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Ein Schatten fällt ins Licht.

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16.02.2009
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Ein Schatten fällt ins Licht.

Ein Schatten fällt ins Licht.

Das schreiende Kind lag verlassen in einer viel zu großen Babytragetasche auf der Kommode direkt neben der Eingangstür des Schlafzimmers.
Unter der wattierten Überdecke war das Kind kaum zu sehen, dessen Kopf sich knallrot vom ungehörtem Hungergeschrei heftig hin und her bewegte.

Draußen im halbdunklen Flur, auf einem geschmiedeten Eisentischchen dicht an der Eingangstür, stapelten sich die Umschläge ungeöffneter Post und die sperrige Unordnung von einigen großformatigen Wochenmagazinen, die mit der ganzen Flut von Papier und Hochglanz über den Tischrand auf den Boden zu gleiten drohten.
An der Pinwand daneben klebten drei Post-it Zettel mit Telefonnummern und das einzelne Foto eines älteren, gutaussehenden Mannes, der barfuß in einem nassen Taucheranzug an einem steinigen Ufer irgendwo am Mittelmeer posierte.
Eine Widmung mit rotgelacktem Stift auf blauen Wassergrund verriet seinen Namen und seine Zuneigung: " Liebste Elisabeth: Für immer unser Sommer 2006. Ralph."

Elisabeth Wentner saß im angrenzenden Ankleidezimmer still neben der Tür auf dem Boden, die Augen ausdruckslos offen und rotgeweint ins Nirgendwo zwischen die vollgepackten Kleiderregale gerichtet. Neben ihren angezogenen Beinen lag unbeachtet ein Handy mit erblindetem Display, den Akku leertelefoniert. Wie in einem schlechten Traum gefangen, konnte sie im träge gewordenen Hintergrund ihrer Wahrnehmung das Gebrüll des Säuglings im Nebenraum hören und es ignorieren.
Ihre Gedanken drehten sich unaufhörlich im Kreis - Bis vor einer knappen Stunde hatte sie die Illusion aufrecht erhalten können, daß alles, was sie sich für die Zukunft erhofft hatte, doch noch in Erfüllung gehen würde. Und gerade, als sie sich auf der Babystation des Klinikums von ihrer Hebamme verabschiedet und den anderen, frischgebackenen Müttern im Aufenthaltsraum zum Abschied zugewunken hatte, die Tragetasche mit ihrem Kind in der Hand, hatte sie den ersten Stich der Wut in ihrer Brust verspürt und sich davor gefürchtet.

Ralph war nicht gekommen.
Seine Frau war geschäftlich nach Ibiza geflogen und hatte ihn gebeten, mit ihr zu kommen und nach den anstehenden Geschäftsgesprächen einen Kurzurlaub im Landesinneren zu machen.
Er hatte es Elisabeth schon einige Tagen vor dem Entbindungstermin mitgeteilt, aber sie hatte dennoch gehofft, daß er sich im letzten Augenblick anders entscheiden würde und bei ihr bleiben würde. Diese Hoffnung hatte sie betrogen.

Daß das Kind kein Sohn werden würde, hatte man auf sein Drängen hin vor Monaten festgestellt und daraufhin war sein Interesse an ihr und dem Baby natürlich merklich abgekühlt.
Er war, wie er selbst von sich sagte, alt und egoistisch genug, um sich einen Sohn zu wün-schen und eine Tochter bestenfalls als unvermeidliche Zeitverschwendung anzusehen. Dieser gedankenlos dahingesagten Satz hatte ihre eigene Vorfreude auf das Baby, das in ihr heranwuchs, getrübt. Und alle unvermeidlich folgenden Schuldgefühle hatten daran letztendlich nichts geändert.
In Wirklichkeit hatte Elisabeth ihm nicht wirklich glauben wollen.
Sie hatte gehofft, daß er, wenn er seine Tochter zum ersten Mal zu Gesicht bekam, seine Meinung über das Kind ändern würde – doch nun hatte er dem Baby nicht einmal die Chance gegeben, seine Einstellung zu überdenken.
Kaum vor einer Stunde mit dem Taxi nach Hause gekommen, hatte Elisabeth immer und immer wieder seine private Handynummer gewählt.
Hatte ein ums andere Mal bis zu seiner Mailbox durchgeklingelt und war nicht müde geworden, diese Prozedur so oft zu wiederholen bis schließlich die rote Ladeanzeige am Telefon einen Schlußstrich unter ihre Bemühungen gesetzt hatte. Die Vergeblichkeit hatte sie in den gefährlichen Zustand zwischen stummer Wut und hilfloser Resignation versetzt, den sie zurecht fürchtete.

Wie konnte er es wagen.
Wie konnte er es sich getrauen, sie so im Stich zu lassen – sie monatelang in dem Glauben zu bestärken, daß er trotz seiner zwanzigjährigen Ehe noch aufrichtige Gefühle für eine andere Frau aufbringen konnte. Er hatte sie glauben gemacht, daß es mit ihm eine Zukunft für sie und das Kind gab. Gezwungenermaßen das Leben einer Wochenend-Zweitfrau mit einer einigermaßen zufriedenstellenden finanziellen Versorgung für ihre Tochter und sie selbst.

Zumindest, und dafür war sie ihm dankbar gewesen, hatte er schon vor Monaten dafür ge-sorgt, daß sie aus ihrer alten Wohnung in Köln-Porz hatte ausziehen können, die kaum groß genug gewesen war, um dort ein Kinderzimmer einzurichten. Er hatte ihr seine Eigentumswohnung hier in Rodenkirchen, dreihundert Meter Luftlinie vom Rhein entfernt zur Verfügung gestellt.
Hatte in einem renomierten Möbelhaus selbst eine neue Schlafzimmer- und Küchenausstattung ausgesucht und einrichten lassen und hatte keine Kosten gescheut, um ihr das Leben, zumindest zu Beginn ihrer Schwangerschaft so angenehm wie möglich zu machen.

Er hatte sie auch, was sie der Fairneß halber ebenfalls zugeben mußte, bisher finanziell unterstützt und einige kleinere Beträge, die sie dem Vermieter und den Stadtwerken für Strom und Gas geschuldet hatte, für sie beglichen. Er war es auch gewesen, der ihr ihre augenblickliche Halbtagsstelle als Hilfskraft in einem seiner Maklerbüros in der Innenstadt verschafft, die sie ohne Mühe bewältigen konnte. Nach beinahe einem Jahr in dieser zugegeben bisher lukrativen Beziehung konnte sie sich eine Rückkehr in ihr bayrisches Heimatdorf in der Nähe der österreichischen Grenze nicht mehr vorstellen.

Kennengelernt hatte sie Ralph im Sommer 2006 auf Kreta, etwas abseits der Massen-tourismusziele in einem kleinen Hotel bei Elounda an der nördlichen Küste der Insel – er war für einen ausgedehnten Tauchurlaub dort gewesen, und sie, weil ihr Reisebus ohne sie nach Agios Nikolaos weitergefahren war und sie für eine Nacht dringend ein Zimmer gebraucht hatte.

An der Rezeption hatte man ihr mit einem Blick auf ihren Rucksack und ihre Discount-Sportschuhe mitgeteilt, daß kein freies Zimmer mehr zur Verfügung stand und daß sie sich doch in einer der kleinen privaten Pensionen in der Altstadt nach einer Bleibe umsehen sollte – da hatte sich Ralph Bauer in das Gespräch eingemischt, lässig in helle Jeans und Seidenhemd gekleidet, das dunkle Haar durch Salzwasser und Sonne ausgebleicht. Mit der Selbstverständlichkeit des geborenen Kavaliers hatte er ihr das zweite Bett in seiner Suite im obersten Stockwerk des Hotels angeboten, ganz ohne Hintergedanken natürlich – er wäre sowieso am Abend zu einer kleinen Feier mit Geschäftsfreunden eingeladen und würde erst am Morgen zurückkehren und dann hoffen, daß sie ihm das Vergnügen eines gemeinsam eingenommenen Frühstücks erweisen würde – und sie hatte mit einem Blick in seine rauchblauen Augen angenommen und war ihm in den Aufzug gefolgt – froh darüber, den schweren Rucksack vom Rücken zu bekommen und sich endlich ein kleines Abendessen bestellen zu können, bevor die Hotelküche Feierabend machte.

Wie versprochen hatte Ralph Bauer die Nacht ausserhalb des Hotels verbracht und sie am Morgen mit einem üppigen Frühstück auf dem Südbalkon seiner Suite überrascht – innerhalb einer Stunde hatten sie sich beim Vornamen genannt und innerhalb eines Tages in überra-schend abwechslungsreichen Gespächen an der Bar und am kristallklaren Pool eine angenehme Vertrautheit zueinander gefunden.
Er hatte ihr von seinen erfolgreichen Geschäften mit hiesigen Immobilien, von seiner Tauchleidenschaft und seiner kinderlosen Ehe erzählt, sie hatte von ihrem Talent fürs Malen auf Leinwand und Keramiken berichtet, mit deren Verkauf sie ihr schmales Budget als Supermarkt-Verkäuferin aufbesserte und vom Leben auf dem elterlichen Bauernhof im bayerischen Hinterland. Sie hatte sorgfältig darauf geachtet, ihm die angenehmen Seiten dieses Lebens zu schildern, den Umgang mit Kühen und einigen Pferden, deren Stallpflege sie
übernommen hatte, das Sammeln von wilden Erdbeeren in den Sommerwäldern, die Radtouren an die kleinen Baggerseen in der näheren Umgebung, von den überschaubaren, selbstverständlichen Grenzen ihres damaligen Lebens.

Sie hatte ihm das über sich erzählt, was er ohne weiteres glauben konnte – sie hatte keinen Augenblick damit verschwendet, darüber nachzudenken, wie er wohl darauf reagiert hätte, wenn er die ganze Wahrheit über sie gewußt hätte. Seit ihrer Kindheit hatte sie die Monster der Erinnerung in ihrem Herzen begraben und geleugnet, daß es dort noch immer eine Wunde gab, die nicht heilen wollte.

So aber hatte sie die letzte vier Tage ihres Urlaubs mit ihm verbracht und hatte von ihm gelernt, wie man mit dem Schnorchel und einem Bleigürtel tauchte, der so austariert war, daß sie im Wasser zehn Fuß über dem sandweißen Meeresboden zu schweben geglaubt hatte, leicht wie ein Vogel.

