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Eine Lausmädchengeschichte

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22.12.2002
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Eine Lausmädchengeschichte

„Oh, nein, nicht schon wieder!“ Mama verzieht das Gesicht. Sie ist zum Kindergarten gefahren, um Lisa abzuholen, und schon auf dem Spielplatz vor dem Haus ist Lisa auf sie zugelaufen und hat gerufen: „Mama, Mama, haben wir eigentlich noch Goldgeist zu Hause?“
Goldgeist ist eine Medizin, die man sich in die Haare reibt, wenn man Läuse hat. Lisa weiß das noch vom letzten Mal, denn im Kindergarten kommt es immer wieder mal vor, daß einem der Kinder diese kleinen Tierchen auf dem Kopf herumkrabbeln. Sie sind so winzig, daß man sie kaum sieht, aber die Kopfhaut juckt dann immer ganz fürchterlich.
Das Dumme ist, daß die Läuse ganz schnell von einem Kind auf das nächste hüpfen – zum Beispiel, wenn man zusammen in ein Bilderbuch guckt und dabei die Köpfe ganz dicht aneinander hält -, und eh’ man sich’s versieht, sind alle Kinder nur noch damit beschäftigt, sich den Kopf zu kratzen.
Für Mama ist diese Läuseplage immer besonders anstrengend. Sie muß dann nicht nur Lisas Kopf mit Goldgeist einreiben, sondern auch ihren eigenen. Sie muß dafür sorgen, daß auch Lisas große Schwester Svenja und natürlich auch Papa sich das Zeug in die Haare schmieren, falls sie sich auch schon mit den Läusen angesteckt haben. Mama muß auch das Bettzeug für die ganze Familie wechseln und alles waschen, worin sich die Läuse eingenistet haben könnten.
Ja, auf Mama kommt jetzt wieder viel Arbeit zu, und deshalb verzieht sie genervt das Gesicht, obwohl sie weiß, daß Lisa ja nichts dafür kann.
Richtig geht der Ärger aber erst los, als Svenja aus der Schule kommt. Sie ist vier Jahre älter als Lisa, und sie gibt ihrer Schwester oft das Gefühl, klein und dumm und peinlich zu sein. Kaum hat sie erfahren, daß im Kindergarten wieder Läuse entdeckt wurden, pöbelt sie schon: „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Jetzt muß ich mir wegen Lisa wieder dieses stinkende Zeug in die Haare machen! Wißt ihr eigentlich, wie widerlich das ist?“
„Ich kann doch nichts dafür“, sagt Lisa, aber das will Svenja nicht hören.
„Wofür hat man eigentlich kleine Geschwister? Die machen doch immer nur Ärger! Ich wünschte, ich wäre wieder ein Einzelkind!“ Sie geht in ihr Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu.
Lisa ist traurig. Sie hat ihre Schwester sehr lieb, aber wenn Svenja sich so benimmt, findet Lisa sie doof.
Am Nachmittag kommen zwei von Svenjas Freundinnen zum Spielen. Lisa fragt, ob sie mitspielen darf, aber Svenja antwortet nur mit einem knappen „Nein!“ und verschwindet mit Nadine und Xenia gleich wieder in ihrem Zimmer.
Lisa verbringt einen langweiligen Nachmittag in ihrem eigenen Kinderzimmer. Sie läßt die Tür offenstehen und horcht von Zeit zu Zeit auf das Lachen und die Stimmen, die aus Svenjas Zimmer dringen. Wie gerne wäre sie da drüben und hätte mit den großen Mädchen Spaß!
Als sie abends im Bett liegt, stellt sie sich noch lange vor, sie und Svenja wären nicht einfach bloß Schwestern, sondern auch ganz dicke Freunde. Das wäre toll! Mit diesem Gedanken schläft sie glücklich ein.
Am nächsten Morgen ist Svenja aufgeregt, weil nachmittags ein Schulfest stattfindet. Mama hat Knabberkram und Getränke dafür besorgt. Da sie die Sachen sowieso in die Schule bringen muß, fährt sie Svenja heute mit dem Auto hin. Lisa fährt mit, damit Mama sie anschließend gleich im Kindergarten absetzen kann. Sie läßt es sich nicht nehmen, beim Ausladen zu helfen, und trägt eine Plastiktüte in Svenjas Klassenraum.
Auf dem Rückweg zum Auto sieht sie Svenja mit einer Gruppe größerer Schüler hinter einem Gebüsch stehen. Neugierig schleicht sie sich an und belauscht die Großen.
„Also, daß das klar ist“, sagt gerade einer der großen Jungs zu Svenja, „du bringst heute nachmittag zehn Euro mit, sonst setzt es was!“
