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Edelweiß
Seine Füße hinterließen tiefe Spuren im Schnee. Doch er beachtete es nicht weiter. Die nächste Schneewehe würde sie fortzaubern und die weiße Decke so makellos erscheinen lassen, wie noch vor wenigen Minuten, bevor er sein gemütliches Heim verlassen hatte.
Außerdem spielte es keine Rolle, ob jemand seine Spuren entdeckte. Er hatte keine Angst vor Fremden. Im Gegenteil, über etwas Gesellschaft würde er sich freuen. Er lebte nun schon so lange alleine in den Bergen, dass es ihm Mühe bereitete sich an eine Zeit zu entsinnen, zu der es anders gewesen war.
Er vermutete dass sein Vater vor vielen Jahren gestorben war. Er war eines Tages von der Jagd nicht mehr heimgekehrt. Es sei normal zu sterben wenn man alt ist. Das sei der Kreislauf der Natur. Unzählige Male hatte sein Vater so geredet, wenn sie Abends am Lagerfeuer zusammen saßen. Und trotzdem hatte der Verlust ihn so unvorbereitet getroffen, als wäre dieses Thema zwischen ihnen nie zur Sprache gekommen. Nächtelang hatte er wachgelegen und geweint. Ohne die Nähe seines Vaters war ihre Höhle zu einem kalten und fremden Ort für ihn geworden. Tagsüber hatte er lange an der Klippe gestanden und in die Tiefe geblickt. Die Leere in seinem Herzen war so unerträglich groß geworden, dass er furchtbar gerne springen wollte. Und doch hatte er es nicht getan. Sein Vater hätte es nicht gewollt. In seinen Augen war es ein ungeheurer Frevel, das Geschenk des Lebens nicht zu würdigen.
"Schau dich nur um", hatte er stets gesagt. "Die Berge, der Himmel und der Schnee. Das alles ist so wunderschön. Und doch hat man es uns ohne jede Gegenleistung überlassen."
Er hatte durchgehalten. Es war mühsam gewesen sich nur von Pflanzen zu ernähren. Trotzdem brachte er es nicht über sich, ein Tier zu töten, wie es sein Vater getan hatte. In wenigen Tagen war er so schwach geworden, dass seine Kraft kaum noch dazu ausgereicht hatte, den schmalen Pfad hinabzusteigen, der zu einem spärlich bewachsenen Areal unterhalb des Höhleneingangs führte. Er hatte das Bedürfnis verspürt, sich einfach in den Schnee zu legen und in eine andere Welt hinüberzugleiten. Aber er hatte gekämpft. Und er hatte den Kampf gewonnen.
Er blickte sich um. Zu seiner Rechten lag ein kleines Tannenwäldchen. Auf der anderen Seite ragten schneebedeckte Felsformationen aus der Erde. Als er zum wolkenlosen blauen Himmel emporblickte, beschirmte er mit einer Hand seine Augen, um von der Mittagssonne nicht geblendet zu werden. Er beobachtete, wie weit über ihm einige Schwalben durch die kalte Luft glitten.
Nein, mittlerweile hegte er keinen Zweifel mehr daran: Es hatte sich gelohnt!
Hinter dem Felsdurchgang lag die Quelle. Mit Verwunderung stellte er fest, dass er nicht alleine war. Ungefähr einen Meter von ihm entfernt hockte ein blondes Mädchen und füllte einen hölzernen Eimer mit dem klaren Quellwasser. Ohne sich umzublicken, sonst hätte sie seine Anwesenheit sicherlich bemerkt, stellte sie ihn sorgsam neben sich ab. Hier, am Fuße des Berges lag nur wenig Schnee. Trotzdem wuchs nicht viel zwischen den Felsen auf dem harten Erdboden. Doch eine einzelne Blume hatte dem unwirtlichen Klima getrotzt: Sternenförmig umrahmten pelzige, weiße Blätter die gelbe Blüte. Es war nicht das erste Mal, dass er ein Edelweiß sah, auch wenn die Pflanze recht selten war.
Gerade noch rechtzeitig stellte er fest, dass das Mädchen die Hand ausstreckte und im Begriff war die Blume auszureißen.
"Nicht", sanft ergriff er einen Zipfel des roten Schales, den das Mädchen um den Hals geschlungen hatte. Abrupt drehte sie sich zu ihm um. Ein Ausdruck großen Schreckens war in ihrem Gesicht abzulesen. Hastig entriss sie ihm das Schalende und stolperte einige Schritte zurück. Dabei stieß sie den Eimer um und das Wasser ergoss sich auf den felsigen Boden. Das Mädchen kümmerte sich nicht weiter darum und rannte eilig davon ohne noch einmal zurückzuschauen.
Betroffen blickte er ihr nach. Wieso hatte sie sich derart erschrocken. Er hatte sie doch nur darum bitten wollen das Edelweiß stehenzulassen. Die Natur war es wert geschützt zu werden, das musste sie doch verstehen...
Nachdenklich setze er sich auf einen großen Stein am Rand der Quelle und starrte trübsinnig in das klare Wasser. Zwischen den verschwommenen Konturen des Felsdurchgangs blickte ihm ein pelziges weißes Gesicht entgegen. Zugegeben, die keilerähnlichen langen Eckzähne erweckten auf den ersten Blick einen raubtierhaften Anschein. Doch wer genau hinsah, musste doch die ungewöhnlich sanften Gesichtszüge und das gutmütige Funkeln in den braunen Augen bemerken.
Er versuchte die Reaktion des Mädchens aus seinen Gedanken zu verbannen. Aber so sehr er sich auch bemühte und versuchte sich an der Umgebung zu erfreuen, über die Landschaft hatte sich nun ein düsterer Schatten gelegt. Das angstverzerrte Gesicht des Mädchens hatte sich in sein Bewusstsein eingebrannt und begleitete jeden seiner Schritte. Bald würde er den Höhleneingang erreicht haben. Heute würde er sich eher hinlegen. Es war ihm ohnehin nicht möglich auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Und wenn er Glück hatte, würde der Schlaf ihm dabei helfen zu vergessen, was geschehen war.
Ein lauter peitschender Knall durchdrang die Luft. Panisch blickte er um sich. Ihn umgab eine dichte Staubwolke, die ihn daran hinderte, die Ursache für den Lärm zu auszumachen. Jetzt ertönte ein zweiter Schuss. Stechender Schmerz durchströmte seine rechte Schulter. Mit der linken Hand fühlte er Blut.
Langsam löste sich die Wolke auf und gab den Blick frei. Auf einem Felsvorsprung stand ein bärtiger Mann, der ein Gewehr in den Händen hielt. Der Lauf war auf die Brust des Yetis gerichtet. Ein Hund wedelte mit dem Schwanz. Er trug den Fetzen eines roten Schales im Maul. Der Mann wartete nicht, bis seine Beute sich von den Schmerzen erholt hatte, sondern gab weitere Schüsse ab. Als der Yeti leblos zu Boden sank, lächelte der bärtige Schütze grimmig und fuhr seinem Hund mit der Hand über den Kopf. 'Gut gemacht', sagte sein Blick. Das Fell war sicher eine Menge wert.
Hinter einem Baum in der Nähe schaute der Kopf des Mädchens hervor. Sie hatte alles mitangesehen. Ihre Beine zitterten. Tausend Gedanken rasten ihr durch den Kopf. War sie eine Mörderin?