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Ein ganz normaler Tag

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17.10.2021
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Ein ganz normaler Tag

Ein junger Mann, so nannten ihn meistens andere Erwachsene, wenn sie ihn ansprachen, saß in seinem Zimmer. Er war stolze 14 Jahre alt, hatte dunkelbraunes bis schwarzes buschiges Haar und hellbraune Augen. Sein Zimmer war das eines „normalen“ pubertierenden Jungen in diesem Alter. Vor dem Fenster stand eine hellblaue alte Schlafcouch, die Platz für zwei Personen bot. Gegenüber an der Wand war ein kleiner Röhrenfernseher mit einer Playstation auf einer alten hellbraunen Holzkommode. Daneben, in der linken Zimmerecke, stand ein Ecktisch mit einem Computer. Zwischen beiden Gegenständen befanden sich unzählige Hip-Hop Poster aus Zeitschriften, deren Musik der Junge hörte. Sein Name war übrigens Jules, eigentlich hieß er Julian, aber seine Freunde nannten ihn alle Jules, da es sich einfach cooler anhörte. Gerade hatte er zu Mittag gegessen, Dosenravioli mit Reis, die seine Mutter zubereitet hatte und entspannte sich auf der Couch. Er spielte wie immer um diese Zeit Playstation. Tekken, sein Lieblingsspiel, ein japanisches 3D Kampfspiel in dem es darum ging den Gegner möglichst schnell K.O. zu schlagen.

Es war eine Gewohnheit bei der er abschalten und entspannen konnte. Die Knöpfe drückte er automatisch und hatte bereits so oft gespielt, dass ein Verlieren die absolute Ausnahme darstellte. Jules hatte auch noch eine Schwester. Sie war 2 Jahre alt und er konnte mit ihr nicht wirklich was anfangen. Doch er genoss die Freiheit die er hatte, weil seine Mutter durchgehend mit ihr beschäftigt war. Er sollte auch manchmal auf sie aufpassen, doch das kam eher selten vor, da er sich stets erfolgreich geweigert hatte und seine Mutter sich in der Regel nicht dursetzen konnte. Jeder lebte hier mehr für sich. Er machte sein eigenes Ding, holte sich ab und zu sein Essen aus der Küche und verschwand wieder in seinem Zimmer.

Nachdem er sich beim Playstationspielen genug ausgeruht hatte, war es Zeit sich mit seiner Clique zu treffen. Sie bestand aus noch fünf weiteren Jungen und ab und zu war auch ein Mädchen dabei. Sie verabredeten sich normalerweise immer spontan draußen per SMS und trafen sich dann mit dem Fahrrad. Richtige Hobbies und Pläne hatte die Clique allerdings nie. In der Regel wurde dies spontan entschieden. Heute hatte sich Jules mit Andi verabredet. Mit ihm verbrachte er am liebsten Zeit. Die Chemie stimmte einfach und sie hatten denselben Humor und die gleichen Interessen. Andi war ein großer schlaksiger Junge mit schwarzen Haaren und blauen Augen. Sein Vater war Italiener und Andi sah auch ein bisschen danach aus, allerdings half ihm dies trotzdem nicht bei Frauen Anklang zu finden. Heute trafen sie sich an der Grundschule, um heimlich zu Rauchen, Karten zu spielen und zu Reden. Angekommen machten sie es sich auf der Bank gemütlich und zündeten sich eine Zigarette an. Doch dann klingelte plötzlich das Handy von Andi und er sah, dass es Seids war. Seids war einer von den Jungen, die immer ärger machten, Andere unterdrückten und schikanierten. Der Name Seids, war eine Anlehnung an seine vorderen beiden Schneidezähne, die sehr lang und groß gewesen sind und über seine Unterlippe gingen, wodurch er durchaus Ähnlichkeit mit einem Hasen hatte. Welcher auch die Grundlage für seinen Spitznamen „Seids“ bildete, was im Russischen Hase bedeutete. Dieser Name war zwar gleichzeitig eine Herabwürdigung seiner selbst, aber er war so in Fleisch und Blut übergegangen, dass das Nagetier damit gar nicht mehr in Verbindung gebracht wurde. Im Übrigen wussten die meisten sowieso nicht was der Name bedeutete.

