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Einzeltiere

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10.09.2016
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Einzeltiere

Er hat es gern in jeder Pore – aber woher weiß ich – dass er das Salz gern in jeder Pore hat? Dass er im schmalen Badezimmer steht und der Blütenpyjama aus Tussahseide ist und er ihn von den Schultern wischt, wie das Büßergewand vorm Scheiterhaufen, sich, die Hände mit Blut vollgelaufen und scharlach, im Spiegel betrachtet.
Ich kann nicht wissen, dass er den Staub fremder Dachböden sammelt; in braunen, Edding beschrifteten Tabakdosen unterm Bett. Der, der sich beim Einatmen an den Lungenbläschen festsetzt, der unterm gestohlenen Schulmikroskop graue Hüllen- und Fädenberge mit sporentiefen Schatten zeichnet. Da hat sich eine Lust in Daniel eingenistet und die krabbelt in Gedanken wie die Hausstaubmilben unterm Bett, die mit Schimmeln, Hefen und anderem dosenförmige Biotope bilden – woher ich das weiß, weiß ich nicht. Ich kenne Daniel kaum.
Mit getränktem Maderhaarpinsel lasiert er die Körperstellen, vom Fußnagel, den Zehenknöchel hoch zum Scheitel, über die Augenlider, die Schläfen; er reibt, presst das Mahlsalz in jeden Kubikzentimeter Haut, in jede Spalte und Haarwurzelscheide. Mit gebogenem Zeigefinger reißt er den Kleber einer zweiten Salztüte; verrieselt weiße Hände voll hinter, vor und seitlich, im Radius den Überschuss, bis er mit dem Versalzen der Handinnenflächen schließt. Ein Salztier, nur die braunen Augen, die er von der Mutter und die eine Freundin des Vaters im besuchsweisen Rhythmus zu einer Reihe unüberlegter Komplimente bewog, bevor er am sechzehnten Geburtstagstisch allein zu leben beschloss, überhaupt, und um sich besonders an ungeraden Tagen im Salzpanzer zu verkriechen, ohne Freunde, nur mit dem Staub in einer ausreichend dunklen Wohnung, nur diese Augen unterscheiden ihn von einem Salztier.
Zuerst habe ich mich gefragt, woher. Wer von den Aasgeiern und -krähen in den viel zu langen Schulhofpausen hat mir das erzählt; die sich das Maul nach jedem Stück Danielfleisch zerreißen: Daniel der Asperger, der mit der Leichenteilsammlung im Keller, der mit den Zuchtratten, deren Milch er trinkt. Davon weiß ich nichts, kann ich nichts wissen; ob das stimmt, was die Aasgeier zwitschern.
Ich glaube, es ist etwas Schlimmes und ich sollte jemanden konsultieren; ein Teil des Schläfenlappens, mutiert; ein jähes, unzweckmäßiges Anschwellen im Hirnmantel; ein pflaumengroßes Ödem, das die graue Masse wie eine Austernperle von innen reizt. Manchmal verschwimmt die Peripherie; dann klammre ich mich an einen Laternenpfahl, presse die Fingernägel ins Fleisch. Morgens, abends und in der Nacht höre ich meine Schreie fern, als wären es die einer anderen Esma. Dann drückt es im Kopf, ich träume fiebrig, aber liege kalt. Gelegentlich stecke ich mir einen Finger in den Hals und hole es aus mir heraus.
Ich will wissen, ob es die Sündenangst ist, wegen Adam, meinem Cousin, und dem, was wir am Sukkot, am siebzehnten Tischri in der Laubhütte trieben. Nur meine Schwester weiß davon und die habe ich, Gott sei Dank, mit Mitleid und unbestimmten Drohungen bestechen können. Wie lange geht das gut? Sei es doch das Pflaumenödem, sei es die mütterliche Erbschizophrenie. Sei es eines von beidem, dann wüsst’ ich, ja, dann könnt’ mich freuen, dass Daniels Verhalten zum Salz, dass die Stäube im Unterbett nur Erfindungen eines im Hirn vermantelten Männekens sind, das mir einen Gedankenschaden anrichten will. Wenn es sich aber entgegen meiner Spekulationen erweisen sollte, dass kein Geschwür, kein Adam oder sonst ein böser Stern mir diese Dinge eingibt, dann muss ich gestehen, bin ich mit meinen Deutungen am Ende.