„Und du weißt ja“, fügt ein anderer Junge hinzu, „Marco meint es ernst: Geld oder Prügel.“
„Du kannst es dir aussuchen“, sagt ein großes Mädchen, und dann lachen alle drei fiese.
„Übrigens, findest du nicht“, fragt Marco noch, „daß der Schal Mareike viel besser steht als dir?“ Die drei lachen noch lauter als vorher.
Jetzt fällt Lisa auf, daß das große Mädchen tatsächlich einen Schal trägt. Und nicht irgendeinen Schal. Nein, das ist doch der Schal, den Svenja letzte Woche verloren hat! Der rotgelbe, den Mama selbst gestrickt hat! Oder hat Svenja ihn etwa gar nicht verloren? Hat sie das vielleicht nur erzählt, weil die Großen ihn ihr weggenommen haben? Lisa weiß noch, wie traurig Mama war, als der Schal nicht mehr da war.
Die drei Jugendlichen gehen weg und lassen Svenja stehen. Lisa wartet noch einen Moment, dann geht sie um das Gebüsch herum, so daß Svenja sie sehen kann.
Svenja guckt sie erschrocken an. In ihren Augen glänzen Tränen. „Was machst du denn hier?“ fährt sie Lisa wütend an.
„Ich habe gehört, was die Großen gesagt haben. Daß sie dich verhauen wollen, wenn du ihnen kein Geld mitbringst. Und ich weiß auch, daß diese Mareike deinen Schal weggenommen hat. Komm, wir gehen zu Mama und erzählen ihr alles.“
„Spinnst du?“ Svenja schreit fast. Dann sagt sie leiser: „Die sind aus der siebten Klasse. Wenn wir irgend jemandem was sagen, verhauen die mich richtig. Wag es ja nicht, Mama zu erzählen, was du gehört hast.“
Lisa kann nicht verstehen, warum sie Mama nichts sagen soll, doch sie sieht Svenja an, daß sie es ernst meint. Also wird sie den Mund halten. Aber Svenja sieht so traurig und so ängstlich aus, und Lisa möchte ihr doch so gerne helfen!
„Ohne eine kleine, verlauste Schwester hätte ich schon genug Probleme“, schluchzt Svenja und geht weg.
Lisa kehrt zum Auto zurück, und Mama fährt sie in den Kindergarten, ohne zu ahnen, was sich hinter dem Gebüsch abgespielt hat.
Den ganzen Vormittag über muß Lisa an Svenja denken, daran, wie traurig und ängstlich sie ausgesehen hat, wie schlimm es für sie sein muß, von den Großen erpreßt zu werden, und wie weh es Lisa getan hat, was Svenja zum Schluß wieder über ihre kleine Schwester gesagt hat.
Ihre kleine, verlauste Schwester.
Immer wieder hört Lisa in ihrer Erinnerung, wie Svenja das zu ihr sagt. Sie denkt während des Stuhlkreises daran, während sie in der Hängematte schaukelt, während sie mit ihren Freundinnen draußen in der Sandkiste spielt. Sie denkt immer noch daran, als sie in ihrem Mittagessen herumstochert – es gibt Nudeln mit Tomatensoße, sonst mag sie das immer super gerne, aber heute hat sie einfach keinen Appetit.
Kleine, verlauste Schwester.
Und dann, ganz plötzlich, weiß sie, was sie zu tun hat. Sofort ist sie ganz aufgeregt, und sie hat auch wieder Appetit auf die leckeren Spaghetti! Gerade, als die anderen Kinder beginnen, die Teller abzuräumen, fängt sie an, so richtig reinzuhauen. Und sie grinst dabei, weil sie sich auf den Nachmittag freut, wenn sie mit Mama auf Svenjas Schulfest geht. Sie muß nur noch mit Jennifer und einem der anderen Mädchen reden, am besten mit Nathalie, das ist ihre zweitbeste Freundin. Die beiden haben bestimmt Lust, heute nachmittag mitzukommen! Ach ja, und bevor Mama sie abholt, muß sie noch in der Kiste mit den liegengebliebenen Sachen nachsehen. Da findet sie bestimmt, was sie braucht.
Dann ist auch schon Mama da und holt Lisa ab. Als ihre Schwester aus der Schule kommt, wirft sie ihr gleich einen merkwürdigen Blick zu. Lisa tut so, als würde sie ihren Mund mit einem Reißverschluß zuziehen, und Svenja scheint zufrieden.
Als Svenja gegessen hat, macht sie sich sofort wieder auf den Weg in die Schule, um bei den letzten Vorbereitungen für das Fest zu helfen. Lisa hat gesehen, daß sie vorher Geld aus ihrer Spardose genommen hat. Dabei hat sie ein bißchen geweint; bestimmt, weil sie sich von dem Geld eigentlich einen von diesen Kreiseln kaufen wollte, mit denen die Jungs im Moment immer spielen.