Wie dem auch sei, als das Handy klingelte guckte Andi auf die Nummer und sah, dass es Seids war. Er rollte mit den Augen und sagte zu Jules: „So ein Mist, Seids ruft wieder an, kein Bock auf den“. Jules stimmte mit ihm überein und wies Andi an einfach das Handy klingeln zu lassen bis er auflegte. Andi folgte dieser Anweisung und ignorierte das Klingeln. Doch kurze Zeit später klingelte auch das Handy von Jules, es war ebenfalls Seids. Jules sagte: „Der checkt es auch nicht, immer ruft der an und keiner geht ans Telefon, ist doch klar, dass wir keinen Bock auf den haben“. Kurze Zeit später hörte es auf zu klingeln. Seids hatte wohl aufgelegt. „Na endlich“, meinte Jules und freute sich, dass der Störenfried endlich Ruhe gab. Doch dann kam Andi auf die Idee, dass ja, wie letztes Mal, die Möglichkeit bestünde, Seids würde sie suchen, um trotzdem mit ihnen Zeit verbringen zu können. „Dann säßen wir natürlich in der Falle“, sagte Jules. „Hier ist nämlich einer der Orte, an dem wir eh die meiste Zeit abhängen. Hier wird er uns ohne Weiteres finden können.“ Also heckten beide Jungen einen Plan aus, wie sie dem Störenfried aus dem Weg gehen könnten. „Lass uns doch im nahegelegenen Wald verstecken“, sagte Andi. „Da findet der uns doch, dort sind wir auch viel zu oft“, kam es von Jules zurück. „Wir brauchen etwas Ausgefallenes, wo wir noch nicht waren, am besten weit weg, vielleicht am See“, war Jules Idee. Nach langem hin und her einigten sich beide doch auf den nahegelegenen Wald, da sie zum einen zu faul waren so weit zu fahren und zum anderen es nicht einsahen sich wegen dem Typen so eine Mühe zu machen.

Dennoch kamen sie auf die Idee ihre Fahrräder unter dem Laub im Wald zu verstecken und sich gemeinsam, hoch oben im Baum, wo sie kaum zu sehen waren, einen gemütlichen Ast zu suchen auf dem sie sitzen konnten. Sie zündeten sich beide eine Zigarette an, rauchten diese genüsslich und erfreuten sich über ihre tolle Idee sich auf einem Baum vor Seids verstecken zu können.

Das Rauchen war ein angenehmer Zeitvertreib. Andi konnte beim ausatmen des Rauches sogar Kreise erzeugen. Jules war immer beeindruckt, dass Andi das so gut konnte. „Du musst mit dem Kiefer Knacken“, sagte Andi zu Jules. „Es ist ganz einfach, versuch es einfach regelmäßig, dann wird es irgendwann klappen.“ Jules versuchte es, aber es kamen immer nur kleine Wölkchen raus und keine Kreise. Andi hatte einmal 7 Kreise hintereinander geschafft. Das war ein Rekord in ihrer Clique.

Während beide auf ihren Ästen so dasaßen und Kreise machen übten, der Eine mehr der Andere weniger, hörten sie plötzlich ein knacken. „Psst“, sagte Jules. „Hast du das gehört?“ „Was?“, erwiderte Andi. „Das Knacken man, das ist bestimmt Seids.“ Beide spitzten die Ohren und lauschten, doch es war nur das Rauschen des Windes und der Blätter zu hören. Plötzlich hörten Sie eine wütende Stimme von unten. „Hey, was macht ihr da oben? Ich habe euch angerufen!“ Beide mussten sich erstmal sortieren, wo kam die Stimme her? Sie drehten sich um und sahen Seids unten am Baum hinter ihnen stehen. Jules erster Gedanke war: „Fuck, wie hat der Penner uns gefunden?“ Er schaute nach vorne zu den Fahrrädern und sah, dass der Wind die Blätter verweht hatte, wodurch ein Teil des Lenkers vom Fahrrad rausguckte. „Verdammt“, dachte sich Jules, „das hätte man sich ja denken können.“

Seids war diesmal nicht alleine da, er hatte seine Schwester dabei, ihr Name war Tanja und sie war ziemlich hübsch. Insgeheim schwärmte Jules sogar ein bisschen für sie, aber er würde es niemals zugeben. „Warum geht keiner von euch ans Handy?“, rief Seids von unten. Jules antwortete: „Sorry wir haben das nicht gehört, unsere Handys sind noch auf lautlos von der Schule. „Ja“, sagte Andi, „und das Vibrieren haben wir irgendwie auch nicht mitbekommen.“ Eigentlich waren es immer dieselben Ausreden, Jules fragte sich zwischendurch, ob Seids wirklich so dumm war und das immer wieder geglaubt hatte. Wahrscheinlich nicht, aber er hatte nun einmal keine anderen Freunde und musste sich damit abfinden, dass wir normalerweise nicht ans Handy gingen, wenn er anrief. Tanja war ebenfalls sauer und fragte: „Warum geht ihr nie ans Handy, wenn man euch anruft, als ob ihr das nicht mitbekommen habt.“ „Ich schwöre, haben wir nicht“, sagte Jules und Andi nickte eifrig. Was sollte sie machen, jeder wusste, dass es gelogen war, doch weder Jules noch Andi würden dies jemals zugeben. Seids stand daneben und funkelte fies zu ihnen herüber. Sein Gesicht sah verzogen aus, jetzt ähnelte es mehr einer Ratte als einem Hasen, einer Ratte mit langen Zähnen, die sich betrogen fühlte. Jules und Andi waren angespannt und warteten darauf was passieren würde. In der Regel war es Jules der dafür von Seids gerügt wurde. Andi ging normalerweise leer aus, wahrscheinlich weil Seids und er auf derselben Schule und sogar in einer Klasse waren. Das Verhältnis war also etwas enger und Seids hatte aufgrund dessen wohl mehr Sympathie für Andi.