Die tauben Fingerkuppen krallen sich in den Stracheldraht gedeckten Zaun der stillgelegten Fabrik, die auf dem alten Schulweg liegt. Hinter mir läuft scheu und ungeniert der Metalboy, den die Aasgeier Reso nennen. Ungeniert, weil er wissen muss, dass ich ihn bemerke: am schiebenden Ballenschritt, an der unverkeilten Brotdose, die im Tornister klappernd das Mittagessen verformt; am Traben und Hoppeln, wenn er durch die wachsende Entfernung zu mir, seinem Objekt, aus der Traumstarre aufzuckt. Was alle über Reso wissen: dass er irre, ja, wirklich irre Zellen im Blut hat und dass der Blastenschub die Haare frisst und die neuen Punkerloden, wie der unbeliebte Onkel die Perücke wohlmeinend getauft, vielleicht aus einer recycelten PET-Flasche. Was sie oder ich nicht ohne Zweifel wissen, betrifft Resos Nachttischinhalt. Kurt Cobains Tagebücher, gebunden, Die Siedler Online neben aussortieren MMORPG-Vollversionen und einer Tube Gleitgel. Die Ökomutter gibt ihrem Jungen Zeit, wenngleich davon immer zu wenig ist, und auch nicht mehr viel, ja, nicht mehr viel. Sie bäckt einen Kuchen aus dem Internet, den Reso ihr herausgesucht hat, einen mit Schwarzkirschen, die mag er. Später werden sie ihn gemeinsam mit dem niemals traurigen Vater essen und dazu einen Getreidekaffee brühen. Am runden Tisch sind Gabeln und Messer wie magnetisch auf Reso ausgerichtet, der hier Tillmann genannt wird. Tillmann oder Reso genießt den Abglanz der Elternliebe, der von seinem in ihre Gesichter strahlt, und doch muss er unauffälliger werden, damit der Übergang zum Verschwinden polsternd wird. Woher ich das weiß, weiß ich nicht.
Mein Name ist Esma Smelick. Ich bin sechzehn und ein Matheass. Nach dem Abi, schwör ich, wird die Technik mein Platz an der Sonne. An reichlich vorhandenen Nachmittagen lese ich Lewis Caroll oder sammle Escher-Fotokopien in weiten Nappaledermappen. Als ich beschloss, mich der gerechten Sache zu widmen, verkümmerte mein Humor über Nacht, sodass ich ihn in eine Petrischale goss, um seine DNA zu entschlüsseln und mich selbst wieder zu verstehen. Seitdem lasse ich die Finger vom Thema. Muskelballen, Unterarmsehnen, stramme Oberlendenpäckchen sind mein Stolz und Blut. Die grobe Drosselvene schmückt den Hals mehr als Tante Anjuschas Halssilberkettchen. Selbst Pumper-Heiner und Eisen-Osman aus zwölf b und a bekunden regelmäßig ihren Neid. Privat nähre ich einen Hass gegen Aasgeier, lispelnde Schulbrotdiebe und Spaßterroristen. In Zwischenpausen pflege ich Freundschaften; man kennt mich, weiß in etwa, wer ich bin. Nicht alles, was ich tat (ein Cousin ist kein Bruder und mein Vater kein Tochtermörder, nur ein grau melierter Schnauzbart, doch wird er oder werde ich mir früher oder später die Haut vom Körper ziehen, ein Bad in heißem Öl nehmen und mich beschwert auf einen Spitzpflock setzen). Sie wissen in etwa, wer ich bin, führen auch Geburtstagsgespräche mit mir, werfen mir Frisbees im Park zu, schlafen bei, neben und mit mir. Vielleicht hilft Ihnen das, sich ein Bild zu machen.
Die Fingerhaken stecken im Fabrikzaun, kein Klimpern.
Du sollst mich, Fickscheiße, in Ruhe lassen, verebbt mein Echo.
Der Klackertornister schlurft. Schlurft weiter, schlurft an mir vorbei.
Nichts zu danken, sagt der Tornister.