Sie waren in einem gemieteten Segelboot um die Nordostspitze der Insel gefahren, unter einem strahlend blauen Himmel, der keine noch so kleine Wolke in der gleißenden Helligkeit geduldet hatte - vorbei am Dattelhain von Vái und hinüber zur Insel Elasa, wo sie in einer kleinen Bucht geankert und ein wunderbares Abendessen während des Sonnenunterganges genossen hatten – und der erste Kuss nach dem exquisiten Champagner geschmeckt hatte, den sie aus geschliffenen Kristallgläsern tranken, während eine kühle Brise von Osten über die Reling und die Deckaufbauten des Schiffes sie endlich in Ralphs warmen Umarmung getrieben hatte. Und folgerichtig in eine lange Nacht ohne viel Worte, aber umso mehr Leidenschaft und Vergnügen.

Sie hatte sich täuschen lassen wie ein naiver Teenager.
Schlimmer noch, sie hatte für die Dauer dieser wunderschönen Tage glauben wollen, daß sich für sie ein anderer Weg in die Zukunft geöffnet hatte – daß die Vergangenheit nur ein Albtraum war und ihre Schuld ihr vergeben.
Und nun war sie eines Besseren belehrt worden.

Als sie kurz nach der Rückkehr aus dem Urlaub festgestellt hatte, daß sie schwanger war, hätte sie das Kind ohne zu Zögern abtreiben lassen sollen. Sie hätte einen Schlußstrich unter diese Affäre mit einem verheirateten Mann ziehen müssen und ihr Leben so leben, wie ihre Vergangenheit es ihr angeraten hatte – allein und ohne Kinder, in Frieden und mit den sich allmählich erschöpfenden Auswüchsen des Zorns und der Wut, die nun, seit sie erwachsen war, für Außenstehende vielleicht keine Gefahr mehr darstellten, aber dennoch, so fürchtete sie, an dieses Kind weitergegeben worden waren.

Das Baby im Schlafzimmer setzte für einen Augenblick sein unerhörtes Gebrüll aus, um
Atem schöpfen zu können und in dieser plötzlich einsetzenden Stille knallte ein Zweig gegen die Fensterscheibe des Wohnzimmers und ließ Elisabeth zusammenfahren. Es hatte laut wie ein Pistolenschuß geklungen. Sie stand vom Boden auf, verwischte Tränen und Makeup um ihre Augen und sah, daß das Stück Himmel über dem Viertel, das sie durch die Tür gerade noch sehen konnte, sich in einen dunklen, bedrohlichen Wirbel regenschwerer Wolken verwandelt hatte, die dem jenseitigen Horizont zujagten.

Sie bemerkte ebenfalls, daß die Zweige des Baumes, der auf der Straßenseite neben dem Haus in die Höhe wuchs, sich wie in einem Krampf schüttelten und junges Blattgrün verlor, das in einem steten hellen Regen nach unten auf die Straße fiel - Irgendwo dort draußen über dem Fluß mußte ein gewaltiges Luftloch entstanden sein, dessen Vakuum die Mittagsstille in stürmischen Böen davonriß.

Elisabeth zuckte erneut zusammen, als die Macht des heranziehenden Sturms mit einem Mal gegen die geschlossenen Fenster drückte und das Glas hörbar im Rahmen knacken ließ.
Ein Windbrausen wie ein vorbeifahrender Güterzug war zu hören und die Außentemperatur fiel schlagartig um einige Grad ab während sich Kondenswasser an der oberen Front der Fensterscheiben sammelte.

Angespannt trat sie an das riesige Wohnzimmerfenster heran, preßte die Hände flach an das Glas und ihre Finger zuckten überrascht unter der Eiseskälte des Materials. Von dort aus blickte sie hinunter auf die verlassene Straße, in deren Rinnsteine das frischabgerissene Laub und kleinere Astwedel von Koniferen wie durch unsichtbare Hände emporgeschaufelt und über den menschenleeren Platz vor dem Haus verteilt wurden.

Die Wolken aus dem Westen hatten sich mittlerweile wie in einem sonderbaren Sturzflug dem Erdboden genähert und erzeugten die Illusion, fast mit Händen greifbar zu sein.
Unvermittelt fielen ihr die Ohren zu und der veränderte Luftdruck schmerzte in ihrem Innenohr. Sie schluckte und versuchte, den plötzlichen Überdruck damit auszugleichen, und im selben Augenblick setzte das Gebrüll ihrer Tochter im Schlafzimmer wieder ein, nach der kurzen Ruhepause noch lauter und durchdringender als zuvor.
Einen Augenblick lang überlagerte das Schreien eine einzelne, heftige Bewegung in ihrem Inneren, ein Gefühl, als würde ihr schwindelig werden, als wäre die Desorientierung eine Antwort auf all die Energie, die sich dort draußen zu stauen begann und bereit war, nach allen Seiten hin auszubrechen.

Während sie noch immer mit dem Schwindelgefühl in ihrem Kopf zu kämpfen hatte und sie Halt suchend gegen die eiskalte Fensterscheibe sank, sah sie, wie die Luft sich unter ihr auf den noch warmen Straßen niederschlug und Nebelfetzen vom Asphalt aufzusteigen begannen wie Geister aus ihrem Grab.
Die Schwaden drehten sich träge um die eigene Achse und sammelte Staub und Dreckpartikel vom Boden auf und kehrte sie beiseite, sauberer als es je ein Straßenkehrer geschafft hätte – Dünne blankgefegte Schneisen entstanden so auf der Straße und überkreuzten sich zuweilen in irrsinnig gewundenen Bahnen wie ausgekratzte Kufenspuren von Schlittschuhläufern auf dem Eis.

Weiter unten, an der Kreuzung von Brücken- und Frankstraße, an der weitläufige Vorgärten den Häusern ein gewichtiges Aussehen gaben und Garagen und Auffahrten in die aufgeschütteten Hänge unterhalb der teuren Neubauten führten, sah sie Frauen mit wehenden Haaren und Sommerkleidern hastig Sonnensegel herabziehen und ausgestellte Markisen an die Wände zurückdrehen und sich schräg gegen den heranziehenden Sturm stemmen. Die heftiger werdenden Winde nahmen in den breiten Straßen Anlauf und krachten wie überschnelle aber rücksichtslose Sprinter gegen Häuserwände und Glasscheiben, gegen Menschen und sorgfältig geschnittene Tujahecken an den Grundstücksgrenzen, und brachten die gebogenen Straßenlaternen davor in starke Schwingungen.

Elisabeth hielt nach den ersten Blitzen am Horizont Ausschau.
Sie tat es automatisch.
Und ebenso zwangsläufig erinnerte sie sich daran, daß Ihr Vater Gewitter und die Stürme, die von Süden herauf über die Berge gezogen waren, ihretwegen gehaßt und gefürchtet hatte.

Nur das gehässige Gerede von Nachbarn hatten sie als Kind darüber aufgeklärt, was sie für ihr Leben zu erwarten hatte - Niemand sonst, weder Vater noch Mutter hatte in ihrer Gegenwart jemals ein Wort über ihre Großmutter Eugenia verloren, niemals hatte jemand auf dem alten Friedhof ihr mittlerweile in die Erde eingesunkenes Grab besucht, das so weit weg vom Kirchportal gelegen hatte und ganz von Efeu überwuchert gewesen war.
Eingegraben im Heuschober, ihrem Lieblingsplatz nach der Sommerernte, hatte sie anhören müssen, wie Valeria Täufner, die Frau des Dorfbäckers, mit ihrer dicken Schwester Rosemarie über ihre Familie hergezogen hatte, während sie unter ihr die Kühe gemolken und die frische Milch aus Tonkrügen getrunken hatten.
Mit roten Ohren und atemlos von Spannung hatte sie die Geschichten gehört, wie Eugenia als Kind wohl den Sturm, der im Frühjahr über die Berge kam und große Schäden anrichten konnte, herbeigerufen und die Blitze wie ein menschlicher Magnet angezogen hatte. Diese Blitze waren knapp vor ihr harmlos in den Boden gefahren und hatten dabei aber einige Kühe umgebracht, die zum Weiden auf der Koppel standen.
Wie das Mädchen damals während eines schlimmen Schneesturms im Januar aus dem aufgehackten Eis des Weihers ein totes Tier gezogen hatte, rotmetallisch geschuppt und groß wie ein Hofhund mit goldfarbenen Augen und schwarzer Zunge - nicht von dieser Welt, sondern von Jenseits, wo immer dies auch gelegen war. Man hatte den Kadaver eilig mit Petroleum übergossen und verbrannt, und das was übrig geblieben war, in den Weiher zurückgeworfen.
Und wie Eugenia, die man zehn Jahre im Haus gehalten und ihr den Freigang verwehrt hatte, plötzlich mit Elisabeths Vater Jonas schwanger gewesen war – man hatte den Hofknecht im Verdacht, der zusah, daß er aus der Gegend verschwand, bevor ihm jemand den Schädel einschlagen konnte - und daß der Junge zur allgemeinen Erleichterung keine Spur von Extravaganz aufwies und niemals Grund hatte, sich in einen Sturm hinauszustellen und in ihm zu tanzen, wie es seine Mutter getan hatte.
Eugenia hatte ihren Sohn früh verlassen, als sie kaum zwanzig Jahre alt gewesen war,.
Eines Morgens war sie mit Rauhreif bedeckt und mit hartgefrorenen Fleisch tot in ihrer Kammer gefunden worden, die Hände bis zu den Ellenbogen im soliden Holz des Bodens versenkt - als wäre dessen harte Struktur vorübergehend davongeflossen und wäre nach ihrem Tod in feinen Wellen wieder erstarrt - den Rumpf und die Beine noch auf ihrer Bettstatt liegend, den Kopf so tief gesenkt, als hätte sie ein wichtiges Detail dort unter ihr im Holz erspäht, das ihre ganze Aufmerksamkeit und das Ende ihres Leben erfordert hatte.
Eine Schüssel Wasser war neben ihr umgestossen worden, die Flüssigkeit im großen Kreisrund neben den Armen gefroren.
Als man die Bodenbretter herausgesägt und hochgenommen hatte, hatte es sich herausgestellt, daß dort, wo die Arme am Holz endeten, sich keine Fortsetzung von menschlichem Gewebe unterhalb des Einschlußes mehr fand - Es schien, als hätten Hände und Unterarme der jungen Frau nie existiert, so glatt und so selbstverständlich verschlossen war die Amputation der Gliedmaßen.
Mit diesem nicht zu leugnendes Zeugnis ihrer Andersseins wurde sie so heimlich und überaus schnell begraben, daß es fast an an Panik grenzte. Nicht daß es ohne Drohung gegen den Dorfpfarrer gegangen wäre, der ein abergläubischer Mensch gewesen war und ihr ein christliches Begräbnis nur zu gerne verweigert hätte.
Noch Jahre später sah man ihn jeden Morgen um ihr Grab herumgehen, als prüfe er die Erde um den Grabstein auf Risse und Anzeichen von außerordentlichen Störungen im Erdreich und es hatte einer großzügigen Spende an die Kirche bedurft, damit Jonas, Eugenias Sohn, zur Firmung zugelassen worden war und es damit seine Ordnung hatte, daß der Bub ein Teil der Gemeinde werden konnte – und damit ein Teil des Diesseits, in dem Eugenias Erblast ihm wohl nichts mehr anhaben konnte.