Um drei Uhr ist es endlich soweit: Auch Mama und Lisa fahren in die Schule. Als sie dort ankommen, warten Jennifer und Nathalie schon auf Lisa. Beide wohnen in der Nähe der Schule und sind ohne ihre Eltern gekommen. Jennifer hat einen Stoffbeutel dabei.
„Ich geh ein bißchen mit Jennifer und Nathalie herum, Mama“, sagt Lisa, und Mama antwortet: „Okay. Aber bleibt auf dem Schulgelände.“
Die Mädchen verschwinden hinter der nächsten Hausecke. Dort verteilt Jennifer schnell die Sachen, die sie in ihrem Beutel mitgebracht hat. Die drei haben sie im Kindergarten aus der Kiste mit den Fundsachen gesucht. Extra für Lisas Plan.
„Ich freu mich schon darauf, diesen fiesen Großen eins auszuwischen“, sagt Nathalie.
„Und ich erst!“ rufen Lisa und Jennifer fast gleichzeitig.
Dann machen sie sich auf die Suche nach Svenja. Die baut gerade in einer Ecke des Schulhofes eine Slalombahn für Roller auf. Lisa und ihre Freundinnen kommen keinen Augenblick zu früh: Schon stolzieren von der anderen Seite her die drei Erpresser aus der siebten Klasse heran.
„Na, hast du’s dabei?“ fragt Marco, der ihr Anführer zu sein scheint.
Svenja nickt und holt zwei Fünf-Euro-Scheine aus der Hosentasche.
„Die willst du diesem Mistkerl doch wohl nicht geben!“ ruft Lisa ganz empört. Sofort drehen sich die Großen zu ihr um. Das ist genau das, was Lisa wollte.
„Wenn du ihm das Geld gibst“, sagt sie ruhig zu ihrer Schwester, „dann hört er doch nie auf, dich zu erpressen. Und andere Kinder bestiehlt er dann auch!“ Sie hat sich die Worte genau überlegt. Sie spricht so, wie es vielleicht die Heldin in einer der Zeichentrickserien tun würde, die sie so gern sieht. „Stell dir vor, er würde als nächstes meine wunderschöne Strickmütze haben wollen. Denkst du etwa, die würde ich ihm geben?“
Sie hält die Strickmütze hoch, die sie in der Hand hält, damit Svenja – und die Großen – sie besser sehen können. Es ist wirklich eine hübsche Mütze, rosa, mit kleinen, roten Sternen darauf, und noch fast neu. Lisa hofft nur, daß Svenja jetzt nichts falsches sagt, aber die ist so überrascht, daß sie ihre Schwester nur stumm anblickt.
„Oder meinen schönen Schal“, fragt jetzt Nathalie, „meinst du, den würde ich diesen Erpressern geben?“ Sie streckt ihre Hände mit dem weichen, schwarzen Schal mit den langen Fransen an den Enden aus, damit Svenja auch den genau sehen kann.
„So weit kommt es noch!“ Jennifers Stimme ist die Empörung deutlich anzuhören. „Soll ich denen dann etwa auch meine neuen Zopfbänder geben? Das kommt ja gar nicht in Frage!“ Sie öffnet ihre rechte Hand, in der zwei Zopfbänder liegen.
„Und was wollt ihr Zwerge genau machen, um uns daran zu hindern, wenn wir uns die Sachen einfach nehmen?“ Marco lacht. Still und leise haben die drei Großen sich um die kleinen Mädchen herum aufgestellt, während die ihre Sachen gezeigt haben.
„Oh, Lisa“, ruft Svenja, „du bist wirklich soooo dumm! Warum zeigt ihr ihnen denn, was ihr habt? Jetzt nehmen sie es euch ganz bestimmt weg! Erwarte bloß nicht, daß ich dir helfe und mich verhauen lasse!“ Aber sie hat wohl auch Angst um Lisa, denn in ihren Augen sieht Lisa schon wieder Tränen. Das freut Lisa; nicht, daß Svenja traurig ist, aber daß Lisa ihrer Schwester nicht egal ist. Am liebsten würde sie Svenja verraten, was sie und ihre Freundinnen vorhaben – nur, damit Svenja sich keine Sorgen mehr macht -, aber die Großen dürfen auf keinen Fall etwas merken.
„Los, Raoul, nimm ihnen die Sachen ab.“ Es ist wieder Marco, der spricht. Der andere Junge macht sofort einen Schritt auf Lisa zu und zerrt an der Strickmütze, die sie immer noch in der Hand hält.
Jetzt bloß nicht zu fest halten, denkt Lisa. Aber echt aussehen soll es ja schon. Sie hält die Mütze einen Augenblick fest; Raoul zieht noch einmal, und Lisa läßt los.