Heute ist etwas passiert. Ich weiß jetzt, dass Daniel einen Kater getötet hat. Vor zwei Jahren, im zweiten Juni-Drittel: Da schien einst die Sonne heiß über den Mülleimern der Innenstadt. Ein kurzhaariger Hund zog eine Frau an der Leine, krümmte den Rumpf froschhaft und pisste eine Pfütze, die erstaunliche Ähnlichkeit mit dem 7. Bezirk der österreichischen, an der Donau ausufernden Herzstadt der Kronleuchterkultur zeigte, in der sich auch diese Geschichte zutrug. Doch mit der Pfütze war es nicht genug! Und was nicht gut roch, war doch zumindest warm, und wurde von einer alten, ringbesetzten Hand im Plastikmantel aufgelesen und für ein gutes Geschäft befunden.
Dies beobachtete aus dem zweiten Stock das Augenpaar eines Salztieres.
Da stürzte etwas vom Himmel, das kein Komet, der im Flug erkaltet, genau genommen nicht einmal dem Himmel entsprungen, sondern dem Umbaudachgeschoss des alleinstehenden Mitarbeiters der Kartonfabrik, Karl, dessen Umbaufenster vorm Aufbruch zur Arbeit einen Spalt zu weit geöffnet, des Kater Milfords Freiheitssprung. Zum schmerzhaft in der Länge quälenden Höhepunkt der Groteske führte ein spießgewordener Ornamentbesatz am Vorderhausgatter und -zaun, der seit gut einem Jahrhundert ein freudloses Geranienbeet umgrenzte. In Richtung des zur Landung aufgespreizten Kater Milfords ragten rostige Speerspitzen. Dies Ereignis konnte nur von einem beobachtet werden, der zur bruchteilhaften Verarbeitung von Zeit imstande war. Hätte sie, die mit der Hand im Plastikmantel erstarrt, weil da doch noch mehr vom Hund zu kommen schien, ihr Hörgerät eingeschaltet, so wäre sie der Todesschreifrequenz induzierten Lautsprecherexplosion einem plötzlichen Herzstillstand nicht unwahrscheinlich erlegen. Während Daniel die Ereignisse der letzten zwölf Sekunden rekapitulierte, fauchte es dort bereits schwer, wo zwei scharfe Spitzen aus dem Rückgrat eines Tieres ragten, das nicht mehr fähig sein konnte, den Schmerz durch regloses Hängen auf ein unerträgliches Mindestmaß zu reduzieren. Selbst wenn ein Kater zur Ohnmächtigkeit fähig gewesen, die Erlösung ließ bitter auf sich warten. Ein Knurren, Schreck und krampfes Bellen, da zog das Tier den Schwanz gekrümmt das Mütterchen den Gehweg fort. Und so begab es sich, dass Daniel, der außer kleinsten Spinnentieren und sich selbst im Mantel das Leben in allen Formen mied, etwas Wichtiges zwar nicht empfinden, zumindest aber als unbestimmten Handlungstrieb erfassen konnte. Er näherte sich Milford behandschuht und würgte den Kater tot.

