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Eine alte Geschichte
Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen andern erwählt;
Der andre liebt eine andre,
Und hat sich mit dieser vermählt.
Das Mädchen heiratet aus Ärger
Den ersten besten Mann,
Der ihr in den Weg gelaufen;
Der Jüngling ist übel dran.
Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.
Text by Heinrich Heine (1797-1856)
Warum, so fragte sich Teresa jetzt, hatte sie Sebastian nicht einfach an der Tür abgefertigt? Nun stand er unschlüssig in ihrem Jungmädchenzimmer herum und blickte wartend aus dem Fenster.
Dasselbe Fenster übrigens, aus welchem ihre Freundin Melanie vor nicht allzu langer Zeit einen Blick geworfen und: „Oh, Gott, da kommt er schon wieder!“, gerufen hatte. Mit einem: „Halte ihn ein paar Minuten auf!“, war sie zum Hinterausgang davongelaufen. Es machte ihr Spaß, daran bestand kein Zweifel. Sebastian lief Melanie schon seit zwei Wochen wie ein liebeskranker Dackel hinterher und obwohl ihr seine Gefühle mehr oder weniger gleichgültig waren, genoss sie diese inständige Verehrung doch zu sehr, um ganz darauf zu verzichten. Seitdem spielte sie Katz und Maus mit ihm und Teresa spielte die gute Freundin mit den klugen Ratschlägen, wie man den lästigen Verehrer wieder loswerden konnte. Auch wenn ihr dabei bald das Herz brach.
„Wann kommt sie denn?“, fragte Sebastian jetzt.
„Bald“, erwiderte Teresa vage. Sein weinroter Schal war ihm lässig um den Hals geschlungen, seine kurzen braunen Locken leicht zerzaust. Wusste er eigentlich, wie gut er aussah? Ihre Mutter war auf sein Klingeln hin sofort neugierig aus der Küche gekommen und hatte Teresa hinter seinem Rücken ein Zeichen des Wohlwollens signalisiert. Eigentlich ein Grund, ihn sofort zu hassen. Nur, dass sie genau das eben nicht konnte.
Sein Blick fiel auf das Klavier. „Spiel doch mal was!“, sagte er abwesend.
Sie schob sich in die Nähe des Instruments und begann, in einem Notenheft zu blättern.
Mit der plötzlichen Aufforderung konfrontiert, hatte Teresa die Qual der Wahl. Was genau schwebte ihm denn vor? Ragtimes? Der Flohwalzer? Eine von Bachs wohltemperierten Fingerübungen?
Sie entschied sich für die Mondscheinsonate. Tragisch, schmachtend und beeindruckend.
Die ersten Takte schwebten leise und doch gewichtig durch das Zimmer. Sebastian sah stumm zum Fenster hinaus. Dann drehte er sich wieder um. „Schön“, kommentierte er und schaute sie das erste Mal richtig an.
„Ein Käffchen für den jungen Mann?“ Teresas Mutter platzte mit einem Tablett mitten in die Mondscheinidylle hinein. „Und vielleicht auch ein paar Kekse?“
„Mam!“ Teresa spürte, wie ihre Wangen anfingen zu brennen. War es immer noch illegal, die eigene Mutter zu erdrosseln?
„Nein, danke“, erwiderte Sebastian mechanisch und verrenkte sich den Hals, um auf die immer noch leere Straße zu blicken, wohl in der Hoffnung, Melanie möge sich an einem unbestimmten Punkt hinter den Mülltonnen materialisieren.
„Na, dann!“ Teresas Mutter zwinkerte ihrer Tochter komplizenhaft zu und verschwand wieder.
„Melanies Mutter hat gesagt, dass sie hier ist“, wandte sich Sebastian ratlos an Teresa. „Ich verstehe gar nicht, wo sie bleibt.“
Teresa zuckte mit den Schultern.
„Deine Freundin ist echt nicht leicht zu durchschauen!“ Sebastian lächelte versonnen. Wollte er jetzt etwa Melanies perverse Psyche mit ihr bereden? Was gab es da nicht zu verstehen – Melanie behandelte ihn wie einen dummen August! Teresa fing einfach wieder an, Klavier zu spielen.
Die Töne perlten durch das Zimmer. Teresas Finger streichelten die Tasten, ihr Oberkörper schwang leicht vor und zurück. Sebastian stellte sich, von den Tönen angelockt an das Klavier und hörte endlich auf, die öde Straße zu beobachten. Er stand jetzt so nahe neben ihr, dass sie den leichten Aprikosengeruch seiner Lederjacke wahrnehmen konnte.
Sieh mich an, schrie es in ihr. Siehst du nicht, dass ich viel besser für dich bin, als die flatterhafte Melanie?
„Ich wusste gar nicht, dass du so gut spielen kannst“, sagte er leise. Ihre rechte Hand improvisierte einen Ausflug zum hohen C und berührte dabei seinen Arm. Wenn du wüsstest, was ich sonst noch alles so kann, dachte sie. Er verfolgte die Noten auf dem Papier und blätterte im entscheidenden Moment die Seite um.
„Du kannst ja Noten lesen“, bemerkte Teresa überrascht.
„Ich spiele Violine“, antwortete Sebastian. Sie hatten also eine Gemeinsamkeit, was an sich schon Grund zur Freude war, aber mehr noch erfreute Teresa die Tatsache, dass dies seine erste an sie gerichtete Bemerkung war, die nichts mit Melanie zu tun hatte. Seine schlanken Finger hielten den Rand ihres Notenheftes umfasst und warteten auf den nächsten Einsatz zum Umblättern. Wie wäre es, wenn diese Finger ihr übers Haar streichen würden? Das Adagio hauchte seinen letzten Ton aus und sie hielt eine Sekunde lang inne, bevor sie sich an die Bearbeitung des Allegretto machte. Er stand so nahe neben ihr und doch wie hinter kugelsicherem Glas. Seine linke Hand hatte er auf der Stuhllehne abgestützt, millimeterweit von ihrer Schulter entfernt. Würde er sich wehren, wenn sie einfach anfinge, ihn zu küssen?
Ihr Handy klingelte und sie zuckte zusammen.
„Hallo?“
„Ist er weg?“, schrie Melanie lachend in ihr Ohr. Im Hintergrund hörte Teresa undeutlich eine Art Wiehern, das von einem anderen Mädchen zu kommen schien. Wen hatte Melanie da im Schlepptau?
„Sebastian wartet hier auf dich“, antwortete sie lauter, als notwendig war.
„Er ist immer noch da?“ Melanie verschlug es offenbar die Sprache. „Sowas Hartnäckiges“, sagte sie schließlich. Das Wesen im Hintergrund lachte schrill.
„Kommt sie jetzt?“, fragte Sebastian ungeduldig. Seine Augen hatten einen geradezu hungrigen Glanz und in diesem Moment begriff Teresa, dass sie mehr als nur ihre Liebe zur Musik gemeinsam hatten. Sie waren beide rasend in jemanden verliebt, der sich absolut nichts aus ihnen machte, und je gleichgültiger man sie behandelte, umso heftiger wurde ihre unerwiderte Zuneigung.
„Melanie kommt gleich“, sagte sie schlaff und begann, das Allegretto in die Tasten zu dreschen, den Soundtrack zu seiner hündischen Liebe.
Alte Geschichten blieben eben doch immer neu und brachen immer noch die Herzen derer, denen sie just passierten.