Während Seids mit seinem „Rattengesicht“ so zu ihnen hinüberfunkelte, überlegte Jules, dass es vielleicht sinnvoll wäre sich Rattengift zu besorgen, um dem Elend hier ein Ende zu bereiten, doch dann riss Seids Stimme ihn aus seinen Gedanken: „Wollen wir ins Dorf gehen, zum Rathaus?“ Jules und Andi waren erleichtert, dass er die Handygeschichte gar nicht erst ansprach und willigten ein. Sie wollten zwar lieber ohne ihn Zeit verbringen, aber nach dem vorherigen Geschehnis konnten sie ihm diesen Vorschlag nicht verweigern. Im Übrigen war es typisch für Seids, dass er die Handysache nicht direkt ansprach, sondern es vielmehr herunterschluckte und anschließend in Form von Mobbingattacken rausließ. Ein bisschen so als ob man etwas Scharfes gegessen hätte und die Rechnung dafür am nächsten Tag bekam.

Die vier Jugendlichen machten sich also auf den Weg vom Wald in den nahgelegenen Kern des Dorfes. Es wurde bereits langsam Herbst und die Blätter der Bäume bekamen eine gelb-rötliche Farbe. Der frische Wind blies Jules ab und zu ins Gesicht und er freute sich auf die kalte Jahreszeit. Jules mochte alle Jahreszeiten. Er mochte stets den Wechsel sowie die Veränderung von warm zu kalt und umgekehrt, es hatte irgendwie etwas Angenehmes für ihn.

Wie die drei Jungen und das eine Mädchen so hinab des Waldes auf dem Kiesweg durch die gelbroten Blätter schlenderten, fragte Tanja was denn heute so anläge. Jules wollte gerade antworten, doch dann fiel ihm plötzlich ein, dass er vor lauter Aufregung sein Fahrrad im Wald vergessen hatte und Andi auch. „Hey Andi“, sagte Jules, „unsere Fahrräder sind noch im Wald, wir müssen die noch holen, hoffentlich wurden die nicht geklaut.“ „Ach Scheiße, ganz vergessen“, antwortete Andi, „lass uns eben zurück.“ Andi sagte zu Seids und Tanja: „Wartet kurz hier, wir kommen gleich wieder.“ Seids antwortete: „Lass uns die Fahrräder zusammen holen, ich komme mit.“ „Dann dauert es ja noch länger“, entgegnete Jules, „so müssten wir zurückschieben, sonst könnten wir fahren.“ Gegen diese Aussage war eigentlich kein logisches Argument zu finden, es sei denn, Jules und Andis Plan war es, gar nicht erst zurück zu kommen. Tanja mischte sich ein und so gutgläubig wie sie war meinte sie: „Fedja, mach dir keine Sorgen, die kommen schon wieder, übertreib mal nicht.“ Jules und Andi nickten und meinten: „Ja genau, wir sind in nur fünf Minuten wieder da, versprochen.“ Seids traute dem Braten zwar nicht ganz, aber wollte sich auch nicht gegen alle Beteiligten stellen und antwortete: „Ok ihr kommt, aber wirklich gleich zurück.“ „Ja, ja, keine Sorge“, entgegnete Jules, in dem innerlich ein Feuerwerk explodierte. „Wie geil ist das denn,“ dachte sich Jules. „Eine zweite Chance den Spinner loszuwerden“. Auch wenn er sich noch gerne weiter mit seiner Schwester unterhalten hätte, aber im Leben muss man nun mal Abstriche machen, dachte er weiter und ging schnellen Schrittes voran, gefolgt Andi. Auf dem Weg zu ihren Fahrrädern drehten sie sich bestimmt 20-mal um, um zu prüfen, ob Seids oder Tanja hinter ihnen waren, während sie sich schon überlegten wohin sie vor den Beiden flüchten könnten. Bei den Fahrrädern angekommen war ihr Plan den Wald zu durchqueren und sich vom anderen Ende des Waldes Richtung Wohnsiedlung abzusetzen. Und so geschah es, angekommen bei ihren Fahrrädern schwangen sich die beiden Jungen auf ihre Drahtesel und stürmten durch den Wald in die entgegengesetzte Richtung. Am Waldende fuhren sie den Berg hinab gen Siedlung und fühlten sich frei. Frei wie 2 Vögel in der Luft, entkommen vom bösen Kaninchen. Dies war ein weiterer Spitzname für Seids, der in der Regel aber in Russisch ausgesprochen wurde und „Krolik“ lautete und seiner hübschen Schwester. Am anderen Waldende tobte das Kaninchen: „Diese Wichser, Hurensöhne!!! Ich habe es gewusst, dass die wieder abhauen!!! Wenn ich die Wichser in die Finger bekomme, schlage ich die zusammen!!!“. Tanja hatte Mitleid mit ihrem Bruder, aber war andererseits auch traurig, da sie wegen ihres Bruders regelmäßig in Sippenhaft genommen wurde.

