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Eine Weihnachtsgeschichte

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17.12.2001
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Eine Weihnachtsgeschichte

Eine Weihnachtsgeschichte


Meine Geschichte beginnt am heiligen Abend, dem 24.12.1889. Es war bereits dunkel geworden, doch auf den Straßen herrschte noch helle Aufregung. Die Turmuhr schlug gerade sechs mal und es war stockfinster. Die ersten Schneeflocken fielen vom Himmel herab, es war bitterkalt. Die Leute liefen schneller, versteckten ihre Hände in Handschuhen und ihre roten Nasen unter dicken Schals. Einige von ihnen hielten Geschenke, andere kandierte Äpfel oder Zuckerwatte in ihren Händen. In den Häusern gingen die Lichter an, alles war herrlich geschmückt.
Und in einer der Straßen, nahe am Marktplatz, dicht in einer Ecke, saß Julia. Sie trug weder Handschuhe noch einen Schal, die sie wärmen konnten. Ihren Körper bedeckte ein langes braunes Kleid. Auf ihre roten Haare fielen sanft die großen weißen Schneeflocken herab. Zwei aus Holz geschnitzte Schuhe bedeckten ihre bloßen Füße. Sie hatte nichts mehr wo sie hingehen konnte, ihre Eltern waren schon vor langer Zeit gestorben. Haben wollte sie auch niemand. Mit zwölf Jahren kann man schließlich für sich selber sorgen, das waren die Ansichten der Bürger.
Julia hatte kein Geld um sich etwas warmes zu kaufen. Einige Markthändler, die Julia schon kannten, steckten ihr Obst, andere ein Stück Brot zu. Dafür war sie immer sehr dankbar gewesen. Auch heute hatte ihr eine Händlerin einen Apfel geschenkt. Doch sonst hatte sie keiner beachtet. Die Leute gaben ungern etwas, waren alle viel zu sehr mit sich selber beschäftigt. Sie bemerkten das arme, vor Kälte zitternde Mädchen gar nicht. Aber vielleicht wollten sie ja auch einfach nur wegsehen.
Mittlerweile war es auf den Straßen leer geworden. Julia stand auf und lief einige Schritte. Sie sah durch die Fenster der Häuser. Wie war das alles herrlich! In den Stuben standen geschmückte Weihnachtsbäume in einem Glanz, das Julia die Kälte ganz vergaß. Kinder saßen in prächtigen Kleidern an Tischen und aßen Bratäpfel. Überall herrschte große Vorfreude auf das Weihnachtsfest. Es war diese Wärme und Herzlichkeit, die Julia an diesem Fest immer so faszinierte ,und wie jedes Jahr wünschte sie sich wieder in diesem Augenblick einmal dazuzugehören. Sie wollte einfach teilhaben an der Freude der Menschen, auch einmal wieder Geschenke auspacken. Doch sie wollte nicht undankbar sein. Ganz im Gegenteil. Sie war dankbar für das Essen, das die Leute ihr ab und zu gaben und sie war glücklich über die Kleidung, die sie am Leibe trug.
"Liebe Mami, lieber Papi, mir geht es gut, macht euch bitte keine Sorgen! Ich wünsche euch ein gesegnetes Weihnachtsfest!", sagte sie und richtete ihre Augen zum Himmel empr. Die Sterne leuchteten zu tausenden auf das kleine Mädchen herab. Sie ließ sie nicht aus den Augen, während sie weiterlief. Wie schön sie waren. Wie herrlich sie jeden Abend strahlten. Immer waren sie da und Julia hatte das Gefühl, sie würden auf sie aufpassen. Die Schneeflocken fielen kalt auf ihr Gesicht und blieben dort eine Zeitlang liegen, so kalt war es.