Als Elisabeth fast vierunddreißig Jahre später geboren wurde, hatte man in der Gemeinde die Geschichten um ihre Großmutter beinahe schon vergessen gehabt – nur ihr Vater hatte ihr von Geburt an diesen Makel unterstellt, ahnend, daß gerade die Mädchen seiner Familie wohl anfälliger waren für Eugenias Wahn. Ihre Mutter Marie, die anfangs als Zugezogene so gar nichts mit dem Aberglauben der hiesigen Bevölkerung anfangen konnte, hatte er mit allerlei Geschichten und Befürchtungen allmählich auf seine Seite gezogen und auch ihr ein notwendiges Mißtrauen gegenüber der Tochter beigebracht.

Elisabeth lehnte erneut die Stirn gegen das kalte Glas der Fenster, die rotgeweinten Augen schmerzten unter dem Druck, der dahinter lauerte. Tief in ihrem Schädel herrschte das Wundsein zu vieler vergossener Tränen. Unter den fast geschlossenen Augenlidern beobachtete sie die Wolken, die sich mit gelben Streifen an den Rändern mit dem restlichen Grau des Regens vermischten und wie ein schmutziges Gemenge alter Farbreste in einem Eimer verrührt wurden.
` Kommt zu mir ´dachte sie
Es war in ihr, noch immer. Würde immer in ihr sein – die Erinnerung und das Echo von Macht, die sich von Zorn aufstacheln ließ und die so verführerisch warm in ihr ruhte.

Und obwohl es schon so lange her war, erinnerte sie sich daran, daß ihr Vater sie nach ihrem vierten Geburtstag bei einem drohenden Sturm jedes Mal in den muffigen Keller unter dem Haupthaus geführt und dort eingesperrt hatte, unübersehbar wütend über die Gewalt des Himmels und dessen bösen Versprechen, aber auch blaß vor Angst.
Und von dort aus, aus dem kleinen vergitterten Loch, das unter den Wurzeln eines Haselstrauches durch die Steinmauer des Kellers ein klein wenig Licht in den Abgrund hinabzwang, hatte sie Ausblick auf den verbrannten und nunmehr abgesägten Stumpf des Ahornbaumes an der Straßenseite des Gemüsegartens gehabt, den ihr Urgroßvater noch gepflanzt hatte – das erste Opfer ihrer Begabung für Trotz und Zorn, diesem unheilvollen Duo, mit dem der Teufel selbst sie gefüttert hatte, wie ihre Eltern behauptet hatten.

Eine einzige Ohrfeige, vom Vater die verdiente Strafe dafür, daß sie ihr neues Sommerkleidchen mit Kirschsaft bekleckert hatte, hatte an diesem Tag dieses Talent offengelegt -
Diese erste Erinnerung an Macht und Angst klebte wie ein einzelnes Bild im Album ihrer frühen Kindheitserinnerungen zwischen den schwarzen Seiten all der Dinge, die sie vergessen und verdrängt hatte – nun erinnerte sie sich erneut an das reine Gefühl plötzlichen Schmerzes aus dem Nirgendwo, ein Widerhall ihrer brennenden Wange, die bereits von kullernden Tränen gekühlt worden war. Sie erinnerte sich an die Hitze, für die sie noch keine Worte gefunden hatte, die irgendwo in ihr, sei es in Bauch oder Hirn, geboren worden war, ein kleines, reißendes Bündel Energie, das aus dem buchstäblichen Nichts Schreckliches hinter sich herzog wie ein Dompteur einen wütenden Tiger an der Leine.

Vor ihren Kinderaugen hatte sich damals das Sonnenlicht im Garten in Schatten und scharfen Kontrast verwandelt, alle gerade noch lebendigen Farben in das tiefe Schwarzweiß eines unvermittelt aufziehenden Sturms über die Hügelkette vor den fernen, weißgeschmolzenen Kanten der Berge. Der Wind hatte sich über den grasbewachsenen Senken zu Böen gesammelt und sich dann ganz abrupt zu einem wilden Tosen in den Baumwipfeln jenseits der Straße gesteigert – hin zu ihr, die im Zentrum stand und gleichzeitig vor Entzücken und Angst lachte und weinte.

Gleich der erste Blitz aus dem Durcheinander von Wind und Regen, der plötzlich wie aus Eimern gegossen zu Boden prasselte, war in den Ahorn gefahren und hatte ihn von der Krone bis hinab zum Erdreich gespalten. Die Explosion von Hitze und Holz hatte Elisabeth schlicht von den Beinen geholt. Dreckverschmiert und nun vor Angst schreiend, hatte sie in ihrem nun schlammverschmierten Sommerkleid auf dem Bauch gelegen und zugesehen, wie ihr Vater die Mutter durch die dichten Regenschleier ins Haus zurücktrieb, in wenigen Sekunden bis auf die Haut durchnäßt und in seiner Furcht fast wie wahnsinnig.

Ein zweiter Blitz, so schnell und heiß wie ein zorniger Gedanke, war über Elisabeth hinweggefegt, die ihn bereits aus dem Dunkel der Wolken heranrasen gefühlt hatte, und hatte das Haus an der Kaminverblendung getroffen, die aus altem, dunklen Kupfer gefertigt war, und eine Kaskade aus Flammen und Funken ins aufgerissene Dachgebälk gejagt. Nur der starke Regen hatte verhindert, daß die Flammen um sich gegriffen und auch das darunterliegende Stockwerk erfasst hatten.

Ein dritter Blitzschlag war in die rauchenden Überreste des Ahorns gefahren, der bereits zur Seite gesunken in der Umzäunung des Gartens hing und diese nahezu zu Boden gedrückt hatte, und hatte ihn nun endgültig in Brand gesteckt. Dank des niederprasselnden Regens war auch dieses Feuer schnell wieder erloschen, und das nächste, woran sich Elisabeth erinnerte, war, daß jemand sie am Arm aus dem Schlamm emporgezerrt und ihr brutal den Mund zugehalten hatte, damit sie nicht mehr schreien konnte. Ihr Vater hatte sie ins Haus zurückgetragen, grob bis zur Gewalttätigkeit – er hatte sie heftig in ihr Bettchen gesetzt, die Augen weit offen vor Furcht und Zorn, und mit einer Geste seiner Hand, die sowohl ein beschwichtigendes Streicheln als auch einen Schlag angedeutet hatte, hatte er ihr schließlich stumm den Rücken gekehrt, wohl darauf hoffend, daß sie verstanden hatte und nun aufhören würde, zu weinen und damit ihren Zorn in den Griff bekam.

Während draußen das Gewitter allmählich tatsächlich an Gewalt verloren hatte und das laute Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben herabgedämpft wurde zu einem leisen, fast beruhigendem Klopfen, hatte ihre Mutter schließlich das Kinderzimmer betreten und ihr stumm und ohne sie anzusehen das klitschnasse, dreckverschmierte Sommerkleidchen ausgezogen.
In ein großes Badetuch gewickelt, hatte sich Elisabeth, die mit einem heftigen Schluckauf zu kämpfen hatte, genauso still unter die Bettdecke verkrochen und war bald darauf eingeschlafen, das heiße Gesichtchen gegen das kühle Laken gepreßt.
Sie hatte nicht mehr mitbekommen, daß ein wenig später ihr Vater leise zu ihr ins Zimmer getreten war, daß er sie lange Zeit betrachtet hatte, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, noch immer einen Ausdruck des hilflosen Schreckens im Gesicht, der niemals wieder ganz daraus verschwinden sollte.
Ihre Mutter hatte in den Türrahmen gelehnt auf ihn gewartet, gefaßt und mit dem Schlimmsten rechnend. Als er sich dann vom Bett seiner Tochter abgewandt hatte, den Kopf so schlaff auf die Brust gesunken, als habe er eine Niederlage akzeptiert, hatte sie nur die Tür hinter ihm ins Schloß gezogen, sanft, aber ohne sich noch einmal nach ihrer Tochter umzudrehen.

Seit diesem Tag hatte sich die Welt für das Mädchen verändert. Ihre Familie, selbst die Cousins und Cousinen, die Großtanten und Neffen, die nicht in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten, hielten nun unwillkürlich Abstand zu ihr und gingen ihr aus dem Weg. Gepräche verstummten, wenn sie vorüberging, Augen folgten ihr aufmerksam und erschienen manchmal bedrohlich ausdruckslos. Die Zuneigung ihrer Eltern war wie erloschen, heruntergebrannt zu einem Haufen Asche von betrogenen Hoffnungen – und jeder weitere Sturm, jedes weitere Gewitter, das über den Hof ihrer Familie tobte und Schaden anrichtete, erstickte ein klein wenig mehr von der ursprünglichen Geduld und Liebe, die man ihr gegenüber aufgebracht hatte.

Und all dem hatte sie geglaubt, ungestraft den Rücken kehren zu können. Es war eine solch dumme Idee, eine so sinnlose Hoffnung, wie sie nun einsehen mußte.

Im Hier und Jetzt entstand vor Elisabeths Augen tatsächlich ein Blitz jenseits des hohen Kirchturms, der sich im Westen aus dem Häusermeer erhob, eine weißblaue, hundertfach gegabelte Forke von unbeherrschbarer Energie, die genau auf sie zuzurasen schien und ihr die feinen Haare an den Unterarmen und im Nacken aufrichtete. Ein Frösteln und ein Schauer des Entzückens lief durch ihren Körper, der Druck im Magen baute sich auf, dehnte sich auf Brust und Nacken aus. Ihre Hände waren unwillkürlich geöffnet, zu einem Kelch gewölbt, eine vage Form der Erwartung.