Als Jules und Andi in der nahegelegenen Wohnsiedlung angekommen waren, überlegten sie sich nun, was sie mit ihrer unerwarteten neugewonnenen Freiheit anfangen könnten. Da Andis Eltern auch in der besagten Wohnsiedlung wohnten und sie demnach ganz in der Nähe von Andis zu Hause waren, fuhren beide zunächst dorthin, um zu verschnaufen. Dort angekommen schloss Andi die Tür auf und Beide gingen die weiß gefliesten Treppen zur elterlichen Wohnung hinauf. Im unteren Bereich wohnten die Großeltern von Andi, welche Jules jedoch nur sehr selten zu Gesicht bekam. Jules wusste nur, dass Andis Großvater 80 Jahre alt war und rauchte wie ein Schlot.

Die Wohnung der Eltern war relativ eng und dunkel, die weißen Fliesen zogen sich durch jedes Zimmer und waren teilweise mit Teppichen überdeckt. Außerdem roch es immer stark nach Zigaretten, da die Eltern zum Rauchen nicht nach Draußen gingen, sondern einfach die ganze Wohnung zu qualmten. Andis Vater schlief Tagsüber immer, da er auf Dauernachtschicht war, weshalb sich die beiden Jungen immer in Andis Zimmer schleichen mussten. Das Zimmer war ebenfalls eng und klein und hatte eine Dachschräge, die das ganze nochmal komprimierter erscheinen ließ.

Beide setzten sich auf die Couch und tranken erst mal eine Cola, es war zwar nicht das Original Getränk, sondern River Cola aus dem Aldi, aber sie schmeckte trotzdem gut. „Puhh, das war Glück mit Seids“, meinte Andi. „Nochmal ruft der heute bestimmt nicht an.“ „Ja, da hast du Recht“, erwiderte Jules. „Der Spasti checkt eh nichts mehr.“ „Ey willst du heute bei mir pennen“, fragte Jules Andi. „Dann können wir nachts wieder abhauen und Scheiße bauen.“ „Ja gute Idee“, antwortete Andi. „Wollen wir auch saufen?“ Ja könnte man“, meinte Jules. „Hast du Bock auf Jägermeister?“ „Klar wieso nicht“, sagte Andi. „Lass uns das Zeug von Getränke Glaske holen.“ Während sich die beiden so unterhielten verstrich die Zeit und als sie sich versahen war es schon 18 Uhr. Jules aß bei Andi noch zu Abend und nachdem er seine Sachen zum Übernachten bei Jules gepackt hatte, machten sie sich auf den Weg in Richtung Jules Wohnung. Sie fuhren extra Um- und Schleichwege, um Seids nicht zu begegnen und kamen anschließend beim zuvor erwähnten Getränke Glaske an, damit sie sich Jägermeister kaufen konnten. Getränke Glaske war, wie der Name schon sagt, ein Getränkeladen in dem es alles Mögliche an alkoholischen und nicht alkoholischen Getränken gab. Der Laden befand sich in einem typischen alten Fachwerkhaus in weißer Farbe gekreuzt mit schwarzfarbigen Balken. Auf dem Parkplatz wurde ausgelost wer rein gehen sollte, um das Zeug zu kaufen. Jules war dran und meinte: „Was ist, wenn er es mir nicht verkauft? Dann sind wir aufgeschmissen.“ „Du siehst älter aus Andi, geh du lieber.“ „Jetzt stell dich nicht wieder so an“, kam es von Andi zurück. „Der Typ verkauft jedem alles, das weißt du doch. Letztens hat der mir und Hendrik ne Flasche Wodka verkauft. Dem Typen ist alles egal.“ „Okay ich gehe ja schon, du hast ja Recht“, entgegnete Jules. Nichts desto trotz kostete es Jules immer wieder Überwindung sich nichts anmerken zu lassen. Er hatte dieses stumpfe und abgebrühte Verhalten zwar schon beim Diebstahl von Cola Dosen und Snickers Riegeln im Schlecker um die Ecke geübt, doch fühlte er sich stets unwohl dabei.