„Guck mal, Marco, steht mir die nicht gut?“ Raoul grinst und zieht sich die Strickmütze, die viel zu klein für ihn ist, mit Gewalt über den Kopf. Es sieht albern aus, aber Lisa fängt an zu weinen. Ja, sie fängt tatsächlich an zu weinen, obwohl ihr eigentlich zum Lachen zumute ist. Zum Glück sind kleine Schwestern ziemlich gut darin, zu weinen, wenn es nötig ist.
„Gib ihr die Mütze zurück!“ schreit Svenja, und obwohl sie sich nicht traut, auf Raoul loszugehen, ballt sie doch die Fäuste.
„Was passiert sonst?“ fragt Marco, und ehe die Kleinen es sich versehen, packt er Nathalie bei den Handgelenken, entwindet ihr den Schal und wickelt ihn sich um den Hals. Der Schal ist natürlich viel zu kurz für den großen Jungen, aber er ist sehr breit, so daß er einen Teil von Marcos Kinn verdeckt, und auch einen Teil seiner Haare im Nacken.
„Was seid ihr überhaupt für Babys?“ will Marco wissen. „Kaum ist es mal ein bißchen windig, lauft ihr gleich mit Schal und Mütze herum.“
„Stimmt“, sagt nun Mareike, das große Mädchen, und vergißt ganz, daß sie heute vormittag selbst einen Schal getragen hat. „Dafür ist es eigentlich zu warm. Aber schöne Zopfbänder, die kann man immer gebrauchen. Und man kann nie genug davon haben. Wie gut, daß ich schon wieder zwei neue geschenkt bekomme.“ Lachend zerrt sie Jennifer die Zopfbänder aus der Hand.
Während sie sich selbst nur zum Spaß – und um die kleineren Mädchen zu ärgern – Pippi-Langstrumpf-Zöpfe dreht und die Haarbänder von Jennifer darum wickelt, hört Lisa auf zu weinen. Auch Nathalie und Jennifer sehen nun gar nicht mehr so ängstlich aus. Aber das scheinen die Großen nicht zu bemerken.
Marco wendet sich wieder Svenja zu. „Und du rückst jetzt endlich die Kohle raus.“ Er blickt auf Svenjas geballte Fäuste und grinst wieder sein fieses Grinsen. „Oder möchtest du dich erst noch ein bißchen verprügeln lassen, bevor ich dir das Geld wegnehme?“
Auf einmal kann Lisa nicht mehr an sich halten. Laut bricht das Lachen aus ihr heraus. Nathalie und Jennifer lassen sich sofort anstecken und prusten ebenfalls herzhaft los.
Die drei Großen und auch Svenja blicken sie verwirrt an.
„Spinnt ihr völlig?“ fragt Mareike unsicher. „Los, Marco, sag ihnen, daß sie aufhören sollen! Raoul, hau ihnen eine runter!“
Doch Marco und Raoul sind zu verblüfft, um etwas zu machen.
„Habt ihr wirklich gedacht, das sind unsere Sachen?“ fragt Lisa. „Mann, seid ihr doooof! Wir lassen euch doch nicht unsere eigenen Sachen klauen!“ Schon wird sie wieder von einem Lachkrampf geschüttelt.
„Nein“, erklärt Jennifer, als sie bei all dem Kichern gerade mal Luft holen kann, „das ist nämlich so: Bei uns im Kindergarten gibt es eine große Kiste. Da kommen immer die Sachen rein, die die Erzieher oder die Putzfrauen unter der Bank oder im Garten oder so gefunden haben.“
„Ja, Sachen, die irgendjemand verloren oder vergessen hat.“ Jetzt ist es Nathalie, die sich vor Vergnügen kaum einkriegen kann. „Und aus der Kiste haben wir die Sachen rausgesucht, damit ihr sie uns klaut!“
Alle drei brüllen vor Lachen wieder laut los.
„Mann, seid ihr bescheuert!“ Marco klingt jetzt richtig wütend. „Ist uns doch egal, wem die Sachen gehören – jetzt sind es jedenfalls unsere.“
„Na, dann viel Spaß damit“, sagt Nathalie und versucht, mit dem Lachen aufzuhören.
„Aber vergeßt nicht, die Sachen gründlich zu waschen“, meint Jennifer. „Man weiß ja nie, wer die vorher getragen hat.“ Sie findet, sie hört sich gerade wie ihre eigene Mutter an, und das macht alles noch viel komischer.
Und genau in diesem Augenblick fängt auch Svenja an zu lachen, und – Lisa kann es kaum glauben – sie wirft sich auf den Boden! „Mensch, Lisa, ihr seid genial!“ brüllt sie, und Lisa ist so stolz wie vielleicht nie zuvor in ihrem Leben.
„Wie gut“, ruft Svenja, „daß ich meine kleine Schwester habe. Meine kleine, verlauste Schwester!“
Mit einem Anflug von Panik im Gesicht fragt Raoul: „Was meinst du mit verlaust, verdammt noch mal?“
„Weißt du das denn nicht? Ihr Siebtklässler seid aber dumm!“ Jennifer tut so, als sei sie ganz überrascht. „Verlaust heißt, daß man so kleine Tiere in den Haaren hat und einem den ganzen Tag der Kopf juckt.“