Sie erinnerte sich daran, daß während eines strengen Winters, in dem sie mehr Zeit als jemals zuvor im eisigkalten Keller verbringen mußte, das Wasser unterhalb eines tropfenden Wasserhahns zu kleinen quecksilberfarbenen Lachen von Spiegeln auf dem Betonboden gefroren war, während sie der Kälte zusah, wie sie verschwenderisch Eisblumen über die Lehmwände und die Holzbalken des alten Kellers warf und ihren Atem zu frostigen Wolken vor ihrem Mund formte.
Ein Schneesturm, der das Vieh in den Ställen erfrieren zu lassen drohte, hatte sie wie so oft schon wieder hier herunter verbannt. Die Wände des Bauernhauses erzitterten unter der Wucht der Schneemassen, die mit dem Südwind daherkamen. Ausserhalb des Hauses waren Garten und Straße ein Meer von reinem, tödlichen Weiß, wer auch immer sich dort hinausgewagt hätte, wäre verloren gewesen. Und doch hatte Elisabeth das dringende Gefühl, gerade dort hinaus gerufen zu werden. Im Heulen des Windes hatte sie noch einen anderen Laut vernommen, selbst hier unten, tief im Boden versteckt.
Ein Singen rief sie. Und es war nicht recht, daß sie diesem Singen nicht antworten konnte – daß sie hier unten gefangen gehalten wurde.

An diesem Tag hatte sie die Hände an die Kellertür gelegt und sie nach außen gedrückt, als wären Riegel und Angeln aus Rost und nicht aus schwerem Eisen.
Sie war nach oben die Treppe hinaufgestiegen, war ruhig an der starrenden Gestalt ihres Vaters vorbei durch die Haustür getreten, die ebenfalls keinen Widerstand geleistet hatte, die wenigen Stufen auf den mit Schnee zugewehten Gartenweg hinab, den Schrei ihres Vaters im Rücken, der endgültig seiner Furcht nachgegeben hatte und auf der Schwelle zusammengesunken sitzen geblieben war, während sie durch den heulenden Sturm hindurchgegangen war, die Hände zu einem Kelch geformt, die Haare im Nu weiß und schwer von Schnee.
Der Sturm hatte das Dach der Scheune heruntergerissen, Ziegel für Ziegel in alle vier Rich-tungen zerstreut, ein tödlicher Wirbel um sie, der alles zusammendrosch, was ihm in den Weg geriet. Sie war inmitten dieser kreiselnden Zerstörung zur Zisterne unter dem Hauptfallrohr des Hausdaches getreten und hatte dort den schweren Holzdeckel heruntergerissen, denn von dort kam das leise Singen, daß sie aus dem Keller herausgeführt hatte.

Das schwarze Wasser, das dort so lange ohne Sonnenlicht eingesperrt gewesen war, hatte sich darin aufgebäumt, als hätte es jemand mit einem schweren Stock geschlagen. Dort hatte sie sich auf den eisigen Boden niedergekniet, nun naß bis auf die Knochen, die Haare kalt und in eisigen Spitzen steifgefroren.

Mit einer Hand am Boden abgestützt, hatte sie sich über das wütende Wasser gebeugt und sich nicht einmal gewundert, daß dort nicht einmal ihr wenn auch in den Wirbeln zerissenes Spiegelbild zu finden gewesen war.
Als sie dann ihre Hand in die eisige Kälte des Wassers versenkt hatte, und noch tiefer zum Wasserspiegel hinabgesunken war, bis ihr Ellenbogen darin untertauchte und dann ihr gan-zer Oberkörper und ihr Gesicht sich so dicht über den heftigen Wellenbewegungen befunden hatte, daß ihre Augen bis auf den Grund hinabsehen konnten, war ein Teil ihres Bewußtseins, das der Vernunft verschrieben war, vor dem zurückgezuckt, was da aus der Tiefe von ihr Besitz zu ergreifen gedroht hatte.

Ein breiter Schwall heißen Wasser war aus der Dunkelheit heraus nach oben gedrungen und hatte ihren Arm verbrüht, eine gleißende Helligkeit hatte sich aus den Lichtreflexionen nach oben zu ihr Bahn gebrochen, hatte flüssiges Feuer hinaus in die Luft gesprüht, die sie keuchend einatmete, hatte Hitze in das noch immer heftiger werdenden Schneetreiben verschwendet und die Synthetikfasern ihres Pullovers an Kragenaussschnitt und Saum wie ein sich versteifendes Kreppband gekräuselt.

Ihre von der plötzlichen Hitze tauben Fingerspitzen hatten sich aus ihrer Haut gepellt, ihr Arm in dem flüssigem Feuer gebrannt, während das Fleisch ihres Körpers von ihrer untergetauchten Hand ausgehend unvermittelt an Konstanz verloren hatte und durchscheinend geworden war. Der Schmerz, der diesem Verschwinden folgte, hatte all ihre Nervenenden in Arm und Oberkörper erfaßt, wie tausende von Nadeln in jeden Quadratzentimeter Fleisch und Haut gestochen und sie zum Schreien gebracht – bis endlich ein stilles, glattes Loch, ein dunkles Auge das siedendheißen Wasser durchgebrochen und einen Durchgang in die Tiefe hinab geschaffen hatte, kaum zwanzig Zentimeter breit.

Noch immer war ihr Kopf dicht über dem Wasseroberfläche gehangen und sie hatte in diese Tiefe hinab gestarrt, die geheimnisvoll und wunderbar zu ihr hinaufgestrahlt hatte.
Ein blaubewölkter Mond hatte dort unten in der Schwebe gehangen.
Ein Wald dichter Kronen von geschuppten Bäumen hatte sich ihm entgegengereckt, Dämmerung hatte über dem Himmel gelegen und am Rand der Szene hatte sich ein großer, roter Aschehaufen in ihr Sichtfeld geschoben und erst einige atemlose Sekunden später hatte sie begriffen, daß dies eine Sonne gewesen sein mußte, die sich über den bewaldeten Horizont erhoben hatte, riesig und alt und fast erloschen.

Ein scharfer Stich der Sehnsucht hatte den Schmerz ihres Körpers aus der Wahrnehmung verdrängt, für einen Moment lang war sie versucht gewesen, sich dort durch dieses unmöglich enge Loch in die Tiefe zu winden, hin zu den dämmrigen Wäldern, hin zu diesem wasserblauen Mond und der alten Sonne – da war sie zurückgerissen worden, hinaus in den eisigen Sturm, der noch immer über das Land jagte und den Hausgarten in eine Eiswüste verwandelt hatte. Der Geruch verbrannter Haare hatte in ihre Nase gestochen und ihr Arm sich angefühlt, als wolle er ihr wie ein lästiges Überbleibsel vom Rest ihres Körper abfallen.

Ihr Vater hatte sie ins Haus zurückgeschleift und sie in die Badewanne gepackt und so lange warmes Wasser über sie laufen lassen, bis ihre Zähne aufgehört hatten, aufeinanderzuschlagen und sie den Tränen der Enttäuschung und des Entsetzens freien Lauf gelassen hatte.
Sie war betrogen worden – was auch immer dort draußen nach ihr gerufen hatte, hatte sie haben, hatte sie aufnehmen wollen. Wer war ihr Vater, wer waren ihre Eltern, daß sie sie von ihrer Bestimmung, von dieser geheimnisvollen und doch so vertraut wirkenden Welt, die sie dort unten in der Zisterne entdeckt hatte, fernzuhalten gewagt hatten ?

Ihre Wut über diesen Verlust hatte sich seitdem in ihrem Herzen eingenistet gehabt, hatte sie durch die Jugendjahre begleitet und je mehr die Narben an ihrem Arm verblasst waren, desdo tiefer hatte sich ihr Groll gegen die Eltern, gegen ihren Vater in ihr Gemüt gegraben.
Ihr Verstand sagte ihr zwar, daß sie an diesem Tag im Schneesturm dabei gewesen war, zu sterben – ihre stärker gewordene Intuition dagegen beharrte darauf, daß sie vielleicht auch durch den scheinbaren Tod dorthin hätte gelangen können – Intakt im Geist und unbeschadet in ihrer Seele, auf der neuen Welt ausgestattet mit einem Körper, der vielleicht nicht so vergänglich und schwach gewesen wäre, wie ihr Körper in diesem Sein. – War nicht auch ihre Großmutter Eugenia dort in ihrer Kammer gestorben und lebte dennoch vielleicht jetzt unter dem Himmel mit dem blauen Mond und der großen roten Sonne ?

Vor dem Apartmenthaus fuhr ein weiterer Blitz zu Boden und spaltete die alte Pappel, die nur etwa fünfzig Meter vom Gebäude entfernt an einem kleinen Spielplatz stand, von der Krone bis hinab ins Wurzelwerk. Flammen schlugen einen Augenblick aus der aufgerissenen Rinde und hinterließen schwarze Rußflecken auf dem Gras und den freigelegten Wurzeln und Elisabeth war noch im Moment des Einschlages vom Fenster zurückgewichen und hatte sich mit klopfenden Herzen zur Wohnzimmertür geflüchtet.

Melissas Gebrüll war erneut verstummt, zeitgleich mit dem Einschlag des Blitztes in den Baum.

Der folgende Donner erschütterte das Haus bin in die Fundamente.
Elisabeth warf einen Blick hinein in das Schlafzimmer. In dem allmählich verklingenden Grollen des Donners nahm sie ein leises Wimmern aus der Tragetasche wahr und blieb unentschlossen mitten im Raum stehen, ihre Hände verkrampften sich zu Fäusten.

Sie wandte den Kopf, als eine erneute Windboe schwer gegen die geschlossenen Fenster drückte und die bleigrauen Regenwolken das letzte Licht der Sonne in ein Unterwasser-Flaschengrün verwandelte und so einen fahlen Schimmer auf ihr ohnehin blasses Gesicht warf.
Der Himmel über dem Viertel war bereit für eine erneute explosive Entladung von Elektrizität.
Melissas Geschrei steigerte sich in ein unkindliches Heulen, ein langgezogener schauriger Laut, der Elisabeth eine Gänsehaut am ganzen Körper verursachte.

Noch ehe sie noch einmal Luft holen konnte, war der Blitz heran, fuhr grell und heiß und blendend erneut in die bereits erschlagene Pinie und sengte den Boden um Umkreis von fünf Metern um den Baum bis auf den letzten Grashalm ab.

Melissas Heulen fing von neuem an und verstummte nach wenigen Augenblicken abermals und der heranrasende Donner, ein peitschender Schlag, so laut, daß es Elisabeth beinahe niederdrückte, fuhr am Haus vorbei wie ein niedersausender Hammer und ein leichter Schleier von herabrieselnden Deckenputz puderte ihre Haare und die Schultern. Furcht und Erwartung gleichermaßen schoß wie ein Flaschenkorken ihre Kehle empor bis in die Haarspitzen.

`Melissa zieht den Sturm an, wie ich es damals tat´, dachte sie und drückte sich bebend ge-gen die stete Wohnzimmerwand. ` Sie ist von meinen Blut...durch und durch meine Tochter. Sie wird die Blitze zu sich lenken, ohne zu wissen, was sie da tut, immer dichter, immer gewaltiger - sie werden sie einkesseln, das Gewitter wird nicht vorüberziehen, bis der Sturm den Weg für sie öffnen und sie holen wird. Und ich werde hier zurückbleiben und sterben, wie mein Vater gestorben ist...´

Ihre Knie gaben nach und mit einem erstickten Seufzen sank sie, den Rücken noch immer an die Wand gedrückt langsam zu Boden.

