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Ein Traum

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17.08.2004
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Ein Traum

Die Bois de Bologne liegt in einem dunklen Grau, als Luchée die gepflasterte Straße entlang geht. Aus den Bars und Etablissements dringt Musik an sein Ohr und lachende Menschen kommen vorbei.
Er ist in einem Traum gefangen. Es kann nur ein Traum sein, denn das Lachen ist schon lange gestorben an diesem kalten Oktobertag 1916. Wie verirrte Gespenster betrachtet er seine Mitmenschen und nimmt sie dennoch kaum war.
Er bleibt kurz stehen, greift in die Manteltasche seines abgewetzten, blauen Uniformmantels und holt einen schmutzigen Zettel hervor. 'Telegramm an Capitaine Antoine Luchée -stop- 12. Infanteriedivision, Regiment 44a -stop- Besprechung Dienstag, 16. Oktober 20 Uhr -stop- Rue de Bon Marché.“
Ein Passant hat ihm den Weg zur Rue de Bon Marché beschrieben. Es ist ein Kinderspiel, sich in einer Stadt zurechtzufinden, die noch makellos erscheint, in der keine brennenden Trümmer drohend über ihm aufragen und in der keine Trichter mit stinkendem Wasser seinen Weg versperren.

Er kommt an einem hohen, roten Ziegelsteingebäude an. Er betritt es und wird von einem Offizier in Empfang genommen.
„Capitaine“, sagt der Offizier und Antoine salutiert. „Ihr Einsatzbefehl!“ Der Offizier reicht ihm den Umschlag, die Unterhaltung ist schon beendet, noch bevor sie eigentlich begonnen hat. Antoine nimmt den grauen Umschlag und tritt aus dem Zimmer.
Er will den Umschlag nicht öffnen, einen kurzen Augenblick denkt er darüber nach, ihn einfach auf die Straße zu legen und still weiterzugehen. Immer weiter. Der Gedanke verfliegt wieder, er reißt den Umschlag auf und liest seinen Befehl.
„An: Regimentsführer 44a, Capitaine Antoine Luchée. Einsatzbefehl für den 17. Oktober 1916. Finden Sie sich mit den Resten ihres Regiments morgen um 0600 Uhr am Gare de l'Est ein. Transport nach Bar-Le-Duc. Den genauen Einsatzbefehl erhalten Sie von Général DuBoudaire vor Ort.“

Er geht zurück zum Hotel, in dem er und seine Mannschaft Quartier erhalten hatten. Sie werden nicht nach Verdun gehen wollen, dachte er. Aber Soldaten haben in diesem Krieg nichts mehr zu wollen. Sie haben zu gehorchen. Sie haben zu sterben. Froncois Mirande taucht vor ihm auf, sein zerschossener Körper, zerfetzt von den eigenen französischen Kugeln, abgefeuert von Henkern, führt einen dämonischen Tanz auf und die Worte 'No, no!' quellen lautlos aus ihm heraus.

Der Bahnhof liegt in trübem Nebel, der Morgen ist kalt. Er steigt in den Viehwaggon ein, Sitzplätze gibt es keine sie sitzen auf nassem Stroh. Seine Mannschaft, 35 Mann, folgt ihm ruhig. Es wird nicht mehr gesprochen. Luchée erhascht einen letzten Blick auf seinen Traum, dann wird die Tür geschlossen und der Zug setzt sich ruckend in Bewegung.

