Eine Nacht im Freien
Der Regen prasselte erbarmungslos auf das Blechdach. Florian und Katja lagen darunter, dick eingepackt in ihre Schlafsäcke. Die nasse Kälte umgab sie wie eine zweite Haut und der dichte Nebel machte es unmöglich in die Ferne zu sehen. Katja schlief schon, aber Florian konnte, wie so oft, nicht zur Ruhe kommen. Es jagten ihn Sorgen und Ängste vor allem in der Nacht und immer, wenn Katja einschlief, fühlte er sich verpflichtet Wache zu halten. Florian wollte mit seiner Hand sanft Katjas Gesicht berühren, aber die Kälte machte es für ihn unerträglich seine Gliedmaßen auch nur kurz aus dem Schlafsack zu bewegen. Er versuchte seinen Körper, so gut es ging, vor den eisigen Temperaturen zu bewahren.
Er dachte daran, wie sie früher in ihrer beheizten und angenehm beleuchteten Wohnung saßen. Nicht einmal kam es beiden in den Sinn, dass ihnen ein so banaler Zustand von Wohlbefinden einfach genommen werden konnte.
Schon nach kurzer Zeit bemerkte er die Auswirkungen des neuen und rauen Lebens auf seinen Körper. Florians Rückenschmerzen wurden durch das unbehagliche Schlafen im Freien immer schlimmer und auch seine Haut litt stark unter den schlechten Bedingungen. Am qualvollsten war es für ihn mitansehen zu müssen, wie die Menschen nun mit ihnen umgingen. Noch vor kurzer Zeit verspürte Florian ein Gefühl von Zugehörigkeit, zu den Nachbarn, zur Gesellschaft, zu den Menschen im Allgemeinen. Andere begegneten ihm mit Respekt und Mitgefühl. Jetzt war es anders als früher. Obwohl sie immer noch aus exakt demselben Fleisch und Blut bestanden wie zuvor, schien man sie nicht mehr wie richtige Menschen zu behandeln. Florians höchstes Ziel war es, nicht zu überleben, sondern wieder diesen Status zurückzuerlangen, damit alle anderen noch einmal ihren Schmerz, ihre Verletzungen und ihren Tod betrauern würden.
Die Blicke der anderen konnte Florian noch nicht zweifellos deuten. Ob die vorübergehenden Menschen mit ihren ablehnenden und vermeidenden Augen die leidvollen Gestalten ihrerseits einfach nicht ertragen konnten, oder ob sie Angst davor hatten, in dieselbe Situation zu gelangen, war ihm nicht klar.
Durch ein bekanntes Geräusch wurde Florian aus seinen Gedanken zurückgeholt. Von Weitem waren Schritte und diffus klingende Stimmen zu hören. Katja schlief immer noch, ohne sich die ganze Nacht auch nur ein einziges Mal bewegt zu haben. Für Florian war es unmöglich, in dem dichten Nebelschleier etwas zu erblicken, er konnte aber hören, wie zwei Menschen immer näherkamen. Erst vor kurzem ereignete sich in der Nacht ein Vorfall, bei dem sie von zwei stark betrunkenen Männern mit heftigen Tritten aus dem Schlaf gerissen wurden. Sie trafen Florian direkt in den unteren Rücken. Er schrie laut auf, als er den heftigen Schmerz fühlte. Darüber mussten die Männer aber nur noch mehr lachen und es war, als würde Florians Leid sie dazu anstacheln noch grober im Umgang zu werden. Sie bemerkten schnell, dass es sich bei Katja um eine junge Frau handelt und begannen sie mit obszönen Bemerkungen zu verspotten. Florian wusste, dass Katja in diesem Moment Angst hatte, auch wenn sie versuchte, es nicht zu zeigen. Irgendwann verschwanden die Männer dann aber doch. Sie entwichen in einem Hall von lautem Gegröle und einer Gewissheit, dass sie sich am Morgen nicht mehr an diesen Vorfall erinnern werden.
In dieser Nacht war es anders. Ein junges Paar ging vorbei. Sie waren so vertieft in ihr Gespräch miteinander, dass sie Florian und Katja gar nicht bemerkten. Viel konnte Florian bei dem Wetter nicht erkennen, er war aber schnell überzeugt davon, dass die beiden keine Bedrohung darstellten. Als das Paar schon weit weg war, schloss Florian zum ersten Mal in dieser Nacht die Augen. Der heftige Wind pfiff in regelmäßigen Abständen durch die Löcher seines Schlafsackes. Obwohl der Sturm immer stärker wurde, schlief Florian durch eine nicht zu bändigende, betäubende Müdigkeit ein. Im gegenüberliegenden Park tobte sich das Unwetter immer stärker aus. Die dicken Äste der Bäume ächzten und peitschten im Wind, als würden sie einen jeden Moment erschlagen.
Katja wachte noch vor Florian auf. Sie fühlte sich trotz des tiefen und ausgiebigen Schlafs noch schwächer als am Tag davor. Benommen rieb sie sich die verklebten Augen und beobachtete, wie die Sonne kurz davor war aufzugehen. Ein paar winzige, warme Sonnenstrahlen ließen den Tau auf den Grashalmen im Park gegenüber schimmern. Sie freute sich kurz über den Anblick, bevor sie ein vertrautes Stechen in ihrem Bauch spürte. Schon seit ein paar Tagen hat sie kaum etwas gegessen. Durch den ermutigenden Sonnenaufgang konnte sie aber nicht anders, als dennoch Hoffnung für den anbrechenden Tag zu schöpfen.