Ihr Vater war einige Jahre nach dem Erscheinen des blauen Mondes am Grund der Zisterne in einem ihrer Gewitter ums Leben gekommen.
Er hatte sich während des Unwetters verirrt und war wohl an einer abschüssigen Stelle nahe der Talbrücke in den Fluß gestürzt und ertrunken, wie man ihr gesagt hatte.
Doch man hatte sich geweigert, den Leichnam für die Familie und die Freunde aufzubahren, man hatte den Sarg schon vor dem Kirchgang fest verschlossen und Elisabeth hatte vermutet, daß ihr Vater keinesfalls durch das Wasser sondern vielmehr durch die Hitze eines Blitzes zu Tode gekommen war, der ihn auf dem Nachhauseweg überrascht hatte.
Ihre Trauer war gering. Obwohl sie wußte, daß es ungehörig war, so zu empfinden, konnte sie keinen Kummer in sich aufspüren, der groß genug war, um sie zu Tränen zu rühren.
So war sie am Tag des Begräbnisses kalt und bestimmt neben ihrer Mutter an das Grab geschritten, hatte Erde und Blumen auf den abgesenkten Sarg geworfen und die Beileidsbekundungen der Trauergäste entgegengenommen, ohne den Verlust zu fühlen, der sie heimgesucht hatte.

Es war ihr Vater gewesen, der ihre Verbindung zu dieser Anderswelt zerrissen hatte, damals inmitten des Schneesturms. Seit diesem Tag war es ihr nicht mehr möglich gewesen, das Singen zu hören, das sie damals aufgefordert hatte, hinüberzuwechseln, ihr Sein abzulegen und etwas Neues und vielleicht Großartiges zu werden. All die Stürme, all die Blitze, all die Unwetter, die sie seitdem erlebt hatte, wollten ihr keinen weiteren Zugang zu dieser alten Welt erlauben. Es war, als ob ihre Zunge das süßeste, das entzückendste Stück Dasein gekostet hätte und man ihr diese Süße und das Entzücken entrissen hätte, bevor sie wirklich einen Bissen davon hatte nehmen können.

`Mein eigenes Kind wird mich töten, so wie ich meinen Vater getötet habe...´ dachte Elisabeth. Natürlich war es ihre Schuld gewesen, auch wenn niemand je mit Worten Anklage gegen sie erhoben hatte – Ihre Mutter hatte es gewußt und sie mit stummer Konsequenz aus ihrem Leben ausgeschlossen. Selbst fünfzehn Jahre später antwortete sie noch immer nicht auf die Briefe, die Elisabeth ihr einmal im Monat schrieb und legte den Telefonhörer sanft aber unnachgiebig zurück auf die Gabel, wenn die Tochter es zweimal im Jahr, an Weihnachten und an ihrem Geburtstag wagte, sie ihre Stimme hören zu lassen.
Ihre Familie hatte mit dem Tod des Vaters aufgehört zu existieren.

Kalter Schweiß stand mit eine Mal auf Elisabeths Stirn.
Von ihrem Sitzplatz an der kalten Wand aus konnte er nur noch einen schmalen Saum vom Sturmhimmel ausmachen, einen unwirklichen Wirbel von Licht und Dunkelheit, der sich schraubengleich dem Haus zu nähern schien. Ein blubbernder Laut drang aus dem Schlafzimmer an Elisabeths Ohr und jagte Spannung in ihre zitternden Muskeln - Melissa schöpfte Luft, um ihr Verlangen nach Sturm und Tod erneut anzustimmen.

Elisabeth kam auf die Beine, ihre Glieder reagierten schneller als ihr Gehirn einen klaren Gedanken hätte fassen können.
Dieses Geschrei mußte aufhören, irgendwie...Melissa würde diesen Weg nicht gehen. Nicht, wenn er ihrer Mutter verwehrt war.
Im nächsten Augenblick hatte sie dem tobenden Unwetter vor dem Fenster den Rücken zu-gewandt und das angrenzende Schlafzimmer betreten.
Mit laut klopfenden Herzen trat sie an die Kommode und das Kind heran, einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen.

`Halt den Mund, Melissa...Halt jetzt endlich den Mund...´ dachte sie, und dann stand sie vor der Tragetasche auf der Kommode und streckte die Hand nach der dicken Überdecke aus und zog sie mit einem Ruck beiseite.

Melissa blickte sie an.
Ihre hellen, grünen Augen starrten in ihre dunklen, und winzige spöttische Goldschimmer tanzten um ihre Pupillen. Sie hatte den Mund zu einer kleinen Grimasse verzogen und erst nach einem Augenblick der Fassungslosigkeit erkannte Elisabeth, daß Melissa sie anlächelte und an den zarten Wangen hüben und drüben kleine Grübchen entstanden.

Elisabeth legte einen ausgestreckten Finger auf diesen kleinen Mund und ihre Berührung verursachte ein erneutes Lächeln und dunkle, zarte Augenbrauen wölbten sich wie fragend an ihrer hellen Stirn.
" Sie hat die Augen ihres Großvaters..." dachte Elisabeth.

Ein undefinierbares Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Schlafzimmerfenster, an dem feuchte, vom Sturm losgerissene Baumblätter klebten, und durch den Schmutz hindurch konnte sie erkennen, daß die heranjagenden Wolken endlich ihren Ballast abwarfen, und ein Vorhang aus Wasser sich auf das Stadtviertel herabsenkte, grün und fast schaumig wie eine von See hereinbrechende Stumflut.

Im Nu hatten die Wassermassen die Rinnsteine überflutet und gurgelten pfeilschnell an den Gullydeckel der Kanalisation vorbei und noch ehe man es recht begreifen konnte, waren die umliegenden Straßen und Plätze fast kniehoch voll Wasser und die ersten Keller und tiefer gelegene Parterre-Wohnungen liefen voll und die Flut ruinierte dort Teppiche, Laminatböden und abgestellte Möbel.

Melissa verzog ihr Gesicht und ihre Stirn legte sich in unwillige Falten.

Elisabeth nahm den Finger von ihrem Mund und hielt den Atem an.

"Du wirst nicht schreien...Ich weiß, daß dein Herz nach dem Aufruhr dort draußen verlangt, daß die Energie dort deine kleine Seele zum singen bringt, aber du wirst mit deinem Gebrüll keine Blitze auf mich lenken, du wirst diese Welt, die dich rufen will, nicht ohne mich betreten...Also pssst mein Schatz, meine kleine Hexe...mein Leben ist mehr wert als deine Liebe zu diesem Sturm." sagte sie flüsternd zu ihrer Tochter.

Die Warnung half nicht. Melissas erneut einsetzendes Weinen strich wie eine Säge über die hartgespannten Saiten von Elisabeths Nerven und jagte ihren Puls in die Höhe. Die hellen Augen fest auf die ihren gerichtet, schrie Melissa ihren Untergang herbei, dessen war Elisabeth sich sicher. Lag sicher und warm in der Ummantelung ihres provisorischen Bettes und alarmierte Energien, denen ein altgewordenes Sturmmädchen, das sich dennoch noch immer nach dem blauen Mond und den dunklen Wäldern sehnte, nicht mehr viel entgegensetzen konnte.

Panisch flog ihr Kopf in die Höhe und herum. So lag das weiter entfernt gelegene Ende der Straße und die noch immer rauchende Krone der toten Pinie im Park genau ín ihrem Blickfeld.

Blaues Geflacker halbherziger Entladungen züngelten über den Wolkenhorizont und formierten sich träge und gemächlich zu einem immer stärker anwachsenden Strang von tödlicher Elektrizität, der sich unsichtbar und deshalb umso gefährlicher an sie heranpirschte, mit ihr Versteck spielte und sein wahres Dämonengesicht nur aus den Augenwinkeln blinzelnd zu erkennen gab, wie die Frau wußte.

Der kurzer Seitenarm eines Blitzes tastete prüfend in die Richtung des Hauses, in dem sie sich befand und Elisabeths Gedanken rasten mit ihr davon, überschlugen sich und entglitten ihr wie das unwiderrufliche Ende eines glitschig gewordenen Rettungsseils - und so packte sie die Überdecke, die über das Baby ausgebreitet lag und presste sie auf Melissas kleines Gesicht und auf das Geschrei, daß nicht abbrechen wollte und dämpfte die Laute herunter auf ein erträgliches Maß und doch ließ sie nicht von ihr ab und drückte und presste weiter das Weinen und Wimmern in den Mund des Babys zurück. Ein Schauder der Erleichterung und der Enttäuschung rann ihren Rücken herab, als schließlich kein Laut mehr zu hören war - als das Baby endlich aufhörte, sich zu bewegen und die Kakophonie ihres herbeigerufenen Untergangs verstummte.

Ihre Hände und die Arme schmerzten vor Anstrengung, als sie schließlich ihren Griff um die Decke lockerte und sich von der Kommode wegdrehte, einen halb furchtsamen, halb triumphierenden Blick hinaus aus dem Fenster warf - und ein befreiender tiefer Atemzug war halb in ihren Lungen, als endlich der zuvor beschworene Dämon zuschlug und eine Feuerlanze aus den ineinander verknoteten Wolken hervorschoß und das Glas und die Rahmen der großen Fensterfront mit einem ohrenbetäubenden Splittern zerbrach.

Wütendes Feuer zuckte in ihr Gesicht und verbrannte Haut und Augenbrauen, und Elisabeth flog zurück, ein menschlicher Fleischball, der gegen die hintere Wand des Schlafzimmers geschleudert wurde und dort zusammenbrach, vor Hitze und Agonie rauchend und halb besinnungslos.

Haltlose Energiewirbel, mit dem Blitz in den Raum gerissen, schmetterten wie wildgewordenen Derwische gegen Decke und Fußboden, die Kommode und die halboffene Zimmertür, die kreischend aus ihren Angeln gerissen wurde und schwelend ins Ankleidezimmer brach.

Elisabeth öffnete wider alle Vernunft die Augen und stellte fest, daß sie ihr einen Streich spielen mußten - Der Raum um sie schwamm in einem Meer der Unschärfe, als sei er bis hinauf zur Decke mit Wasser aufgefüllt worden. Der Spiegel über der Kommode hatte seine Kontur verloren und drehte und wand sich wie flüssiges, rinnendes Blei. Das zersplitterte untere Ende der Kommode zuckte über dem ohnehin zerstörten Fußboden und wirbelte Holzspäne in alle Richtungen. Durch das zersörte Fensterfront droschen Wassermassen herein, sammelten sich in einem quecksilberhellen Strudel, zogen Möbelstücke und die Tragetasche mit dem verstummten Baby hin zu ihrer Mitte.