„Wir wissen das natürlich auch nur, weil wir im Kindergarten gerade Läuse haben.“ Lisa versucht, ernst auszusehen und nicht allzu sehr zu grinsen. „Deswegen mußten wir ja auch unsere ganzen Sachen so gründlich waschen. Und das solltet ihr mit den Sachen aus der Fundkiste lieber auch tun.“
„Wär natürlich besser gewesen“, meint Nathalie, „ihr hättet das gemacht, bevor ihr euch die Sachen in die Haare wickelt und euch mit den Läusen ansteckt.“
„Iiiiiih!“ Mareike stößt einen wirklich schrillen Schrei aus, wie Lisa ihn einem Mädchen aus der siebten Klasse gar nicht zugetraut hätte. Sie zerrt die Zopfbänder so schnell von ihrem Kopf, daß sie sich gleich zwei Büschel Haare mit ausreißt.
Marco und Raoul sind etwas langsamer von Begriff, aber endlich schütteln auch sie sich vor Ekel, und der Schal und die Strickmütze fliegen auf den Boden. Dann fangen die drei auch schon an, sich die Köpfe zu kratzen, und im nächsten Augenblick laufen sie schreiend weg.
„Ich freue mich schon auf nächstes Jahr“, schreit Svenja ihnen hinterher, „dann geht meine Schwester nämlich auch hier auf die Schule! Die rufe ich dann, wenn ihr mich wieder ärgert!“
„Ach, das trauen die sich jetzt sowieso nicht mehr“, sagt Lisa.
Svenja sieht sie lange an, ohne noch etwas zu sagen. Dann kommt sie auf Lisa zu, nimmt sie in die Arme und drückt sie ganz fest. „Ich bin froh, daß ich dich habe“, flüstert sie ihr ins Ohr, und dann noch: „Danke.“
„Was ist denn hier los?“ Die Mädchen sehen auf. Mama steht vor ihnen. „Was habt ihr denn mit den Großen gemacht, daß sie schreien und wegrennen? Wolltet ihr sie etwa überreden, mit dem Roller zu fahren wie die Kleinen?“
Lisa erzählt von dem Zeug aus der Fundkiste und davon, wie die Großen die Sachen geklaut und sich aufgesetzt und dann erfahren haben, daß sie jetzt ebenfalls Läuse haben.
„Geschieht ihnen recht“, sagt Mama. „Die werde ich mir später noch vorknöpfen. Einfach den Kleinen was wegzunehmen! Aber warum habt ihr die Mütze und den Schal und die Zopfbänder denn überhaupt mitgebracht?“
Lisa weiß nicht, was sie darauf sagen soll, aber schließlich faßt sich Svenja ein Herz. „Das haben sie nur für mich gemacht, Mama. Weil die Großen mich erpreßt haben. Sogar schon wochenlang.“ Jetzt, wo Mama es endlich weiß, fühlt Svenja sich richtig erleichtert. „Und nicht nur mich, auch andere aus meiner Klasse.“
Mama mag gar nicht glauben, was sie da hört.
„Donnerwetter“, meint sie, „da kannst du ja von Glück sagen, daß deine Schwester und ihre Freundinnen so auf Zack sind.“
„Ja“, lacht Svenja, „man könnte sagen, das ist eine richtige Lausbubenbande.“
„Wieso Buben?“ fragt Jennifer. „Wir sind doch Mädchen.“
„Na, dann eben eine Lausmädchenbande“, räumt Svenja ein, „im wahrsten Sinne des Wortes.“
Von Marco, Raoul und Mareike ist an diesem Nachmittag nichts mehr zu sehen, und die Mädchen genießen ein tolles Schulfest.
Am nächsten Tag telefonieren Mama und Papa mit den anderen Eltern aus der Klasse, und sie finden heraus, daß die Großen tatsächlich eine ganze Reihe von Kindern erpreßt haben. Sie informieren den Schuldirektor darüber, aber zur Sicherheit gehen sie auch zur Polizei. Die redet mit den Erpressern, die vor lauter Schreck auch alles zugeben. Die Polizisten machen den Jugendlichen klar, daß sie beim nächsten Mal richtig Ärger bekommen können.
Aber die drei haben ohnehin die Lust daran verloren, ihre Mitschüler zu bestehlen. Als sie endlich die Läuse los sind, sehen sie nur noch zu, daß sie immer einen großen Bogen um die Kleinen machen.
Und für Lisa wird ein Traum wahr: Seit dem Schulfest sind Svenja und sie die allerbesten Freunde. Weil sich die Geschichte mit den Läusen in der Schule herumgesprochen hat, haben auch Svenjas Freundinnen nichts mehr dagegen, wenn Lisa mit ihnen zusammen ist. Auch Nathalie und Jennifer dürfen sich manchmal dazugesellen.
Im Grunde sind die großen Mädchen sogar stolz darauf, mit der berühmten Lausmädchenbande befreundet zu sein.