Und noch etwas ist geschehen. Auch das vorhin am alten Zaunweg. Als die Finger verkrallt wirre Bilder, vielleicht aus Erinnertem oder Gehörsagtem erblühten. Zuerst wusste ich von ihrer Nagellacksammlung im Schminktischfach. Die meisten steckte sie in Drogeriemärkten der inneren Bezirke ein. Ihr Name, Gisa, sie sechzehn im Mai, geläufig waren mir eventuell Bob-Haarschnitt und gelegentliches Auftreten in der Aasgeier-Clique. Ob ich das Neue wissen kann, werde ich noch ergründen; dies sind vorläufige, sind ungesicherte Behauptungen. Davon, dass Gisa versuchte Christin zu werden, sich von einem Jungpfarrer Bibelstunden und anderes geben ließ, sie jedoch nur bis zur Befreiung Ägyptens vorstießen, als er ihr dröge wurde. Dass sie einen Psychologen mag, ihre Eltern aber mit dem Mittelfinger grüßt; sie deren Wohn- und Schlafzimmerbereich nie betreten, nur das eigene sowie Koch- und Klonische (den Duschkasten ebenfalls nicht) und Geld fürs Schwimmbad. Freundschaftliche Regungen sind Gisa eine fremde Sache, die Geier ihre Aasgemeinschaft, sie Einzeltier.
Kommen wir aber zur Leidenschaft, die mich zum Teil dessen und im Übrigen kotzwütend macht. Kommen wir zu Gisas Lustobjekt, zum liebsten Gisa-Opfer; denn Gisas brauchen Opfer; sie existieren durch die Verzweiflung anderer; liegt die Kummerstätte erst brach, sind sie obdachlos, dann müssen sie weiterziehen. Gisa glaubt, Daniel sei aus demselben Kummerland wie sie. Sie begreift ihn als ihr Tamagotchi; sie hat ihm Haut gezeigt, Intimhaut und Haarhaut. Sie lauert, sie erschreckt, sie wirft ihm einen Wackerstein durchs Fenster, hängt ihm ein Zeitungsbündel Exkremente vor den Brieftürschlitz. Woher ich das weiß, weiß ich nicht.

Ich fiebre, schwitze ins Kinderlaken, fühle Schuldsäure im Rückenherz. Da bin ich plötzlich Gisa. Ich binde eine Nylonschlinge, lege sie um den Hals, ziehe die Fäuste beidseitig, prüfe den fadendünnen Schmerz. Ich denke Daniel, denke Salzmensch, denke Kummerland. Ich muss ihm meinen Teufel austreiben, werde jubeln, wenn ich seine weiche Stelle gefunden.

Als ich wieder Esma, beschaffe ich mir eine Pinzette, wenn ich sie tief genug ins Nasenloch, dann kann ich mich operieren. Um sie aus mir heraus zu bekommen, sie alle. Als Zweites zwirn ich eine Scherbe ans Ende und schneide Adam ab. Ob es mich aufatmen ließe, ihn mir aus der Nase zu ziehen, wäre er dann für immer ein blinder Fleck?
»Lieber soll er doch bleiben.«
Sprach’s und steckte in Daniels Salzpanzer.
Falsch! Steckte in Gisa, die den Salzpanzer durch Ferngläser aus der antiquierten Fernsehstube eines oben wie unten freizügig in Feinripp gekleideten Mitte-fünfzig-Mannes studierte, der zu viel Neugier und einsame Geilheit in sich, um sein Hausrecht gegen ein sechzehnjähriges Mädchen zu behaupten.
Ich wusste, was Gisa gesehen und mit der Blutlust des Einzeltieres augenblicklich als die weiche, die molluskenhaft weiche Stelle begriffen hatte. Noch sahen sich die Augen am Salzpanzer satt, die Lust jedoch war schon woanders, war bei der eigenartigen Sammlung unter Daniels Bett, seiner scheinbaren Leidenschaft für Stäube, deren sie teilhaft geworden. Wie genau sie vorgehen wollte, stand offen, war Vorfreude. Was sicher nur, dass sie ihn im Staube vernichten.
Als ich wieder im Zimmer und Esma, Kaltschweiß auf der Stirn, beiß ich die Backenzähne, verfluche, dass ich durch Mitwisserschaft nun eine Rolle zu spielen. Gisa braucht schon eine Waffe, sonst ist sie gleich erledigt; zerre sie an ihren Haaren durchs Kummerland, lasse sie dort zum Sterben liegen, versperre den Weg; Samurai eines Reglosen, aus bald unbekannten Gründen Samurai des Salztieres.