Blut aus der aufgeschlitzten Stirn, in der fingerkuppenlange Splitter des explodierten Fens-terglases steckten, lief Elisabeth über die Brauen und verklebten ihr die Lider. Als sie die Hand hob, um ihre Augen sauberzuwischen, blieb sie an einem dünnen scharfen Kunststoffspan hängen, der ihr aus der linken Wange ragte und ihr darunterliegendes Zahnfleisch und gesplitterte Zähne entblößte. Zum eigenen Erstaunen verspürte sie keinen Schmerz, als sie das lange Ende mit zwei Fingern packte und den Dorn aus ihrem Kiefer riß. Als er das blutverschmierte Plastik vor ihre unscharfen Augen hob, geriet dabei der Wasserstrudel erneut in ihr Blickfeld ... und jedes weitere Denken und Handeln gefror wie im Schock.

Die hereinbrechende Wasserflut dehnte sich empor, bauschte sich auf wie eine übergroße Blase, schob einen reflektierenden Fortsatz hinaus in die Luft, tastend und langsam.

Der Wurm aus Quecksilber eroberte sich einen Weg hinaus in ihre Welt. Er spaltete Oberfläche auf wie platzende Haut, schmiegte sie um die Kreation von Fingern, Nägeln, Knöcheln wie ein enger zurückgeschobener Handschuh. Ein Handgelenk und die Kontur eines schlanken Unterarms entglitt der Fessel der nassen Reflexion, schob zuerst einen Ellenbogen und dann eine bloße Schulter hinaus und darüber entwarf sich die Form eines Kopfes und die harten Linien eines Gesichtschädels. Und wie zwei emailierte Schmuckstücke tauchten Augen aus diesem tobenden See auf, offen, übergroß und bar jeglichen Mitgefühls.

Elisabeth starrte genau in diese Augen, die sich aus dem Wasser einen Weg hinausbahnten und sie ihrerseits unverwandt anblickten. Speichel und Blut, die Elisabeth in ihrer Erstarrung nicht hinunterschlucken konnte, floß aus ihrem Mund und an ihrem Kinn herab.

Das knochenweiße Gesicht mit eigentümlich dünnen Lippen und einer scharf gezeichnete Nase in der Mitte fast totenbleicher Wangenknochen schob sich vorwärts, brach vollends aus der Flüssigkeit heraus und schimmerte hell und vollkommen in der Dunkelheit des Sturms, die sich über den Raum gesenkt hatte.

Die zuvor aus dem Nichts geborene Hand schob sich schlangengleich an der sich drehenden Tragetasche des Babys entlang, glitt über das glatte Material, zuckte unter der Berührung, fuhr empor an den Rand des Kopfteils und packte zu. Und dann teilten sich diese seltsam dünnen Lippen und ein einziges Wort wurde ausgesprochen :

" Mein..."

Die hellen Emailaugen glänzten in kaum beherrschten Zorn und eine einzige energische Bewegung zog die Babytasche in das Auge des Strudels und verschluckte sie - ein leckgeschlagenes Boot, das in der Mitte des Aufruhrs unterging.
Die Hand und das Gesicht wurden hineingezogen in die schillernde Oberfläche der Wasserblase, die sich kurz darauf ebenfalls geräuschlos und sachte in den sich drehenden Wirbeln verlor - und mit ihnen verging der Beweis der unirdischen Anwesenheit. Nur der Sturm blieb zurück, der unablässig Regen mit den Windböen durch die zerbrochene Fensterfront in den Raum drosch und ihn weiterhin unter Wasser setzte.

Und Elisabeth begann zu schreien, als würden Ketten ihr die Laute aus der Kehle ziehen - unerbittlich und unaufhaltsam. Und sie schrie noch immer, als aufgeschreckte Nachbarn und die Polizei endlich die Wohnungstür aufbrachen und in das Zimmer stürzten und sie so fanden: Ein Bündel aus Angst und Wut und einer Sehnsucht, die für immer ungestillt bleiben würde. Ein Stück Mensch, das blutend und fast besinnungslos in der Ecke lag und nach dem verlorenen blauen Mond und seinem verlorenen Baby schrie, das trotz intensiver Suche nirgends in der Wohnung oder im Haus zu finden war.

Draußen trocknete der abgeflaute Wind bereits die Wasserlachen auf den Straßen und nur einige Minuten später brach die gelbe Sonne durch die zerfetzten und zerflederten Wolken, und Flecken blauen Himmels warfen ungerührt Farbe und Licht auf das Weiß und Schwarz des Viertels.

 

Hallo Nianta,

willkommen auf KG.de

Leider hab ich nichts gutes zu deiner Geschichte zu sagen. Nach etwa fünf Absätzen hab ich aufgehört zu lesen.
Du beschreibst die Szene sehr ausführlich, aus meiner Sicht zu ausführlich. Vielleicht wolltest du damit die Verzweiflung deiner Hauptperson darstellen, die ja von ihrem Geliebten mit dem Kind sitzen gelassen wurde.
Aber ich habe darauf gewartet, das die Geschichte endlich in Gang kommt, und das tat sie nicht.

Sorry, das ich nix gutes dazu schreiben konnte.

Gruß
Shinji

 

@Shinji-Chibi

Danke für deine Kritik.
Wie du bemerkt hast ist meine Geschichte etwas länger als eine klassische Kurzgeschichte, deshalb hab ich mir am Anfang Zeit gelassen, die Atmosphäre und die Situation zu schildern, in der sich meine Protagonistin befindet. Vielleicht ist es wirklich etwas zu langwierig, aber ich denke, manchmal muß man auch mit etwas Geduld an die Dinge herangehen - heutzutage soll alles schnell gehen - schnelle Geschichte - schnelle Erklärung - schnelle Pointe. Eigentlich wollte ich das so nicht. Trotzdem danke für deinen Post. Gruß

 

Hallo Nianta!

Willkommen bei uns hier.

Ich mach mir mal Notizen und schreib auf, wenn mir etwas gefällt, oder nicht.

Das schreiende Kind lag verlassen in einer viel zu großen Babytragetasche auf der Kommode aus Ahornholz mit dem großen, vergoldeten Spiegel an der Wand, direkt neben der Eingangstür des Schlafzimmers.

Spätestens nach "Babytragetasche" bin ich als Leser überfordert. Ich möchte eigentlich nicht den Satz auseinanderbauen und analysieren, ich möchte ihn lesen und einfach verstehen. Du hast sehr viele Details in dem Satz. Ich denke, du wolltest damit die Umgebung schildern, in der alles stattfindet.

Das ist jedoch langweilig. Der erste Satz muss Neugier wecken, muss mich als Leser davon überzeugen, dass es schön sein wird, oder interessant, oder lehrreich, oder was auch immer, wenn ich die Geschichte lese. Und vor allem, und das ist der Punkt, er muss sich damit gegen all die anderen Texte durchsetzen, die ja nur einen Klick von deinem weg sind.

Vielleicht klingt das für dich jetzt elitär oder so. Wenn du einen Text für nur eine Person schreibst, kannst du experimentieren. Wenn dein Text aber nur einer unter vielen ist, muss er sich irgendwie auch durchsetzen können - und da mir der Titel gefallen hat, war ich neugierig. Aber nach dem ersten Satz wars schon wieder verflogen.

Kurz: Machs kürzer.

Nach dem ersten Absatz schreit ein Kind, aber leider geht das, was passiert völlig unter, weil du es in einem Nebensatz versteckst. Überleg dir Folgendes: Wenn du in einen Raum gehst und es schreit ein Kind, was würdest du zuerst wahrnehmen? Den Milchrest in der Flasche? Dass der Spiegel vergoldet ist? Nein, du würdest das Kind sehen, hören, wie es schreit.

Wenn ich eine Geschichte lese, finde ich mich besser zurecht, wenn ich die Sache so erzählt bekomme, wie sie meiner Wahrnehmung entsprechen. Das heißt: Erst den Schrei, dann das Kind, dann die leere Flasche, also den Grund für das Schreien. Spätestens dann würde ich etwas tun wollen, hingehen, das Kind beruhigen, oder Hilfe holen.

Passiert in der Geschichte allerdings etwas Unwichtiges, für mich Nebensächliches, springe ich über die Zeilen und suche danach, wann denn der spannende Teil weitergeht - was bedeutet, dass die Arbeit, die du dir mit der Schilderung gemacht hast, zumindest für mich umsonst war.

Und dann erzählst du. Und erzählst. Und erzählst. Und ich mag diese Frau nicht, die ihr Kind schreien lässt, und das wiederum lässt mir keine Ruhe, weil ich wissen will, was mit dem Kind passiert. Es ist mir in dem Augenblick gleich, was in ihrer Vergangenheit passiert ist, damit überfliege ich hastig den gesamten Text, nur um dann zu erfahren, dass das Kind wohl stirbt.

Insgesamt fand ich es nicht toll. Was war genau deine Intention bei dem Text? Was wolltest du mitteilen?

Schöne Grüße,

yours

 

Hallo yours truly,

erstmal danke, daß du mir eine Kritik verpaßt hast ;)

Entschuldige bitte, daß ich mich noch nicht so gut in der Zitierfunktion auskenne, ich setze hier folgend mal deine Einwände in Anführungstriche, um sie zu zitieren.

"Spätestens nach "Babytragetasche" bin ich als Leser überfordert."
Wow, ich wußte nicht, daß ich so langweilig schreibe, aber vielleicht hast du recht und ich habe gerade den Text ein wenig bearbeitet und den Eingangssatz gekürzt.

"Wenn ich eine Geschichte lese, finde ich mich besser zurecht, wenn ich die Sache so erzählt bekomme, wie sie meiner Wahrnehmung entsprechen. Das heißt: Erst den Schrei, dann das Kind, dann die leere Flasche, also den Grund für das Schreien. Spätestens dann würde ich etwas tun wollen, hingehen, das Kind beruhigen, oder Hilfe holen."

Okay, das wäre ein mögliches Szenario. Aber was ist, wenn ich als sagen wir mal "Geist" in diese Szene schwebe und eben nicht alles schön der Reihenfolge nach wahrnehmen kann oder will - vielleicht geht mir das Geschrei des Babys noch nicht einmal auf die Nerven, vielleicht nehme ich als Leser den Standpunkt der Mutter ein, die diesem Geschrei unbeeindruckt zuhören kann, weil etwas ganz anderes ihre Gedanken beschäftigt.