Jules ging also durch die mit kachelförmigen Gläsern, in einem weißen Türrahmen eingebundene Eingangstür und betrat den Laden. Kling, kling, machte die Glocke als er eintrat. „Moin“, sagte der dicke Herr Glaske, welcher diesmal persönlich an der Kasse am Eingang stand. „Moin“, kam es von Jules zurück, der gleich weiterging. „Puhh, zum Glück ist der Glaske persönlich an der Kasse, der würde mir auch ne 9mm verkaufen“, dachte er und atmete auf. Den Jägermeister hatte Jules schnell gefunden und ging schnurstracks zur Kasse. „12,99€“ sagte der Glaske zu Jules. Er gab ihm 15€ und bekam 2,01€ zurück. Beide verabschiedeten sich und Jules verließ den Laden.

„Hast du sie?“ fragte Andi. „Ja klar“, meinte Jules, „alles easy.“ „Ja, ja, tu mal nicht so“, antwortete Andi und grinste. Jules verstaute die Flasche in Andis Rucksack mit den Schlafsachen und sie fuhren los zu Jules.

Es dauerte ca. 10 Min. bis die Jungen ihre Fahrräder in die Radständer vor Jules Haus drückten, abstiegen und sie abschlossen. Beide traten in das Treppenhaus des neugebauten Mehrfamilienhauses, welches aus roten Ziegeln bestand und gingen zur Eingangstür der Wohnung, die sich links unten im Erdgeschoss befand. Jules steckte den Schlüssel in das Schloss, es klickte und er drückte die Tür auf. Der Flur bestand aus grauen Fliesen auf dem mittig ein kleiner hellblauer Teppich lag. „Hallo Julian“, kam es aus der Küche. „Hallo Mama“, sagte Jules. „Ich habe Andi mitgebracht, der schläft heute hier.“ „Ok, solange seine Eltern nichts dagegen haben.“ „Komm Andi, wir gehen in mein Zimmer“, meinte Jules. Die beiden Jungen begaben sich rüber und verbrachten den Abend damit Playstation zu spielen. Jules Mutter kam noch kurz herein, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei und sie zu bitten leise zu sein, da Annika, Jules kleine Schwester, jetzt schlafen würde.

Als die Uhr zwölf schlug wurden die Jungen langsam nervös. „Lass uns noch ne halbe Stunde warten“, sagte Jules. „Ich habe sie gerade noch husten hören.“ „Ja, na gut, aber dann gehen wir los“, kam es von Andi zurück. Nach 30-minütigem Ausharren zogen sich die Jungen langsam ihre Jacken an, welche sie in weiser Voraussicht beim Ankommen bereits mit in Jules Zimmer genommen hatten. Allerdings fehlten ihre Schuhe, denn das wäre dann doch zu auffällig gewesen. Jules schlich sich ganz leise aus dem Zimmer und tastete nach den Schuhen der Beiden. Da waren sie endlich. Ohne Licht war dies keine leichte Aufgabe, da er die Schuhe nur über das Fühlen mit der Hand zuordnen konnte. Doch es war ja nicht das erste Mal, also war diese Aufgabe schnell gemeistert. Zurück im Zimmer, zogen Andi und Jules sich ihre Schuhe an und harrten kurz aus, für den Fall, dass sie noch ein Geräusch hörten, aus dem zu schließen war, dass Jules Mutter aufgewacht war. In diesem Moment dachte sich Jules, dass es wohl ziemlich schwierig wäre eine Ausrede zu finden, falls seine Mutter die Beiden um halb 1 in der Nacht voll angezogen mit Straßenschuhen in seinem Zimmer vorfände. Jedoch war Jules Mutter ziemlich leichtgläubig um nicht zu sagen naiv, gerade in Bezug auf ihn, aber eigentlich auch hinsichtlich allerlei Dinge, was er regelmäßig schamlos ausnutzte. Streng genommen hatte sie ihn schon einmal beim Ausbüchsen erwischt, als er alleine eine Nachttour unternehmen wollte. Damals hatte er mutterseelenallein in Inlineskates vor dem Fenster seines Kinderzimmers auf dem Eingangsweg des Hauses gestanden und wollte gerade verduften, als seine Mutter das Fenster öffnete und fragte wo er denn hinwolle und was er da draußen machen würde. Er hatte ihr erzählt er könne nicht schlafen, weil jemand oder etwas vor dem Fenster so laute Geräusche mache. Deshalb wollte er der Sache auf den Grund gehen. Diesen Schwachsinn hatte sie ihm jedenfalls abgekauft. Obwohl er sich letztendende dabei nicht zu hundert Prozent sicher war. Es gab auch die realistische Chance, dass sie einfach einer Auseinandersetzung aus dem Weg gehen wollte, da sie ohnehin schon als alleinerziehende Mutter von 2 Kindern und nach dem Tod von Annikas Vater, den Jules kaum gekannt hatte, einfach zu schwach war sich ihm entgegenzustellen. Es spielte im Übrigen ja doch keine Rolle, er machte einfach was er wollte und wenn er mal dabei aufflog oder ihm die Tour vermasselt wurde, waren dies nur kleine Dämpfer, die er nicht weiter beachtete. Konsequenzen gab es nicht und so lange seine Großeltern nicht eingeschaltet wurden war alles im Lot.