 

Hallo Roy!
Eine gewohnt gut geschriebene Geschichte von dir.
Diesmal mit einem sehr ernsten Thema, das du sehr gut, wie ich finde, aufgearbeitet hast.
Der Stil wie immer locker und sehr kindgerecht. Ich finde, dir ist eine Geschichte mit einem ernsten Thema für Kinder gelungen. Und auch für Erwachsene.
Die Kinder merken, hoffentlich, dass sie gegen so etwas nicht wehrlos sind; dass sie sich auch wehren sollen, indem sie Hilfe suchen.
Aber auch die Eltern, denke ich, müssen sehr sensibel sein, damit sie erkennen, wenn ihr Kind etwas bedrückt, es aber nicht von selbst kommt.
Leider scheint es ziemlich häufig so zu sein, dass Älter die jüngeren Schüler erpressen. Meiner Freundin und mir ist in der 5. Klasse ähnliches passiert, allerdings wurde uns nicht mit Prügel gedroht. Daher war es für uns auch leichter, einfach zum Lehrer zu gehen und ihm das zu erzählen.
Vielleicht ändert sich das ja mal, dass sich die Kinder gegenseitig erpressen. *hoff*

bye und tschö

P.S. Der Titel ist wirklich süß, und er passt wie die Faust aufs Auge. :D

P.P.S. Deine Geschichte mit den Mirkosauriern kommt morgen dran. Versprochen!

 

Hallo Sarah,

auch für dieses Lob vielen Dank! Für mich hat es eine besondere Bedeutung, weil es sozusagen die erste Kritik auf meine Ich-kann's-noch-Geschichte ist: Die ersten acht Erzählungen, die ich hier gepostet habe, entstanden lange vor meiner kg.de-Zeit, aber bei der "Lausmädchengeschichte" lagen zwischen der ersten Idee und der Veröffentlichung nur knapp drei Wochen...

Daß das mit der gegenseitigen Erpressung mal aufhört oder doch weniger wird, kann man wirklich nur hoffen. Ich freue mich jedenfalls, daß sich das Problem in Deinem Fall lösen ließ.

Allerdings geht es aus meiner Sicht in der Geschichte nur zum Teil um Erpressung. Das eigentliche Thema sehe ich eher in der angespannten Beziehung der beiden Schwestern, und das dürfte wohl von noch allgemeinerer Bedeutung als die Verbrechen unter Schülern sein. Wie war denn das bei Dir und Deinen Brüdern? ;-)

Schöne Grüße
Roy

 

Ja, stimmt. die Beziehung der Schwestern.
Aber ich denke, bei Geschwistern sucht irgendwer immer nach etwas Konfrontation. Aber wenn die Beziehung zwischen den Geschwistern immer so angespannt ist, wird es echt ungemütlich.

Mit meinen Brüdern...ähm, nun ja *hüstel* :D
Es ist kompliziert mit meinen Brüdern. Manchmal sind sie total lieb und nett und manchmal könnte ich sie auch nur auf den Mond schießen. :D

 

Hallo Roy!

