablage, nehme es und ziehe es mir wieder über. Nur wenige Minuten vorher hat er es mir vom Körper gerissen, seine Lippen auf meinen, sein Atem auf meiner Haut. Doch das Gefühl ist nun hinüber, der Rausch vom Alkohol zum größten Teil auch und was bleibt, sind der Feinripp und diese verdammten Socken. Ich wende mich ab und gehe an den Esstisch, wo unsere Weingläser sich gegenüberstehen, als wäre nichts passiert. Ich setze mich, nehme mein Glas und trinke einen Schluck.
»Ich werde um dich kämpfen!«, hat er einmal zu mir gesagt, vor einer Ewigkeit, doch für mich war es, als würde die Zeit stehen bleiben.
»Um mich? Kämpfen?« Ich konnte damals nur den Kopf schütteln, mein Gesicht wegdrehen und lachen über seine Beharrlichkeit. Doch er kam näher auf mich zu und zwang mich, in sein Gesicht zu sehen, diese angsterfüllten, entschlossenen Augen. Er legte seine Hand auf meinen Unterarm, weil er mich so gut kannte, weil er wusste, dass er seinen Worten Nachdruck verleihen musste, dass in meinem Kopf bereits die Abwehrmechanismen ratterten und dass er diese dadurch aufhalten konnte. Zumindest kurz. Ich mochte ihn damals, aber ich glaubte nicht, dass es mehr war als Freundschaft. Obwohl da manchmal dieses Kribbeln war, wenn ich ihn sah, oder meine Augen manchmal leuchteten, wenn ich mit ihm sprach. Es lag daran, dass ich in dem Moment, in dem wir uns berührten, absolut rein gar nichts fühlte, als hätte jemand den Schalter umgelegt, kein Kribbeln, kein Leuchten, nur Vakuum, ein gefühltes Vakuum. Seine Hand auf meinem Unterarm, ich betrachtete sie konzentriert, fühlte in mich hinein, suchte nach einer Regung, fand keine und schließlich zog er sie zurück.
»Ich werde um dich kämpfen!«
Und irgendwann verloren wir uns dann doch aus den Augen. Ich wollte nie darüber nachdenken, warum, denn in mir drinnen wusste ich es, dass er Anne kennengelernt hatte und dass sie mich Stück für Stück in allem ersetzt hatte. Zu Beginn ihrer Beziehung war unsere Freundschaft noch wie sie war und ich hörte ihm zu und ich freute mich für ihn, ehrlich, ich freute mich ehrlich für ihn. Doch irgendwann wurde sein Blick immer gequälter und seine Ausreden immer schlechter, wir sahen uns selten und dann sahen wir uns gar nicht mehr. Ich wollte nie an das Warum denken, aber an ihn dachte ich sehr oft.
Einmal stand ich im Supermarkt vor dem Regal mit den Backwaren, sah einen aufgedruckten kleinen Kämpfer auf einer Packung Toast, ein Werbegag, und da musste ich zum ersten Mal an ihn denken. Früher hatte er hin und wieder die Superman-Pose gemacht und dabei ziemlich bescheuert ausgesehen.
»Ich bin ein unscheinbarer Held«, sagte er einmal, »aber sind das nicht eh die besten Helden?«
»Musst du als Held nicht erstmal irgendwen retten? Etwas heldenhaftes tun?«
»Mach ich ja, ich rette verlorene Frauen«, und nach einiger Zeit fügte er leise hinzu: »wie dich.«
Daran dachte ich oft, dass er doch kämpfen wollte um mich, dass er mich retten wollte und es so schnell wieder vergessen hat. Je mehr Zeit verstrich, umso mehr Erinnerungen drängten sich in mein Bewusstsein, wollten beachtet werden. Ich sah mal ein Eichhörnchen, das unbeholfen beinahe von einem Ast gefallen war und musste schmunzeln. Eichhörnchen waren lustig. Er war es eigentlich nicht. Nicht, wenn er es wollte. Aber wenn er es nicht wollte, dann schon. Dann war er sogar sehr lustig. Mit den Eichhörnchen war es wohl genauso. Hier begann ich ihn zu vermissen. Zusammen hatten wir oft gelacht, über seine Unbeholfenheit oder meinen Fatalismus. Aber allein konnte ich über meinen Fatalismus nicht mehr lachen und überhaupt, lachte ich nur noch selten.
»Ich werde um dich kämpfen!«, hat er zu mir gesagt und ich war direkt rot geworden, musste mein Gesicht wegdrehen, mein Herz beruhigen. Nie vorher hatte mich jemand so angesehen, nie wurde ich ausgewählt, herausgehoben, als etwas besonders. Doch für ihn schon. Bei den vielen Frauen die es gab, wollte er um mich kämpfen. Um mich. Und dann war er weg. Und ich lebte mein Leben, wobei er mich schon lange vergessen hatte. Doch ich dachte an ihn, immer wieder.