Jules öffnete also ganz leise das Fenster, damit zuerst Andi und anschließend er selbst nach draußen klettern konnte. Glücklicherweise Bestand die Fensterfront von Jules Zimmer aus zwei Fenstern, welche sich jeweils auf Kipp und komplett öffnen ließen. So war es möglich das eine Fenster auf Kipp zu lassen und das Andere über das gekippte Fenster wieder vollständig zu verschließen, indem man den Arm von oben durchsteckte.

Nach Abschluss dieses Vorgangs gingen Jules und Andi mit ihrer Jägermeisterflasche in die Nacht. Ihre Fahrräder ließen sie stehen, da sie annahmen es könnte ja jemand Verdacht schöpfen, wenn sie weg wären.

Sie machten sich auf Richtung Ortskern und tranken jeweils abwechselnd aus der Flasche. „Oh man schmeckt das Scheiße“, meinte Jules, „richtig widerlich.“ „Ja,“ erwiderte Andi. „Scheußlich, aber wenn man besoffen werden will, muss man da halt durch.“ Jules und Andi brauchten beide nicht viel um betrunken zu werden, so dass ihnen am Ortskern angekommen schon ziemlich schwummerig war.

Um diese Uhrzeit war das Zentrum des Ortes menschenleer, ab und an fuhr ein Auto über die Hauptstraße oder es lief ein Eichhörnchen über den Gehweg, ansonsten war nichts los. Sie setzten sich beide hinter das Rathaus und tranken ihren Jägermeister, rauchten ihre Zigaretten und unterhielten sich über Dinge über die man sich in diesem Alter unterhielt. Es ging darum, welches Mädchen das „Geilste“ war, dass sie kannten und welche neuen Playstation-spiele sie gerne haben würden.

Irgendwann torkelten Beide weiter und fanden sich im Neubaugebiet wieder. Vor ihnen befand sich ein Rohbau aus weißen Steinen, mit jeder Menge Baugeräten drum herum. Dies galt es zu erforschen und gegebenenfalls zu zerstören oder zumindest zu demolieren. In der Baukuhle angekommen fiel Jules ein blauer Kran auf. Es war ein Turmkran, einer dieser Kräne der aus einer Art Metallgitter bestand und hoch über den Rohbau ragte.

Jules torkelte hin und her und schaute nach oben. „Alter krass, Andi guck mal wie hoch der ist,“ sagte er. „Ja mega, wie viel Meter sind das wohl,“ antwortete Andi. „Kein Plan, vielleicht 30 oder so?“ „Da ist eine Leiter sagte Andi“ und guckte Jules fragend an. „Lass mal gucken wie hoch wir kommen, oder?“ erwiderte Jules. „Ich weiß nicht, ist mega hoch“, antwortete Andi. „Ich hab auch Schiss, aber egal“, kam es von Jules zurück.