Ich kaue von der Mutter geliehenes Valium zu bitterem Brei. Denke nicht mehr an Adam, denke nur noch Blickstarre, denke Weiß der Wand, denke Einkerbung einer darin versenkten Messerspitze.
In den Park mit trockenen Brokkoliresten; gebe sie Vögeln; lausche Espen; dazwischen Ballenschritt. Einer mit zwei Hunden. Nicht Reso. Halte unsinnige Ausschau. Schlafe ein.
Ein gerader Mann mit Hut sitzt neben mir, als ich aufwache. Schaut Richtung Wiese, englische Hügel. Stehe auf, übergebe mich büschlings. Schmerz im Cortex. Schmerz an Wirbeln. Der starre Mann fragt und schaut nicht; ich gehe einfach. Sehe zwanzig Resos auf dem Weg; bei dreien nicht ganz sicher.
Denke über Heilung von Blutkrebs nach, denke an Finger, die seine Kopfhaut streicheln; sehe die Körperschau; dünn, rippig, die Brust eingefallen; trauriges, brauenloses Gesicht; ich aschfarben, die Brust tütenhaft; orangige Strukturen vom Steiß zum Innenbein, verbogene Füße. Wir könnten Geschwister sein.
Moment mal. Wenn Reso wie ich durch Gedanken geht. Wenn es kein Tumor, sondern Wahnsinn ist. Wenn Reso der Parasit in meinem Kopf und Reso, also Tillmann, nur dessen Abbild und Erinnerung, die er sich in mir von sich geschaffen. Was will er?
Er erzählt mir Geschichten von Gisa und Daniel, von sich selbst. Erzählt er mir auch meine eigene, hat er mich erfunden? Wer ist dieser Reso? Augenblicklich nur die Vernunft, die mir befiehlt, mich aus Fremdem rauszuhalten. Hat er mich fehlerhaft zusammengesetzt und jetzt, wo er merkt, dass ich mich in seine Geschichten einmische, die Figuren, die er geschaffen hat, bedrohe, versucht er mich daran zu hindern? Aber warum hat er mir diese Geschichten überhaupt erzählt, wenn nicht aus dem Grund, dass ich ein Teil davon werde? Oder ist das nur ein Testspiel? Ich kann seiner nicht habhaft werden, weiß nur, dass er verfügt hat, ich soll Gisa in Ruhe lassen. Ich will ihn abschütteln, zurück ins Geschehen, aus dieser übergeordneten Fragerei heraus, doch er ist es, der hier die Regeln macht.

Irgendwann finde ich mich im Park wieder. Ich weiß nicht mehr, wo zuhause liegt, weiß nicht, welcher Tag, und ob ich nicht eigentlich in der Schule. Ich fasse meine Haare, ziehe, gleite, schlage mir ins Gesicht. Zumindest schmerzt es.

Ich liege im Raum. Trage einen Salzpanzer. Versuche, mein altes Ich wiederzufinden. Was der Staub wohl macht? Spüre die Dosen unterm Rücken. Dann: Kein Salzpanzer mehr. Esma Smelick. Matheass. Ich weiß es einfach nicht mehr.

Am anderen Tag laufe ich durch halshohe Gräser. Ich könnte Reso in der Stadt finden, in irgendeiner Stadt. Er wird mir sein Geheimnis verraten, mich aus der Geschichte entlassen. Es ist so herrlich im Sommer. Das ganze Herumgefliege, allseitige Gekreische, dieses Zittern überall. Hier könnte ich bleiben; für einen Traum lang. Ist es nicht schön, wie eine Idee zu sein? Reso kann doch auch warten. Die Begegnung zwischen Gisa und Daniel ist noch nicht erzählt. Ich fühl mich frei davon; vergesse auch, dass er mir den Sommer geschenkt. Ich setz mich einfach in die Sonne. Hier unter einen Baum und da bleibe ich. Vorerst.
Es ist traurig, aber ich weiß, dass es zu Ende gehen muss. Und so suche ich Reso in einem namenlosen Dorf ohne Kirche. Walnussbäume tragen und es ist noch nicht zu spät für einen Spaziergang. Ich halte Ausschau, doch sehen werde ich ihn heute nirgends.