Ich dachte an ihn, als ich Steine kickte im Wald, bei meinem ersten richtigen Rausch und auch wenn mir schöne Dinge passierten. Ich dachte an ihn, während ich meine ersten Erfahrungen mit Männern machte, viel zu spät eigentlich, aber ich war langsamer als der Rest und meistens auch einfach zu spät. Ich dachte irgendwann sehr oft an ihn.
Das Echo seiner Worte, selbst da, während ich verloren auf der Veranda von irgendwem saß, an meiner Zigarette zog und Tränen mir die Wangen hinabliefen, während ich Ameisen beobachtete, die kleine Brocken Nahrung hin und her trugen, selbst da hörte ich noch seine Stimme, ein Flüstern nur noch, doch es war mir Trost.
Ich dachte an ihn und fragte mich schließlich, ob da immer noch dieses Vakuum bliebe, wenn er mich berührte, oder ob damals vielleicht etwas mit mir nicht gestimmt hatte. Manche Dinge musste man einfach machen, um zu wissen, und manchmal auch zur richtigen Zeit, doch ich bin so viel langsamer als der Rest und meistens auch einfach zu spät.
Schließlich hörte ich sie nicht mehr, seine Kampfansage. Es war alles zu weit weg, gefühlt ein ganzes Leben.
Und dann haben wir uns nach über zwei Jahren zufällig in der Stadt getroffen. Ich hatte mich irgendwie verändert, sagte er, aber für ihn würde ich immer die Gleiche bleiben, das sagte er auch. Ich fand er hatte sich stark verändert, war sehr viel männlicher geworden, sehr viel selbstbewusster. Ich musste das immer wieder feststellen. Und meine Augen leuchteten, während ich sprach, und seine auch. Und während eine unangenehme Gewissheit sich langsam in mein Bewusstsein drängen wollte, genau in dem Moment, beschloss ich einfach, sie zu ignorieren. Ich war wieder in sein Leben getreten und er in meins, alles andere war egal. Er lud mich zum Essen ein, wollte über die alten Zeiten reden und ich sagte zu.
„Noch ein Glas?“ Er schenkte immer wieder nach, irgendwann schon ohne zu fragen, die Gläser waren niemals leer, nicht einmal halb leer, er schenkte immer nach. Worte kamen und zogen vorbei, manche blieben länger, die großen blieben lange, Worte wie Wahrheit und Gefühle. Er wollte die Wahrheit über meine Gefühle für ihn hören, endlich die Wahrheit und ich sagte: „Oh Gott, noch ein Glas und ich werde wirklich ehrlich!“ Aber dieses Thema umgingen wir dann trotzdem, bewegten uns geschickt drum herum und er schenkte immer wieder nach, während die Stunden verstrichen wie Minuten. Angestoßen vom Alkohol wurde das Gesagte immer gewagter und dann kam er um den Tisch gelaufen, auf einmal keine Massivholzplatte mehr zwischen uns, und bei all der Vertrautheit fühlte sie sich nur richtig an, seine Nähe. Er nahm meine Hand und ich war sicher, er würde bluffen, in letzter Sekunde in Lachen ausbrechen und alles als einen Witz hinstellen. Er dachte wohl dasselbe. Doch er kam näher, immer näher, während Sekunden sich dehnten wie Jahre und ich hielt die Luft an, versuchte, mich zu sammeln, versuchte zu denken, doch ich konnte nur die Luft anhalten. Er nahm mein Gesicht in seine Hände, und ich ließ es geschehen. Sobald sich unsere Lippen trafen, war nichts mehr wie vorher, wir waren unaufhaltsam, gingen immer weiter. Erst mein Shirt, dann seine Hose, wie automatisch, während ich versuchte, die Gedanken zu ignorieren, die mir Hinweise geben wollten, wie: Seine Hände fühlen sich auf deinem Körper komisch an, sein Körper unter deinen Händen auch. Aber vielleicht dauert es nur ein wenig. Vielleicht muss ich seinen Körper erst kennenlernen und seine Hände. Das alles hier muss richtig sein, denn wenn es nicht richtig ist ...
Ich spiele an meinem Weinglas herum und höre, wie er sich anzieht. Dabei seufzt er einige Male. Ich starre nur still vor mich hin, merke, wie schwer es mir fällt, den Blick auf einer Sache ruhen zu lassen. Alles, was ich anschaue, bewegt sich einfach weiter, rennt mir davon.