Drei Stunden später blendet das Licht die aussteigenden Soldaten. Luchée ruft einige Befehle und seine Soldaten marschieren los. An dem Ortsschild 'Bar-Le-Duc' beginnt es zu regnen, sie marschieren vorbei und Luchée weiss, dass es nun nicht mehr rückwärts geht – nur noch vorwärts.
Sie marschieren eine schmale, behelfsmäßige Straße entlang, die nur noch „la Route“ genannt wird, denn es ist die einzige Straße, die noch existiert. Es ist das einzige, was überhaupt noch besteht. Einzelne Skelette, ehemals Bäume, ragen aus der von Trichtern übersäten, stinkenden Landschaft hervor, wie Mahnmale eines riesigen Krebsgeschwürs.
Das Laufen fällt schwer, der Boden ist durch den anhaltenden Beschuß in Treibsand verwandelt worden. Soldaten kommen ihnen entgegen. Ihre einstmals blaue Uniform, die auch Luchée mit Stolz erhalten und getragen hatte (als der Tod noch nicht auf Europa herab regnete) war grau geworden und mit Dreck übersät. Die Soldaten erscheinen wie Wesen aus Lehm, die der kranken Erde entstiegen waren und nun auf den staubigen Landschaften wandelten.
Die Stille, die seit dem Marsch vom Bahnhof unter den Soldaten geherrscht hatte, wird nur unterbrochen von dem Geheul der endlosen Granaten, die jede Sekunde in die Gräben einschlagen.
Am Ende der „route“ stehen mehrere kleinere Holzbauten, die ringsum mit Sandsäcken umgeben sind. Luchée muss nun keine Befehle mehr geben, jeder weiß, was nun folgt.
Er betritt eines der Häuser, salutiert, wird empfangen und erhält von einem bärtigen Kommandeur seinen Befehl: „Sie gehen nach Vaux, Abschnitt 24, Sektor 8. Dort unterstützen sie die Truppen von Friand. Capitaine Clairmont wird sie mit seiner Mannschaft begleiten.“
Er verlässt das Haus, Clairmont geht ihm nach. Sie verlassen die Straße und letzte Zivilisation. Luchée war schon 1915 in Verdun, als die Deutschen ihren Großangriff begannen. Er kennt den Weg durch die Mondlandschaft.

Geduckt laufen sie durch die Gräben, die teils von ihnen, teils von den Deutschen errichtet worden waren und nun von ihren Leichen verwaltet werden. Sie halten ihren Blick immer gesengt, denn das Herausstrecken des Kopfes am Tage bedeutet den sicheren Tod. Sie kommen an einen Unterstand, der in einem, mehrere Meter tiefen, Krater eingerichtet worden ist und setzen sich in das brackige Wasser. Luchée wartet auf die Nacht, denn die Gräben sind hier zu Ende und der restliche Weg führt über das plane Gelände. Er richtet den Blick nach oben und in der Dämmerung sieht er die schwarzen Mauern von Fort Vaux.

Die Nacht bricht herein und ihr Marsch geht seinem Ende entgegen. Leichenteile liegen auf dem Erdboden – ein Arm, ein Bein, ein Torso. Niemand begräbt die Toten mehr. Luchée durchquert geduckt einen großen Krater, plötzlich rutscht ein Soldat von Clairmont aus und schlittert hinab. Er fällt leise platschend in das stinkende Wasser und geht unter. Zwei weitere Soldaten klettern hinterher, wütend schreit Clairmont Befehle. Die anderen rühren sich nicht. Als das Wasser, wild geworden durch die rudernden Bewegungen der drei Soldaten, wieder still ist, gehen sie weiter. Niemand begräbt die Toten mehr.

Nach einer Stunde kommen sie bei ihrem Abschnitt an. Sie beziehen ihre Stellung, Befehle werden erteilt und das Sterben geht weiter. Eine Granate schlägt vor Luchée ein, er wirft sich in den Dreck und presst sein Gesicht in den Lehm; als er wieder hochsieht, liegt ein Deutscher in einiger Entfernung vor ihm. Er kennt inzwischen die Farben der Uniformen und die Dienstgrade der Feinde. Die linke Hälfte des Schädels ist nicht mehr vorhanden, der Rest zerfressen von Maden. Er blickt ihn an. Das Pfeifen der Artillerie zwingt ihn wieder in den Dreck und nach weiteren Einschlägen ist der Deutsche verschwunden. Niemand begräbt die Toten mehr.
Die Einschläge der Granaten kommen ihrer Stellung bedrohlich näher. Sie wissen, das dies nun die Stunde ihres Todes ist. Sie beten noch schnell um ein rasches Ende und nach den nächsten Einschlägen rennen sie los. Es ist ein verzweifelter Lauf. Sie müssen die Krater erreichen, die vor ihnen liegen, damit sie nicht von den Granaten zerrissen werden. Maschinengewehrfeuer faucht ihnen entgegen und reißt Lücken in sie.
Luchée atmet schwer, als er durch den Schlamm watet. Eine Detonation reißt ihn von den Füßen, Dreck wirbelt um ihn herum auf. Als er die Augen wieder öffnet, liegt ein aufgerissener Körper neben dem Seinen. Er schiebt ihn mit den Füßen von sich und richtet sich wieder auf. Nur vorwärts geht es – nur vorwärts.
Er hört Schreie neben sich. Ein Soldat seiner Mannschaft hält sich den Bauch, zerfetzt von Kugeln, und Innereien quellen heraus. Nur vorwärts – immer nur vorwärts. Die Einschläge wühlen nun die Gräben hinter ihnen auf und sie springen in die Ausschachtungen vor ihnen. Luchée presst sich gegen die erdene Wand und zieht die Beine eng an sich. Er zittert.