Eine echt liebe Geschichte, die mir sehr gut gefallen hat. :)
Der Titel sit genial. Besonders gut bringst Du auch die Gefühle von Lisa rüber, der "kleinen, verlausten Schwester", die letztlich die Situation rettet. Sehr nette Idee, flüssig und kindgerecht umgesetzt. Erpressung, Mobbing unter Kindern ist ja leider ein sehr aktuelles und erstes Thema, ich denke, Deine Geschichte geht damit sehr sensibel und angemessen, wenn auch locker um. Gut gemahcht! Und die Geschwisterbeziehung... ich denke es ist oft schwierig, wenn der Altersunterschied groß ist... dass hier die jüngere die ältere mal mit einem guten Einfall "rettet" ist aber sehr gelungen.
@Moony: ja, mit Brüdern ist das was gaaaaaaaanz anderes, richtig furchtbar :D

alles Liebe
Anne

 

Hallo Anne,

auch über Deine Antwort habe ich mich wieder sehr gefreut. Besonders natürlich darüber, daß Du den Titel "genial" findest :-)

Ist das mit Brüdern wirklich so viel anders? Ich selbst habe zwei jüngere Schwestern... ;-)

Schöne Grüße
Roy

 

Hallo Roy,

Deine Geschichte hatte ich mir ausgedruckt, sowie Du sie gepostet hattest. Leider kam ich aber bisher nicht dazu, etwas dazu zu schreiben. Heute jedoch soll es geschehen.

Der Titel ist sehr schön. Schon beim Lesen des Titels mußte ich schmunzeln und - er machte mich neugierig!

Besonders gefallen hat mir, wie Du die Spannungen zwischen den beiden Schwestern beschreibst, das war für mich die Hauptaussage der Geschichte, wie Svenja feststellen muss, dass ihre "kleine, verlauste Schwester" ihr eine wirkliche Hilfe ist, dass die Kleine zu der Großen hält, weil diese für sie wirklich wichtig ist. Es ist Dir sehr gut und wirklichkeitsnah gelungen diese Konflikte zu beschreiben.

Pfiffig ist auch die Idee von Lisa und ihren Freundinnen, die Erpresser(innen) mit den verlausten Gegenständen zu bestrafen.

Was ich nicht so ganz glaubwürdig fand, war, dass die Großen aus der Siebten einfach schreiend wegrennen, als sie erfahren, dass sie sich Läuse ins Haar gesetzt haben. Ich finde, das passt nicht so recht zu den Schlägertypen, die für alles Prügel androhen (und das ja wohl auch wahr machen, sonst müßte Svenja sich ja nicht so fürchten). Für mein Gefühl würde es sich lohnen, diese Stelle noch mal zu überdenken. Könnte nicht einer der Großen vor Wut auf Lisa losgehen, was dazuführt, dass die anderen (Svenja und Lisas Freundinnen) laut schreien, was wiederum bewirkt, dass Mama es hört...

Oder die Siebtklässler stossen üble Drohungen aus und das bewirkt, dass Svenja nun doch endlich ihren Eltern etwas sagt, weil sie nun Angst um Lisa bekommen hat?

Aber das ist natürlich nur mein Gefühl. Die anderen haben das ja anders gesehen.

Wie ich es von Dir gewohnt bin, liest sich die Geschichte flüssig und Deine Sprache ist absolut kindgerecht. Besonders schön ist natürlich, dass Du grammatikalisch sicher und korrekt formulierst und die Rechtschreibung beherrschst. Sowas erhöht für mich den Lesespaß immer beträchtlich.

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Barbara,

vielen Dank für die ausführliche Antwort, und es freut mich, daß es Dir wieder gefallen hat.

Die Stelle mit den schreienden Siebtklässlern lasse ich mir noch mal durch den Kopf gehen, aber im Moment glaube ich eher nicht, daß ich sie ändern werde. Möglicherweise hast Du recht, daß das Verhalten nicht ganz realistisch ist. (Obwohl ich mir nicht ganz sicher bin; ich halte es auch für denkbar, daß solche Jugendlichen sehr unbeholfen reagieren, wenn sie unerwartet auf Widerstand stoßen. Letzten Endes sind sie eben bei weitem nicht so erwachsen, wie sie denken.) Wie dem auch sei: Ich glaube, man darf in Kindergeschichten schon mal dem Protagonisten zu einem fragwürdigen Sieg verhelfen ;-) Würden wirkliche Polizisten vor einem Mädchen davonlaufen, auch wenn es so stark ist wie Pippi Langstrumpf? Würden "die drei ???" so viele Kriminalfälle aufklären, ohne zum Opfer eines Verbrechens zu werden? Wer weiß... Das Entscheidende ist wohl, daß es für die lesenden Kinder glaubwürdig bleibt, und das ist für uns sicher nicht immer ganz einfach einzuschätzen.