"Passiert in der Geschichte allerdings etwas Unwichtiges, für mich Nebensächliches, springe ich über die Zeilen und suche danach, wann denn der spannende Teil weitergeht - was bedeutet, dass die Arbeit, die du dir mit der Schilderung gemacht hast, zumindest für mich umsonst war."

Okay, das mag jeder beim Lesen so halten, wie er mag, aber warum fragst du mich dann ein paar Zeilen später:

"Insgesamt fand ich es nicht toll. Was war genau deine Intention bei dem Text? Was wolltest du mitteilen?"

Genau das stand eigentlich in dem Text, den du nur überflogen hast.:D

Meine Hauptfigur hat das Problem, daß sie etwas in der weiblichen Linie ihre Familie geerbt hat, was man als übersinnliches Phänomen bezeichnen könnte.
Sie kann durch ihre Gefühle, meistens ist es Zorn oder Übermut, Stürme und Gewitter hereinbrechen lassen - und sie ist nicht glücklich mit dieser Gabe, weil sie so großes Leid über ihre Familie gebracht hat.
Gleichzeitig wird sie von ihrer Fähigkeit aber sehr in Versuchung geführt.
Sie ist etwas Außergewöhnliches und hätte einmal als Kind vielleicht die Möglichkeit gehabt, in ein Dasein überzuwechseln, in eine fremde Welt hinüberzugehen, die sie absolut fasziniert hatte - und sie wurde von ihrem Vater daran gehindert.
Nun hat sie sich also in einen Mann verliebt, hat also eine Tochter geboren, hat lange Zeit geglaubt, durch ein normal gelebtes Leben ein normaler Mensch werden zu können und die Bürde und die Lust dieses Wissens losgeworden zu sein, da beweist ihr dieses kleine Kind, daß sie sich geirrt hat und nun vielleicht zu alt ist, um diese Fähigkeit überhaupt noch anzuwenden und daß es ihre Tochter sein wird, die in diese andere, faszinierende Welt hinüberwechseln kann. Und da regt sich nicht nur Eifersucht, sondern Angst, allein zurückgelassen zu werden...

...den Rest mußt du schon noch selbst lesen, wenn du nochmal dazu kommen magst. :)

 

Hallo Nianta!

Okay, das wäre ein mögliches Szenario. Aber was ist, wenn ich als sagen wir mal "Geist" in diese Szene schwebe und eben nicht alles schön der Reihenfolge nach wahrnehmen kann oder will - vielleicht geht mir das Geschrei des Babys noch nicht einmal auf die Nerven, vielleicht nehme ich als Leser den Standpunkt der Mutter ein, die diesem Geschrei unbeeindruckt zuhören kann, weil etwas ganz anderes ihre Gedanken beschäftigt.

Das ist ein interessanter Punkt. Denn du hast Recht, zu Beginn weiß ich nicht, wer denn da eigentlich erzählt. Womöglich war es auch das, was mir den Zugang zum Text erschwert hat.

Okay, das mag jeder beim Lesen so halten, wie er mag, aber warum fragst du mich dann ein paar Zeilen später:

"Insgesamt fand ich es nicht toll. Was war genau deine Intention bei dem Text? Was wolltest du mitteilen?"

Genau das stand eigentlich in dem Text, den du nur überflogen hast.


Nein, ich hab ihn schon gelesen. Zugegebenermaßen zwar recht hastig, aber ich habe ihn gelesen.

Nunja, mich hat es eben gelangweilt, weil es nur eine Ansammlung von Erinnerungen ist, die nacherzählt werden. Hin und wieder passiert dann auch etwas, aber mir eben zuwenig.

Hm. Vielleicht funktioniert die Geschichte ja in anderen Köpfen, bei mir hat sie es eben nicht.

Schöne Grüße,

yours

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo nochmal,

liest du eigentlich King ? ;)
Ich frage deshalb, weil du schreibst:

"Nunja, mich hat es eben gelangweilt, weil es nur eine Ansammlung von Erinnerungen ist, die nacherzählt werden. Hin und wieder passiert dann auch etwas, aber mir eben zuwenig."

Es gibt etliche Autoren, die ganze Kapitel nur aus Erinnerungen aufbauen, da ist fast nichts an "Action", die du, glaube ich wenigstens, bei mir wesentlich vermisst.

"Hm. Vielleicht funktioniert die Geschichte ja in anderen Köpfen, bei mir hat sie es eben nicht. "

:D Na, ich hoffe doch...noch.

Gruß

 

Hallo Nianta,

ich schließe mich der Meinung von yours an. Die Idee deiner Geschichte finde ich sehr gut. Nur verliert sie sich ein bischen in dem Wortdschungel deiner Sätze.

Der Wurm aus Quecksilber eroberte sich einen Weg hinaus in ihre Welt, spaltete Oberfläche auf wie platzende Haut, schmiegte sie um die Kreation von Fingern, Nägeln, Knöcheln wie ein enger zurückgeschobener Handschuh, ein Handgelenk und die Kontur eines schlanken Unterarms entglitt der Fessel der nassen Reflexion, schob einen Ellenbogen und dann eine bloße Schulter hinaus und darüber entwarf sich die Form eines Kopfes und die harten Linien eines Gesichtschädels, und wie zwei emailierte Schmuckstücke tauchten Augen auf aus diesem tobenden See, offen, übergroß und bar jeglichen Mitgefühls.

Eigentliche schöne Bilder und Metaphern, aber erwürgt von dieser Satzschlange.

Die Bilder, die du im Kopf hast beim Schreiben, kann ich schon nachvollziehen, aber ich persönlich muss sie erst einmal mühsam aus den Sätzen herausmeißeln. Und das hindert die Geschichte daran, zu funktionieren.

Es gibt etliche Autoren, die ganze Kapitel nur aus Erinnerungen aufbauen, da ist fast nichts an "Action", die du, glaube ich wenigstens, bei mir wesentlich vermisst.

Stimmt schon, aber diese Kapitel sind eingerahmt von anderen Kapiteln, und alle sind im Kontext des Romans in eine Handlung eingewoben, deshalb funktioniert es. Das hat auch nichts mit "schnelle Geschichte, schnelle Erklärung, schnelle Pointe" zu tun. Eine Kurzgeschichte (auch wenn sie mehrere Seiten lang ist) lebt vom schnellen Erzählen.

Ich hoffe, ich war nicht zu kritisch. :)

Lieben Gruß
Dave

 

Hallo Nianta,

ich schließe mich der Meinung von yours an. Die Idee deiner Geschichte finde ich sehr gut. Nur verliert sie sich ein bischen in dem Wortdschungel deiner Sätze.


Ja ich weiß, ich bin gut in diesen "Mörder"-Sätzen :D

Eigentliche schöne Bilder und Metaphern, aber erwürgt von dieser Satzschlange.

Die Bilder, die du im Kopf hast beim Schreiben, kann ich schon nachvollziehen, aber ich persönlich muss sie erst einmal mühsam aus den Sätzen herausmeißeln. Und das hindert die Geschichte daran, zu funktionieren.


Ich werde wahrscheinlich erst am Wochenende Zeit haben, diese "Meiselarbeiten" etwas weniger anstrengend zu machen - du hast ja recht, daß es nicht gerade einfach ist, wahrscheinlich laß ich mich zu sehr von der Bilderflut vor meinem inneren Auge mitreißen und finde dann keinen Punkt und kein Komma mehr. :dozey:

Stimmt schon, aber diese Kapitel sind eingerahmt von anderen Kapiteln, und alle sind im Kontext des Romans in eine Handlung eingewoben, deshalb funktioniert es. Das hat auch nichts mit "schnelle Geschichte, schnelle Erklärung, schnelle Pointe" zu tun. Eine Kurzgeschichte (auch wenn sie mehrere Seiten lang ist) lebt vom schnellen Erzählen.

Nun, ich möchte diese Geschichte nicht wegwerfen, nur weil zu wenig Schnelligkeit darin ist. Ich werde versuchen, sie ein bisschen zu beschleunigen, indem ich die ellenlangen Sätze bearbeite und sie etwas griffiger mache. Würde ich ich aber ganze Passagen über Bord werfen, wäre es in meinen Augen nicht mehr die Geschichte, die ich schreiben wollte.

Ich hoffe, ich war nicht zu kritisch.

Nö, vielen Dank daß du geschrieben hast. ;)

Gruß

 

Hallo nochmal.
Hab heute morgen versucht, die Geschichte ein wenig " unkomplizierter" zu machen. d.h. ich habe einige der besonders langen, ineinander verschachtelten Sätze auseinandergenommen und versucht, sie so verständlicher zu machen.
Hoffe, es hat was genutzt.
Wer mag kann mir auch eine inhaltliche Kritik zukommen lassen. Es schleichen sich gerne Fehler im logischen Gefüge einer Geschichte ein, als Autor hat man es da schwer, diese Brüche aufzuspüren, da ist es gut, wenn jemand die Sache quasi von außen betrachtet. ;)
Gruß

 

Hallo Nianta!

Verzeih, dass ich wieder mit Formalem komme.

Draußen im halbdunklen Flur, auf einem geschmiedeten Eisentischchen dicht an der Eingangstür, stapelten sich die Umschläge ungeöffneter Post und die sperrige Unordnung von einigen großformatigen Wochenmagazinen, die mit der ganzen Flut von Papier und Hochglanz über den Tischrand auf den Boden zu gleiten drohten.
An der Pinwand daneben klebten drei Post-it Zettel mit Telefonnummern und das einzelne Foto eines älteren, gutaussehenden Mannes, der barfuß in einem nassen Taucheranzug an einem steinigen Ufer irgendwo am Mittelmeer posierte.
Eine Widmung mit rotgelacktem Stift auf blauen Wassergrund verriet seinen Namen und seine Zuneigung: " Liebste Elisabeth: Für immer unser Sommer 2006. Ralph."

Versuche es doch einmal mit folgender Übung:

1. Nie mehr als zwei Adjektive in einem Satz.
2. Befindet sich in einem Satz mindestens ein Adjektiv, dürfen jeweils im Satz davor und danach keine sein.

Einfach mal ausprobieren und herumexperimentieren.