Also begaben sich Beide auf die Leiter und kletterten los. Jules ging voran und Andi kletterte hinterher. „Schön langsam“, sagte Jules. „Kein Bock hier runterzufallen, ich glaube das Überleben wir nicht.“ Je höher sie kamen, desto windiger wurde es. Zwischendurch nahmen sie einen Schluck Jägermeister, um sich Mut anzutrinken und kletterten immer höher. Die Jägermeisterflasche war zwar hinderlich, aber ein wichtiges Instrument für dieses Vorhaben und so wechselten sie sich beim Tragen und gleichzeitigen Klettern ab. Der Wind war nun schon sehr stark und sie konnten fast über das ganze Dorf gucken, aber die Leiter war im Vergleich zum Außengerüst ungewöhnlich fest. Fast ganz oben angekommen hörte die Leiter auf und es begann eine Neue. Diese sah zwar genauso aus wie die Alte, aber war nicht annähernd so fest. Jules zögerte kurz, voll von angetrunkenem Mut oder Wahnsinn, je nach dem wie man es definierte, oft lag beides ja auch nah bei einander, beging er vorsichtig die neue Leiter. Der Wind, welcher in dieser Höhe mittlerweile ordentlich Fahrt aufgenommen hatte, peitschte ihm von der Seite entgegen. Gefühlt wackelte der ganze Turmkran und nicht nur die Leiter. Jules hatte die Hosen voll und Andi, der sich 50cm unter ihm befand ebenfalls. „Fuck was machen wir jetzt?“, schrie Jules. „Das ist mega wackelig Alles.“ „Geh weiter kam es von Andi, lass uns nicht stehenbleiben, nachher stürzen wir ab.“ Jules nahm seinen ganzen Mut (Wahnsinn) zusammen und ging weiter nach oben, gefolgt von Andi. Der Wind blies ihm in die Augen, so dass er kaum noch etwas sehen konnte, jeder seiner Nerven war gespannt und er fühlte sich schlagartig vollkommen nüchtern und konzentriert. Jules hatte Todesangst und betete, dass er nicht abstürzte, während er mit zugekniffenen Augen langsam nach oben schritt. Als er einen weiteren Griff auf der Leiter machte fühlte er plötzlich, dass dieser Teil der Leiter wieder Fest war, was ihm so viel Hoffnung und Energie gab, dass er sich so schnell wie möglich komplett auf den festen Teil der Leiter begab. Andi tat es ihm gleich und so hatten sich beide nochmal retten können. Gleichzeitig hatten sie nun auch die Spitze des Turmkrans erreicht. Vermutlich waren es keine 30 Meter, aber 20 bestimmt.

Oben gönnten sie sich erstmal ein Schlückchen zur Beruhigung. „Das war krass Alter“, meinte Andi zu Jules. „Ja ich hatte Todesangst“, erwiderte er. „Aber jetzt haben wir es ja erstmal geschafft“, kam es von Andi. „Wir müssen zwar auch wieder runter“, sagte Jules mit einem Lachen, „aber lass uns erstmal die Aussicht genießen.“ Sie konnten das ganz Dorf sehen. Alle Häuser und Bäume die sich dort befanden sowie den Sternenklaren Himmel. „Was ein Ausblick“, dachte sich Jules, „so müssen sich Vögel fühlen, wenn die hier oben rumsitzen.“ Nach einiger Zeit des Umherblickens beschlossen die Beiden wieder runter zu klettern. Der Abstieg war nur halb so schlimm wie der Aufstieg. Wahrscheinlich, weil die Jungen nun wussten was auf sie zukam und sich so darauf einstellen konnten. Im Prinzip war es wie mit den meisten Dingen im Leben, das erste Mal ist immer das schwerste, wenn man dies erstmal geschafft hatte, wurden die anderen Male in der Regel immer einfacher.

Unten angekommen beschlossen Jules und Andi sich auf den Heimweg zu machen, genug Action für eine Nacht. Die Jägermeisterflasche wollten sie aber noch leer machen, denn eine halbleere Flasche zurückzulassen lies ihr Ego nicht zu. Und so wurden sie auf dem Heimweg immer betrunkener und betrunkener und kamen schließlich bei Jules Wohnung an. Jules prüfte, ob seine Mutter schlief indem er sich zum Wohnzimmerfenster schlich und nachsah, ob dort das Licht brannte. Jules Mutter schlief immer im Wohnzimmer, da die Wohnung nur 3 Zimmer hatte und eines davon jetzt Jules Schwester Annika nutzte. Alles war dunkel so wie erhofft.