Mir war es wichtig, den Lesern zu zeigen, daß sie sich wehren können. Ich finde, das klappt besser, wenn die Mädchen mit den Erpressern alleine fertig werden. Daß es trotzdem besser ist, die Erwachsenen zu informieren, zeige ich den Lesern am Schluß sozusagen nebenbei.

Wie gesagt, so sehe ich es im Moment, aber ich denke darüber nach. Es wäre schön, wenn ggf. die nächsten Kritiker hierzu ebenfalls ihre Meinung mitteilen könnten.

Schöne Grüße
Roy

 

Hallo Roy,

Deine Argumente verstehe ich, bis auf das Beispiel mit "Pippi Langstrumpf" - im Gegensatz zu Deiner Lisa ist diese ja offensichtlich keine realistische Figur, von daher dürfen für mein Gefühl in den Pippi Langstrumpf-Geschichten die unglaublichsten Dinge geschehen, solange sie witzig sind und den Kindern gefallen. Deine Lisa aber ist direkt aus dem wirklichen Leben gegriffen und darauf bezog sich meine Anmerkung.

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Roy,

dreimal darfste raten, weshalb ich mich wieder in die Kinderabteilung verirrt habe :)

Wieder mal eine gut zu lesende spannende und mit viel Liebe geschriebene Roy Spitzke Geschichte und seitdem ich dich auch akkustisch kenne, kann ich mir wunderbar vorstellen, wie du sie vorträgst.
Ob sie kindgerecht geschrieben ist, (für welches Alter müßte man dann ja auch erstmal fragen), kann ich nicht annähernd beurteilen, aber ich Erwachsene fand die Geschichte gut, vielleicht fühlten sich auch nur meine Kindanteile in mir angesprochen. ;) Wer weiß.

Die Frage, die al-dente ansprach, dass die Jugendlichen eher wohl in der Realität wenigstens unter Ausstoß etlicher Flüche und Drohungen das Feld räumen, ging mir auch durch den Kopf und ich war grad drauf und dran mich al-dente anzuschließen.
Dann las ich deine Erwiderung an sie und fühle mich nun durch deine Gedanken bekehrt. Wenn deine Intention ist, neben Unterhaltung auch Kindern Mut zu machen, und ansich aussichtlose Dinge anzupacken, dann kann es der Geschichte nur gut tun, wenn sie insgesamt einen positiven Effekt erhält und dann auch ruhig von der Realität etwas abweicht.
Deinen Vergleich mit Pippi versteh ich so, dass dieses Fantasiemädchen von Niemandem für Realität gehalten wird, aber das, was sie tut, macht auch Kindern Mut, es ihr ein wenig in puncto Keckheit nachzutun und das ist dann wieder ganz real und so sehe ich es auch in deiner Geschichte.

Lieben Gruß
elvira

 

Hallo Elvira,

es freut mich immer, wenn ich Dich wieder anlocken kann ;-)

Vielen Dank für die lobenden Worte.

Roy Spitzke Geschichte
Herrlich - dieser Ausdruck erinnert mich an den Titel eines Essays von Stephen King, "On becoming a Brand Name" :-)

@Elvira und Barbara:

Nachdem ich Elvira hinsichtlich der Reaktion der Großen überzeugen konnte, werde ich es wohl wirklich so stehen lassen und lediglich auf meine geistige Beim-nächsten-Mal-noch-besser-machen-Liste setzen.

Schöne Grüße
Roy

 

Hallo Roy,
kann mich dem Lob der anderen nur anschliessen.
Ich musste immer wieder schmunzeln beim Lesen, weil mir die Dialoge zwischen den Schwestern bezüglich der Läuse ziemlich bekannt vorkamen. Meine Jüngste, die es auch immer mal wieder erwischt, muss sich von ihrem Bruder, der komischerweise fast nie welche bekommt dann auch immer das Wort "verlauste Schwester" anhören.
Schön fand ich eben auch bei Deiner Geschichte, dass die beiden Schwestern, obwohl sie sich oft zu streiten scheinen, doch in der Krisensituation zueinandergehalten haben.

LG
Blanca

 

Hallo Blanca,

vielen Dank auch an Dich! Ich glaube, es hilft wirklich beim Schreiben von Kindergeschichten, wenn man selbst Kinder hat, sozusagen "Anschauungsmaterial". Allerdings sind meine Töchter ja inzwischen dem Kindergarten entwachsen - mal abwarten, wie das meine Geschichten verändern wird :-)

Schöne Grüße
Roy

 

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