Schöne Grüße,

yours

 

Huhu Nianta,
da hier alle nur am Formalen rummeckern, werde ich mal ein bisschen inhaltlich. Ich hab deine Geschichte auf der Arbeit gelesen, als der Datenbankserver down war, ansonsten hätte ich sie so, wie sie in der Ursprungsform dastand, wohl nicht durchgestanden, aber ich wollte wissen, wie es weitergeht.
Die Eifersucht der Frau auf ihr Baby hast du mMn gut dargestellt, auch, wenn ich finde, dass die mütterlichen Gefühle dabei (zu) sehr in den Hintergrund treten. Ich bekomme mit, dass sie ihr Kind fürchtet, aber ich weiß nicht ganz, woher dieser Hass kommt, den sie empfindet, er ist etwas unvermittelt, vor allem, weil er vom Bild in meinem Kopf abweicht.
Thema Bild im Kopf/Adjektive: Wenn ich etwas bestimmtes lese, habe ich ein Bild davon im Kopf. Zum Beispiel (hier merkt man meine glückliche Kindheit), ich lese Mutter/Baby, stelle mir also eine harmonische, geborgene Atmosphäre vor. Ich lese "Eisentor" und sehe vor mir ein verrostetes Monstrum in irgendeiner efeuüberwucherten Backsteinmauer. Damit kannst du als Autor spielen, du musst die Adjektive und Beschreibungen an vielen Stellen gar nicht einbauen, nämlich da, wo du davon ausgehen kannst, dass der (geistig gesunde) Leser das entsprechende Bild schon im Kopf hat. Umschläge mit Post sind immer ungeöffnet, Taucheranzüge sind meistens nass etc. etc.

Der Plot hat mir gut gefallen, wenn er auch sehr sehr langsam in die Gänge kommt. Bevor ich erfahre, was an der Geschichte überhaupt der Kernpunkt ist, muss ich erstmal durch die gesamte gescheiterte Beziehung der Frau, an der - bis auf vage Andeutungen - überhaupt nichts Fantastisches ist. Vielleicht könntest du hier die Reihenfolge umkehren.

gruß

 

Hallo Nianta!

Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen, auch wegen Formulierungen von expressionistischer Ausdruckskraft wie zum Beispiel diese:

Die heftiger werdenden Winde nahmen in den breiten Straßen Anlauf und krachten wie überschnelle aber rücksichtslose Sprinter gegen Häuserwände und Glasscheiben, gegen Menschen und sorgfältig geschnittene Tujahecken an den Grundstücksgrenzen, und brachten die gebogenen Straßenlaternen davor in starke Schwingungen.

Diese Wut, die sich als Gewitter entlädt, ist ein Archetypus, das heißt, eine allen Menschen angeborene und mit starken Gefühlen wie Zerstörungslust und Angst verbundene Vorstellung. Die griechische Mythologie kennt den Gewittergott Zeus, der zerstörerische Blitze schleudert, wenn er zürnt. Auch sein Bruder Poseidon, der Gott des Meeres, zürnt oft und schleudert Blitze.
Sein Attribut ist der Dreizack, also eine Art Gabel oder Harpune, was zum Herrscher der Meere ja passt. Viele Altpilologen deuten seinen Dreizack aber auch als Blitzwaffe, da Blitze ja oft gezackt und gegabelt sind - daran musste ich denken, als ich deinen poetischen Vergleich eines Blitzes mit einer Forke las:

Im Hier und Jetzt entstand vor Elisabeths Augen tatsächlich ein Blitz jenseits des hohen Kirchturms, der sich im Westen aus dem Häusermeer erhob, eine weißblaue, hundertfach gegabelte Forke von unbeherrschbarer Energie, die genau auf sie zuzurasen schien

Elisabeth versucht, was ihr wohl vom Schicksal verwehrt ist: mit Ralph und dem Neugeborenen ein neues Leben zu beginnen und das Dämonische hinter sich zu lassen. Aber auf unheimliche Weise holt die Vergangenheit sie wieder ein: In ihrer bayerischen Heimat wendeten sich die Menschen von Elisabeth ab, weil sie ihnen unheimlich war, was ihre zerstörerischen Kräfte erst recht auf den Plan rief, später in Köln - das übrigens diese Tage auch in der Wirklichkeit von einer unheimlichen Katastrophe heimgesucht ist - kehrt die Zerstörungslust zurück, weil Ralph sich von ihr abwendet, und die Zerstörungslust lebt weiter in dem Neugeborenen, vom dem sich die Mutter abwendet - ein Fluch wird von Generation zu Generation vererbt wie bei den alten Griechen.

Grüße gerthans

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @vita

danke für deine Kritik.
Ich habe mit Absicht diese Reihenfolge der Erzählung gewählt, weil sich für den Leser wie für mich selbst eine Zwangsläufigkeit ergibt, mit der Elisabeth handelt. Sie hat eigentlich keine Wahl - sie wurde mit dem Makel einer Grenzgängerin geboren wie ihre Großmutter. Sie erliegt der gleichen Versuchung, der Sehnsucht nach einer ganz anderen Existenz sogar zweifach:

Erstens durch die beinahe normale Menschenbeziehung zu Ralph Bauer, zweitens durch die noch immer unwiderstehliche Anziehungskraft eines einzigen Augenblicks, in der sie diese andere Welt im Zisternenabgrund wahrzunehmen imstande war.

Wenn ich schreibe kann ich nicht unbedingt mit dem Höhepunkt einer Geschichte anfangen und sie dann nur noch durch Rückblicke erklären, da fehlt mir dann jede Lust dazu. Ich entdecke die Geschichte im Laufe des Schreibens und versuche, so wenig wie möglich eine bestimmte Richtung zu erzwingen. Das Ende einer Geschichte kann für mich genauso überraschend sein wie für den Leser.

Alles Gute


@ yours truly

Hallo nochmal,

danke für deinen Tipp, aber:

Es ist ein halbdunkler Flur, weil eben halbdunkle Flure ein ganz anderes Flair haben als helle, luftige Korridore.

Ein Eisentischchen kann eine grobe Angelegenheit sein, aber dieses ist geschmiedet, was von Handwerkskunst spricht und nicht von Bauhaus.

ungeöffnete Post - so viel Post auf dem Tisch und niemand hatte die Zeit oder die Lust, sie zu öffnen. Anderes ist wichtiger, das ist der Sachverhalt, den ich dabei im Kopf habe.

Sperrige Unordnung - das Eisentischchen würde liebend gerne in die Knie gehen bei all diesem Ballast, den ihm Elisabeth zumutet.

Großformatig - ok. könnte man weglassen

ganze Flut - find ich jetzt nicht soooo schlimm. ;)

einzelnes Foto - da ist eine ganze korkige Pinnwand, nur drei Post-it Zettel kleben dran und sonst nur ein einzelnes Foto, das besondere " Ding " das dort hängt, weil sich Elisabeth an diesen Menschen immerzu erinnern will - Für einige Monate ist er ja ihr Rettungsanker und das Versprechen auf Normalität.

älteren, gutaussehenden - nun ja, er ist nicht jung und häßlich...
barfuß - nee, er ist kein Weichei und trägt keine Fußlinge zu den Flossen
nassen - und auch kein Poser, der nur so tut, als ob er im Wasser war
steinigen - wow, barfuß auf Steine, nee, wirklich kein Weichei, eher der verkappte Macho

rotgelackt - rot ist die Liebe ( Kardinalstugend )

blauer Wassergrund - blau ist der Glaube ( Kardinalstugend ) , und es ist nicht die stahlgraue Nordsee, an der dieses Foto geschossen wurde ;)

Yours ich kann nicht anders, ich liebe Adjektive. Der eine Autor benutzt sie spärlich oder gar nicht, der andere ist verschwenderisch im Umgang - ich gehöre, wie ich zugebe, zur letzten Kategorie. :D

Alles Gute

@gerthans

Merci. Du hast die Intension der Geschichte absolut verstanden. Ich bin hin und weg....:D
Wie du ganz richtig erwähnst liebe ich den expressionistischen Schreibstil - manchmal übertreibe ich vielleicht auch dabei, aber als Autor versuche ich ja das " Traumgebilde " meiner Geschichte so deutlich wie möglich wiederzugeben.
Es gibt Autoren, die so gut sind, daß sie für eine bestimmtes Bild nur ein einziges, universell verständliches Wort benutzen und dem Leser viel mehr Freiheit in der Interpretation dieses Wortes lassen - Leider bin ich davon noch weit entfernt. Wenn ich den Interpretationsspielraum meiner Worte zu weit fasse, merke ich im Nachhinein, wenn ich meine Leser zum Inhalt des Textes frage, daß meine Geschichte in deren Köpfen in zwei oder mehreren Fassungen existieren könnte.

Nochmals vielen Dank für deine Kritik.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Nianta,

fand die Geschichte alles in Allem gut.

Leider muss ich den anderen Kritikern jedoch Recht geben, auch wenn du deine Schreibweise bis aufs Blut zu verteidigen scheinst ;)

Ich habe mich selbst mehrmals dabei ertappt ganze Absätze zu überspringen, Sätze, die ich nicht sofort verstanden habe, weil sie zu viel Information enthalten, nicht erneut zu lesen weil ein Großteil der Information unwichtig ist. Mittendrin überlegte ich sogar die Seite einfach zuzumachen und die KG sein zu lassen, habe dann aber doch weitergemacht indem ich den nächsten "wichtigen" Absatz gesucht habe.

Du willst die Geschichte und die Bilder in deinem Kopf möglichst genau und maßstabsgetreu an den Leser bringen und genau das strengt an.

Ich habe also einige Passagen überflogen, überlesen oder gar wissentlich ausgelassen und trotzdem den kompletten Inhalt, die Pointe und den Gedanken hinter den Bildern verstanden - das ist wohl ein Zeichen dafür, das man vieles weglassen kann ohne die Geschichte schlecht zu machen.

Ich selbst habe lange Zeit den selben Fehler gemacht, mir die Kritik zu Herzen genommen und muss sagen, es hat wirklich geholfen und die KGs um einiges "erträglicher" gemacht.

Dennoch fand ich Idee und Geschichte an sich super und hoffe, dass nichts davon autobiografischen Ursprung hat =P

 

Hallo Nevermore,

entschuldige daß ich jetzt erst auf deine Kritik antworte, ich war diese Woche ziemlich oft unterwegs. :)

Schön daß du die Geschichte verstanden hast auch ohne sie ganz zu lesen - ich versuche das immer zu vermeiden und meine Ungeduld bis zum Ende einer Geschichte zu zügeln - immerhin verpaßt man manchmal eine Bedeutungsvariante, die vom Autor absichtlich plaziert wurde. Wenn ich einen Satz nicht auf Anhieb verstehe, lese ich ihn halt nochmal - wo liegt das Problem ? Ich lese ja und bin nicht auf der Flucht :D
Aber jeder Leser ist halt auch anders, das ist schon klar. Nix für ungut.

Also: Ich werde an dieser Geschichte nun nichts mehr ändern.
Und ich werde versuchen mir die Kritiken für die nächste Kurzgeschichte zu Herzen zu nehmen - ob ich damit Erfolg habe, weiß ich noch nicht. ;) Man wird sehen.

Danke an alle, die hier gelesen und geschrieben haben.
Gruss und schönes Wochenende

 

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