 

ES DENKT. ALSO IST ES. / ES DENKT MICH, ALSO WERD ICH
GEDACHT. ABER SOLLT ICH ES / SEIN, SO BIN ICH ES, DAS SICH
DENKT. ZUMINDEST KÖNNT ICH / MICH DENKEN. NUN: DENKE MICH!
ICH DENKE MICH. ALSO BIN ICH.
aus: Ikarus

Woher ich das weiß, weiß ich nicht.

Sie bäckt einen Kuchen aus dem Internet, den Reso ihr herausgesucht hat, einen mit Schwarzkirschen, die mag er.

Puh, ich stell mir gerade vor, der Kuchen käme aus dem DreiD-Drucker und zugleich erinnert mich jedes „Einzeltier“ an den aktuellen Stand der Gemeinschaft von EinzelPrimaten, die von peergroups bestimmt werden, die selber – möglicherweise – der Herrschaft der Nullen und Einsen unterliegen, die globalisierte, spätkapitalistische Zeit der Nach-Ford-Ära, die Andreas Reckwitz trefflich unter dem Begriff der „Gesellschaft der Singularitäten“ zusammenfasst. Hinzu kommt
Kummerland
nahe an Michael Endes Lummerland, Augsburger Puppenkiste und Jim Knopf, meiner unbeschwerten Kindheitim Nachkriegsdeutschland bis ein ehemaliger Nazi Bundeskanzler wurde ...

Aber dennoch glaube ich, dass ich ein bisschen @Sisorus hinsichtlich der m. E. gemäßigten Verwendung von Ellipsen weiterhelfenkann, unter der Prämisse, dass der folgende eigentlich das vermeintliche Problem auflöst

Ich liege im Raum. Trage einen Salzpanzer. Versuche, mein altes Ich wiederzufinden.
Also Beispiele, wenn es heißt
Als ich wieder im Zimmer und Esma, Kaltschweiß auf der Stirn, beiß ich die Backenzähne, verfluche, dass ich durch Mitwisserschaft nun eine Rolle zu spielen*.
*Das Hifsverb fehlt, haben
Gisa braucht schon eine Waffe, sonst ist sie gleich erledigt; * zerre sie an ihren Haaren durchs Kummerland, lasse sie dort zum Sterben liegen, versperre den Weg; Samurai eines Reglosen, aus bald unbekannten Gründen Samurai des Salztieres.
* "ich", ebenso hier
* Denke nicht mehr an Adam, denke nur noch Blickstarre, denke Weiß der Wand, denke Einkerbung einer darin versenkten Messerspitze.
Und dann fehlt nicht nur vermeintlich das Pronomen, sondern auch das Verb
In den Park mit trockenen Brokkoliresten; gebe sie Vögeln; lausche Espen; dazwischen Ballenschritt.
Usw., und nichts davon ist unzulässig, gibt dem Ganzen Poesie.

Unser Held hat sein Pronomen – „Ich“ – und somit sein „Selbst“ verloren. In einem Satz, den ich nicht notiert hatte, ist wohl bewusst das „bin“ ausgelassen. Das Einzeltier ist gleichermaßen Herdentier. Influencer verseuchen gleich einer Influenca den Individualismus zur Singularität, so wie der Single-Haushalt die erwünschte Lebensform des Handels ist.