Im besoffenen Kopf war es gar nicht so einfach auf die Fensterbank zu steigen und das Gleichgewicht zu halten, um den Arm durch das gekippte Fenster zu stecken, damit das verschlossene Fenster geöffnet werden konnte. Andi stützte Jules von hinten ab, als der von der Fensterbank fast nach hinten fiel, weil er das Gleichgewichtig verlor. Beide kicherten wie kleine Mädchen, doch am Ende konnte Jules das Fenster öffnen und sie kletterten in sein Zimmer. Die Couch, welche mit dem Rücken direkt vor dem Fenster stand, war in der Mitte schon dreckig von dem ganzen nächtlichen Raus- und Reinklettern, da sie regelmäßig als eine Art Trittleiter fungierte. Jules hatte vergebens versucht sie wieder sauber zu machen, damit keine merkwürdigen Fragen von seiner Mutter kamen, warum die Couch denn so dreckig wäre. Aber aufgrund er Häufigkeit seiner nächtlichen Ausflüge ignorierte er es mittlerweile und latschte einfach nur noch drauf. So wie auch dieses Mal, „Fuck off“, dachte er sich. „Das Ding ist eh nicht mehr zu retten.“ Angekommen in der Wärme des Zimmers, zogen Andi und Jules ihre Sachen aus, versteckten die Schuhe unter dem Bett und legten sich in ihre gemachten Betten. Doch bei Jules drehte sich alles, er konnte nicht schlafen, es war wie ein Karussell. Plötzlich war ihm schlecht und er schlich sich ganz schnell und leise ins Badezimmer, steckte den Kopf in die Toilette und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Er dachte kurz daran, ob seine Mutter dies wohl hören würde, aber er war einfach zu fertig, um sich darüber jetzt Gedanken zu machen. Nach einer weiteren Ladung Jägermeister die ihm aus Mund und Nase in das Klo lief, legte er sich vollkommen erschöpft auf den Badezimmerteppich und schlief tief und fest ein.

 

Hey Rob, super, ich danke dir für dein Feedback und werde es in meiner nächsten Geschichte berücksichtigen ?

 

Hi @Mister_Sunshine


Nachdem ich den ersten Abschnitt gelesen hatte, hätte ich dir keine Charaktereigenschaft, die Jules besonders macht, nennen können. Und das ist als Lob gemeint. Die Entscheidung Jules durch das was nicht dasteht zu beschreiben, finde ich, mit Blick auf dessen Persönlichkeit sehr durchdacht. Informationen über den hellbraunen Holztisch, den Ecktisch, mit dem Computer in der linken Zimmerecke, sind, mit Blick auf den weiteren Verlauf der Geschichte ein ausgezeichneter Platzhalter um auf das hinzuweisen, was dem Jungen fehlt und was er mit gedankenlosem Konsum zu kompensieren versucht.


Selbst die ausführliche Beschreibung von Tekken, hilft weiter das Bild eines selbst absorbierten, begeisterungsfähigen und doch extrem unsicheren sowie verschlossenen Teenagers zu zeichnen.

Beim ersten lesen entdeckte ich den ersten Hinweis darauf, dass Jules mehr als eine Strohpuppe, die ohne jegliche Form der Selbstbestimmung durch die Geschehnisse geschleift wird, ist erst im zweiten Absatz.


Passt natürlich, grade mit Blick auf den „parteiischen“ allwissenden Erzähler, wirkt aber auch abschreckend. (Da muss ich noch dazu sagen, dass ich vielleicht einfach dumm bin, weil z.B. „stolze 14 Jahre“ ja schon ein Hinweis ist.)

Aaaanyway, das Bild, das sich der Erzähler und Jules fast schon zusammen aufgebaut haben bröckelt ja dann auch zwischen Seids, Testosteron und Alkohol.
Den „Seitenwechsel des Erzählers

Jules nahm seinen ganzen Mut (Wahnsinn) zusammen und ging weiter nach oben, gefolgt von Andi.

verstehe ich allerdings nicht. Auch wenn Jules mit seiner Verachtung allen und jedem gegenüber genug Möglichkeiten gibt ihn unsympathisch zu finden kristallisiert sich für mich kein Grund für den Wechsel, der Art, wie der Erzähler über ihn urteilt heraus.

Also hat Spaß gemacht zu lesen und wenn irgendwas von dem, was hier steht keinen Sinn macht, liegt das daran, dass es das nicht macht.

Gott zum Gruße,
Jakob

 

@Jakob F. Ich danke dir für dein Feedback. Ich muss sagen, dass du die Geschichte und den Protagonisten genauso wahrgenommen und interpretiert hast, wie es von mir gedacht war. Das freut mich sehr ?. Wobei ich mir natürlich nicht alle Lorbeeren zuschreiben möchte, denn nur ein aufmerksamer Leser und ein heller Verstand sind dazu im Stande. Dies soll jedoch keine Abwertung gegenüber anderen möglichen folgenden Lesern sein.

Durch den Vergleich mit Mut und Wahnsinn sollte keineswegs ein Seitenwechsel des Erzählers erfolgen. Aber da dies von dir so interpretiert worden ist, werde ich bei meiner nächsten Geschichte versuchen so etwas anders umzusetzen.

Vielen Dank nochmal für deine Kritik ??.

 

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