"Guten Abend, Julia!" Erschrocken blieb sie stehen und blickte sich um. Vor ihr stand ein Junge, der nicht älter zu sein schien als sie selbst. Seine blauen Augen funkelten wie zwei Sterne.
"Guten Abend!", entgegnete Julia schüchtern und senkte den Blick. Dieser Junge war in den kostbarsten Sachen gekleidet. Er kannte sie offensichtlich, denn er hatte ja ihren Namen gesagt. Sie jedoch hatte ihn noch nie zuvor hier gesehen. Was wollte er von ihr?
"Dir muss doch kalt sein! Ich gebe dir meinen Umhang!", sagte er.
"Nein, das ist wirklich nicht nötig, mir ist nicht kalt!", entgegnete sie.
"Nimm ihn nur!" Noch ehe sie etwas erwidern konnte, hatte er ihr den schwarzen Umhang umgelegt. Wie warm er war und wie gut er roch!
"Vielen Dank!" Mehr brachte Julia nicht über die Lippen. Sie war überrascht über die Fürsorge des Fremden. Warum kümmerte er sich gerade um sie?
"Oh, ist mir ein Vergnügen! Aber ich habe mich dir ja noch gar nicht vorgestellt! Mein Name ist Saint!" Er reichte ihr die Hand. Wie warm sie war!
Hier, die sind auch für dich! Hätte ich fast vergessen!" Er hielt ihr ein paar rote Handschuhe entgegen.
"Für mich? Aber warum?" Julia konnte es nicht glauben. Wer war er? Warum schenkte er gerade ihr diese warmen Sachen? Welche Gegenleistung erwartete er?
"Ich habe aber kein Geld, um sie dir zu bezahlen!", sagte Julia und sah ihm fest in die Augen.
"Das ist auch gar nicht nötig!" Saint winkte ab.
"Was denn, du schenkst mir diese Sachen einfach so?" Ungläubig sah sie ihn an. Er sagte kein Wort, nickte nur. Dabei ließ er sie keinen einzigen Moment aus den Augen. Julia spielte nervös mit ihren Fingern.
"Was möchtest du jetzt machen?" Saint stieß sie sanft an. Er fühlte Julias Verlegenheit ihm gegenüber und wollte die ganze Atmosphäre etwas entspannen.
"Ich weiß nicht!" Sie sah ihn nicht an. Wollte er etwa den ganzen Abend bei ihr bleiben? Das war sie nicht gewöhnt. Sie war ja immer allein.
"Ach, komm, jeder Mensch hat doch einen Wunsch! Wie lautet deiner? Schließlich ist doch heute Heilig Abend!" Saint ließ nicht locker. Warum verstand er nicht, das Julia niemals Ansprüche an das Weihnachtsfest gestellt hatte?! Der Weihnachtsmann kam nicht zu ihr, sie hatte kein warmes Zuhause. Auf sie wartete niemand, sie hatte keine Freunde! Sie konnte sich weder Lebkuchen noch Zuckerwatte kaufen! Julia besaß nur das, was sie jetzt an sich trug, nicht mehr und nicht weniger! Da sie kein Geld hatte, stellte sie auch keine Ansprüche. Wie gern hätte sie gearbeitet, doch keiner wollte sie haben.
"Zu klein! Zu schwach! Zu jung! Ein Mädchen!" So lauteten immer die niederschmetternden Antworten. Was also sollte sie tun? Wenn ihr nicht ab und zu ein netter Händler etwas schenken würde, dann gäbe es sie gar nicht mehr.
"Hast du dir etwas überlegt?", hakte er nach. Julia schüttelte mit dem Kopf. So viele Dinge gingen ihr im Kopf herum, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. "Also schön, dann gehen wir jetzt etwas essen! Ich bekomme langsam Hunger!", sagte Saint.
"Aber ich habe dir doch gesagt, dass ich kein Geld besitze!"
"Natürlich lade ich dich ein!", lachte Saint. Er war so fröhlich. Warum nur tat er das alles für sie? Während sie stumm nebeneinander herliefen, fragte sich Julia im Stillen, woher er kam und wo er lebte? Wo waren seine Eltern?