Flusenlese – überraschend viel, wie ich finde,

lieber Carlo,

Er hat es gern in jeder Pore – aber woher weiß ich –, dass er das Salz gern in jeder Pore hat
Komma oder abschl. Gedankenstrich weg – beachte im folgenden Zitat das „oder“!
»Ein Gedankenstrich kündigt etwas Folgendes, oft etwas Unerwartetes an ... (Teilweise kann an dieser Stelle auch ein Doppelpunkt oder ein Komma stehen.) D43 Duden | Gedankenstrich und D45:Mit Gedankenstrichen kann man Zusätze oder Nachträge deutlich vom übrigen Text abgrenzen <§ 84>. (Oft können an den entsprechenden Stellen auch Kommas oder Klammern stehen.)

Dass er im schmalen Badezimmer und der Blütenpyjama aus Tussahseide und er ihn von den Schultern wischt, wie das Büßergewandt vorm Scheiterhaufen, sich die Hände mit Blut vollgelaufen und scharlach im Spiegel betrachtet.
Gewand“ ist keineswegs vom Adjektiv „gewandt“ abgeleitet, sondern vom (schwachen) Verb „wenden“, nämlich ein „gewendetes“ Tuch

Daniel der Asperger, der mit der Leichenteilsammlung im Keller, der mit den Zuchtratten, deren Milch er trink[t]

Dies beobachte aus dem zweiten Stock das Augenpaar eines Salztieres.
Warum der Imperativ und nicht „beobachtete“?

Und so begab es sich, dass Daniel, der außer kleinsten Spinnentieren und sich selbst im Mantel das Leben in allen Formen mied, etwas Wichtiges zwar nicht empfinden, zumindest aber als unbestimmten Handlungtrieb erfassen konnte.
Fugen-s nicht vergessen!
Um sie aus mir heraus zu bekommen, sie alle.
„herausbekommen“ ein Wort

Ich kaue von der Mutter geliehene Valium zu bitterem Brei.
„geliehenes“ oder "... kaue das ..." oder „von der Mutter das geliehene Valium“

Ich kann ihm nicht habhaft werden, weiß nur, dass er verfügt hat, …
besser „seiner“

ich soll Gisa in Ruhe lassen. Ich will ihn abschütteln, zurück ins Geschehen, aus dieser übergeordneten Fragerei heraus, doch er ist es, der hier die Regeln macht.

Sicherlich nicht das einzige Mal, dass ich hier vorbeischau!

Tschüss,

Friedel

 

Hallo Carlo,

Davon weiß ich nichts, kann ich nichts wissen; ob das stimmt, was die Aasgeier zwitschern.

Neben der ganz eigenen Sprache ist diese Perspektive, in der sich der Erzähler immer wieder das Wissen ums Erzählte abspricht bzw. dieses hinterfragt, ein spannender künstlerischer Kniff.

Überhaupt, die Sprache.

Er hat es gern in jeder Pore – aber woher weiß ich – dass er das Salz gern in jeder Pore hat? Dass er im schmalen Badezimmer und der Blütenpyjama aus Tussahseide und er ihn von den Schultern wischt, wie das Büßergewand vorm Scheiterhaufen, sich die Hände mit Blut vollgelaufen und scharlach im Spiegel betrachtet.

Den ersten Absatz habe ich vier mal gelesen, mich zunächst gefragt, ob ich mich immer wieder verlese, zuletzt, ob ich gerade einen Hirnschlag erleide. ;) Das ist alles andere als ein einladender Einstieg. Andererseits passt meine Erfahrung wohl auch zur Erzählabsicht.

Ich weiß noch nicht, ob ich die Geschichte mag oder nicht. Auf jeden Fall verdient der Versuch Respekt. Hier werden ja 80% der Geschichte vermittels der Sprache erzählt und ich finde es bewundernswert, wie du diese Sprache durchhältst. Ich vermute da einiges an Mühe und Konzeptionsarbeit hinter.

Gelegentlich hast du mich doch verloren, weil es ebenso Mühe kostet, jedem (verkürzten) Satz zu folgen. Und um wirklich zu verstehen, was hier letztlich geschieht, müsste ich die Story mindestens noch einmal lesen - was ich vielleicht tun werde.