Die ersten Strahlen des Morgens dringen durch die neblige Wand aus gesprengtem Stein und emporgeschleuderter Erde. Sie konnten noch zwei weitere Gräben nach vorne eilen, dann ging es zurück. Das Fort Vaux erstrahlt in morgendlichem Glanz, die Panzerplatten reflektieren das Licht und Luchée erinnert sich an seinen Traum, der nur wenige Stunden hinter ihm liegt.

 

Hi Malachy,

zunächst ein etwas verspätetes Willkommen auf kg.de oder zumindest in der Historik-Rubrik.
Erster Weltkrieg, Frankreich, Granaten, Dreck und Tote. So abgehackt wie mir diese Geddanken im Kopf geblieben sind, fühlte es sich auch an, deine Geschichte zu lesen.
Es ist ein sehr schwerer Stoff. Die Gedanken und Gefühle eines Soldaten zu beschreiben, der von einem der letzten idyllischen Orte in seiner bekannten Welt zu seiner letzten 'Schlacht' muss. Leider ist es dir mMn auch nicht besonders gut gelungen.
Wenn man der Geschichte noch ein paar Daten, Uhrzeiten beimischen würde, käme ein Artikel dabei heraus, wie er 1916 vielleicht in einer französischen Zeitung hätte erscheinen können.
Dein Prot bleibt farblos, tiefenlos, irgendwie charakterlos. Die Gründe hierfür liegen meiner Ansicht nach:
1. im Stil: du schreibst sehr kurze, abgehackte Sätze, die einen von einem Gedanken schnell zum nächsten treiben. Dieser Stil ist an manchen Stellen sicher angebracht, z.B. wenn der Soldat rennt, um den Granaten zu entgehen. Doch an vielen anderen Stellen, an denen er über den Krieg nachdenkt, sich nach seinem Traum oder dem idyllischen Städtchen sehnt, überlegt, ob er den Befehl nicht einfach ungeöffnet lassen sollte, an all diesen Stellen sollten die Gefühle, die den Prot bewegen (Ängste, Verzweiflung, Wut, Hass, Resignation, Trauer...) viel genauer beschrieben werden. Der Leser müsste sich auf die geschundene Seele einlassen können, die Grauen des Krieges miterleben können. Zumindest ich konnte das nicht, eben weil es sehr nüchtern geschrieben ist.
Außerdem beginnen sehr viele Sätze mit dem Subjekt des Satzes, was ebenfalls einen sehr eintönigen, kurzatmigen Stil zur Folge hat.
2. in der Darstellung des Protagonisten: einiges hab ich schon vorher angesprochen. Der Charakter bleibt sang- und klanglos. Irgendein Soldat, der zwar einen Namen hat, aber ansonsten weiß man nicht mehr als von all den hundertausend Soldaten, die ebenfalls im Krieg fallen oder über die er in der Schlacht hinwegrennt. Es bleibt zu nüchtern.
3. in der Handlung: an sich gefällt es mir gut, einen kleinen Ausschnitt eines großen Ereignisses zu sehen. Dadurch könnten viele Einzelheiten, wichtige Details, die etwas so schreckliches wie einen Krieg näher bringen, realer machen, erzählt werden. Es ist ein kurzer, klarer Handlungsstrang. Finde ich genau richtig, aber leider nicht 'fertig' erzählt. Ich konnte das Feuer nicht riechen, den Dreck nicht fühlen, die Angst nicht spüren, die Toten nicht sehen.

Du zeigst an einigen Stellen, dass du wirklich einen guten Stil hast und auch ein Gefühl für die passenden Bilder. Das erste Bild, zum Beispiel:

Er ist in einem Traum gefangen. Es kann nur ein Traum sein, denn das Lachen ist schon lange gestorben an diesem kalten Oktobertag 1916.
Leider hast du es nur noch kurz aufgegriffen als sich der Zug in Bewegung setzt, dann nicht mehr.

Ich weiß, Historik-Geschichten sind schwer zu schreiben. Eine Gradwanderung zwischen Erzählen, Erfinden und Fakten. Leider kommt bei dir für mich das Erzählerische eindeutig zu kurz. Der Teil, der die Geschichte zu einer mitreißenden Geschichte, einer berührenden Geschichte machen würde, fehlt.

Viele Grüße und ich hoffe auf bald in Historik,
Kitana. :)

 

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