Das Gasthaus war gut gefüllt. Ein Tisch für die zwei Kinder fand sich trotzdem. Saint bestellte die leckersten Sachen, sogar zwei Bratäpfel. So satt war Julia noch nie gewesen. Sie lachten, sahen sich an - doch sie sagten nichts. Julia hätte ihn gern einiges gefragt, doch sie traute sich nicht. Vielleicht wollte er es auch gar nicht. Als sie einige Stunden später das Gasthaus verließen, schneite es noch immer. Julia hatte rosige Wangen und Saint lief noch immer neben ihr her.
"Danke für alles, Saint!", hörte sich Julia plötzlich sagen. Sie war stehen geblieben und sah ihn an. Saint nickte nur lächelnd. Sie setzten sich beide in die Ecke auf den Marktplatz. Er hatte einen Streichholz angezündet, sie saßen so dicht beieinander, das sie sich gegenseitig spüren konnten. Auf einmal holte Saint eine Kerze hervor und zündete sie an. Julia wusste nicht, woher er sie auf einmal genommen hatte, sie war einfach da. Schweigend sahen sie in das Kerzenlicht, es war so warm und gut.
"Wünsch dir etwas, Julia!", unterbrach Saint die Stille.
"Habe ich das Recht dazu?", fragte sie und heiße Tränen liefen über ihre Wangen. Sie wollte nicht weinen, aber sie war so glücklich. Einfach alles an diesem Abend war so schön gewesen. Es war wie ein Traum.
"Du hast das Recht! Immerhin haben wir Weihnachten!", entgegnete er ihr. Sie brauchte gar nicht nachdenken. Es war ja offensichtlich, was sie sich wünschte. Sie sprach im innersten aus ihrem Herzen heraus. Ein kalter Windhauch blies die Kerze aus, die alte Turmuhr schlug zwölf mal.
Am Weihnachtsmorgen fanden die Leute das kleine Mädchen erfroren in der Ecke des Marktplatzes. Ihr Gesicht war rosig, ein Lächeln lag noch auf ihren Lippen. In ihren Händen hielt sie die Kerze fest umschlossen . Einige Leute erzählten sich, das ein Engel , der am Heiligen Abend bei ihr gewesen war, sie zu sich geholt hatte. Deshalb sehe sie auch so glücklich aus. Andere hielten das für Unsinn. Sie waren der festen Überzeugung, dass Julia den Abend allein gewesen sein musste, wer sollte sich schon mit ihr abgeben? Es war schließlich seit Jahren der kälteste Tag gewesen. Ob Saint nun wirklich ein Engel war und bei ihr gewesen ist, oder ob Julia das nur geträumt hatte, bleibt dem Leser zu beurteilen. Eines ist jedoch unklar: Woher hatte das arme Mädchen die Kerze? Ich jedenfalls bin davon überzeugt, dass Saint Julias Engel war , denn jeder Mensch hat einen. Meiner hat mich angeregt zu dieser Geschichte. In diesem Sinne bleibt mir nichts weiter, als euch ein gesegnetes Weihnachtsfest zu wünschen und denkt auch an die Armen. Julia steckt in jedem von ihnen!

In Erinnerung an Hans Christian Andersen

Cindy Schuster

 

Hi,
sehr schön umgesetzt, nach ein paar Sätzen dachte ich gleich an das Streichholzmädchen. Das hat mich anfangs geärgert, aber da Du ja darauf hingewiesen hast finde ich Deine Interpretation gelungen. Das ganze spielt ja 1989 und dennoch scheinen die Beschreibungen, wie auch die Wortwahl, auf die Zeit von Hans Christian Andersen hinzudeuten.

Die Schußfolgerungen würde ich auch weglassen.
MfG
rikki.o

 

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