Er setzt sich wortlos mir gegenüber, zwischen uns wieder die Massivholzplatte und die Ernsthaftigkeit, die hat auf uns gewartet, hat das Ganze mitangesehen und war nun da, um uns zu richten. Er setzt sich und nippt an seinem Wein, erkennt wohl gerade erst den Ernst der Lage, verzieht das Gesicht.
Ich will, dass er etwas sagt, dass er uns noch einmal große Worte zuordnet, uns Bedeutung gibt, aber er atmet nur laut.
»Weißt du, dass ich die letzten Jahre viel an dich gedacht habe?« Ich spreche mehr in mein Weinglas.
»Hm?«
»Ich glaube wir waren damals noch sehr jung irgendwie. Andererseits, sind wir jetzt auch nicht wirklich viel älter.«
»Du bist schon älter geworden, also mutiger. Vor zwei Jahren hast du alle meine Versuche immer abgeschmettert und heute-« Er bricht ab und kratzt sich am Kopf, vielleicht wartet er darauf, dass ich etwas sage. Ich will mich aber nicht mit der Gegenwart befassen. Ich will in unserer Vergangenheit bleiben, im schönen Teil, dem mit Bedeutung.
»Du hast mal gesagt, du würdest um mich kämpfen, weißt du das noch?«
Er macht ein angestrengtes Gesicht, durchforstet seine Erinnerungen. »Das habe ich gesagt?«
»Du weißt es nicht mehr?« Etwas in mir sackt zusammen.
»Keine Ahnung, es klingt schon irgendwie nach mir, so theatralisch.« Er grinst schief.
Das verpasst mir einen Stich. »Ich weiß auch nicht, warum mir das jetzt gekommen ist.« Ich schüttle den Kopf.
Nach einer kurzen Pause. »Hätte ich um dich kämpfen sollen, Nora?«
Ich bin wie erstarrt, erwidere nichts, schaue ihn einfach an, bis er wieder spricht.
»Ich hatte damals eine echte Chance mit Anne, verstehst du? Sie hat sich in mich verliebt, wirklich verliebt. Was hätte ich denn tun sollen?«
Ich kriege immer noch kein Wort heraus, als würde ein Klumpen in meinem Hals stecken.
»Du wolltest doch nur befreundet sein?«
»Nur befreundet?« Ich vergreife mich im Ton, muss sehr laut werden, um an dem Klumpen in meinem Hals vorbei zu kommen. »Ich wollte befreundet sein! Du warst mir so wichtig! Das du mich einfach fallen lässt, wenn die Erstbeste kommt!«
»Anne und ich haben uns verliebt und sie hat es nicht ertragen«, er muss Luft holen, für die nächste Aussage: »Das zwischen uns.« Er macht eine große Geste, wedelt zwischen uns hin und her, dass beinahe die Weingläser umfallen.
Ich halte meins umklammert. »Das zwischen uns.«
»Du weißt es doch selbst, alle haben das gesagt, diese Vertrautheit, Chemie, keine Ahnung was es ist, aber sie hat es nicht ertragen, das zu sehen.«
Ich trinke leise die letzten Reste aus meinem Weinglas.
»Sie hatte jedesmal Angst, wenn wir was zusammen gemacht haben und danach gab es Streit.«
Ich schweige und für einen Moment ist es ganz ruhig in meinem Kopf, fast versöhnlich. Die Gewissheit, die sich in einer dunklen Ecke meines Gewissens versteckt hat, ist befreit. Sie hat ihn gedrängt. Sie hat sich durch mich bedroht gefühlt und ihn gedrängt die Freundschaft zu beenden.
»Ich wollte immer mehr als Freundschaft, Nora. Du nicht!« Seine Stimme ist plötzlich sehr kalt.
Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, versuche sinnvolle Worte zu finden, versuche etwas zu finden, dass ich sagen kann, dass mich rettet. »Ich wollte dich einfach in meinem Leben behalten.«
Die simple Wahrheit hinter diesem ganzen Desaster.
Da steht er von seinem Stuhl auf und kommt ein wenig unsicher um den Tisch gelaufen, umgeht die Massivholzplatte, durchbricht den Sicherheitsabstand erneut, nimmt meine Hand und sieht mir ganz ernst ins Gesicht, glasige, rote, todernste Augen.
„Ich werde um dich kämpfen!“, hat er einmal zu mir gesagt. Und so sehr ich diesen Satz für mich konservieren will, ich kann das Echo der Vergangenheit nicht mehr wahrnehmen.
Ich spüre, dass der Satz abgelöst wird, von einem anderen, der folgen wird, der mich die nächsten Jahre verfolgen wird.
Er streicht mir übers Haar, küsst mich auf den Scheitel, sagt die Worte: „Lebe wohl.“
Ich hoffe, er sagt es ihr nicht.