Das Ende kommt mir etwas schwach vor, hier scheint mir die Geschichte zu verlaufen. Ich fand, die letzten Absätze gehören zu den weniger intensiven im Text. Aber vielleicht übersehe ich auch etwas.

Ach doch: Ich habe das gerne gelesen.

Schöne Grüße
Meridian

 
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Hey @Sisorus,

danke fürs Vorbeischauen und diesen sehr schönen Kommentar. Freut mich, dass die Sprache für dich funktioniert. Du bist ja auch auf das Elliptische eingegangen, dazu vielleicht gleich nochmal extra. Ja, das stimmt schon. Die Sprache ist hier sehr wichtig. Grundsätzlich finde ich es sinnvoll – und das ist eigentlich nichts Neues – dass gerade der Anfang etwas 'Bestechendes' haben sollte. @Meridian hat nicht zu Unrecht geschrieben, dass der nicht gerade einladend ist. Ich kann das sehr nachvollziehen, aber sehe eben dieses 'Bestechende' als das Kriterium (ist zumindest mein persönliches). Das bedeutet für mich, dass die Art, wie etwas erzählt wird, entscheidet bzw. bestechen soll. Es gibt ein Dutzend Texte, die beweisen, dass es auch anders geht. In glasklarer Sprache werden die Grundpfeiler der Geschichte gesetzt. Das kann alles sehr gut sein, aber ich suche nach einer Sprache, die reinzieht. Auch das, denke ich mir, ist für manche Leser (wie mich) 'einladend'. Man könnte jetzt rückfragen, ist das also ein Effekt? Ich würde sagen, nein. Es ist für mich irgendwie ein Prinzip. Ein Anfang muss neugierig machen und ich finde selbst beim Lesen sehr schön, wenn das über eine ungewöhnliche Sprache passiert. Natürlich dürfen das keine bloßen Manierismen sein.

Ein anderes Kapitel sind für mich die von dir angesprochenen Ellipsen. Das durchzieht den Text und ist Teil einer Sprache, die ich in dieser Weise interessant finde, und die ich auch gerne selbst lese (natürlich nicht genau sowas, wie soll das gehen; eine besondere Sprache eben). Aber es geht mir nicht darum, dass das jetzt Ellipsen sind oder nicht. Die Ellipsen sind nur die Form, die das letztlich gefunden hat. Es geht ja um die Beobachtungen und den Versuch, Dinge sprachlich und bildlich zu treffen. Würde ich umgekehrt vorgehen, würde ich mir albern vorkommen. Trotzdem sind solche Phänomene natürlich im Nachhinein, wenn man so etwas liest, sehr präsent. Ich habe mich aber auch nicht hingesetzt und überlegt, ich möchte jetzt in Ellipsen schreiben. Das hat sich in dem Moment einfach richtig angefühlt. Ich bin da schon so rangegangen, dass Esma eine besondere Sprache haben sollte, aber eher aus dem Grund, dass mir das wichtig ist, ein eigenes Vokabular. Viele Texte leisten das aus dem Milieu heraus (milieuspezifische Ausdrücke, die den Text durchziehen, ob Jägersprache oder Tussideutsch), von dem sie berichten. Das hat man aber nicht bei allen Texten. Trotzdem begeistert es mich, wenn Texte ihre eigene Sprache haben, die aus einem eigenen Universum schöpft. Ich sehe das in fremden manchmal sogar fast als Schlüssel ihrer herausragenden Wirkung und wünsche mir natürlich, so etwas auch in meinen Texten möglich zu machen.
Meintest du eigentlich Erich Fromm? Habe das übers Lieben nie gelesen und sonst auch nichts, insofern keine Hommage. Ich hoffe, es ist rüberkommen, dass die Ellipsen vor allem auch zu Esmas eigener Sprache gehören und ihnen somit eine ganz eigene 'Funktion' innerhalb des Textes zukommt. Klar verweisen sie auch auf etwas, aber es geht nicht darum, dass sie jetzt nur symbolisch für etwas (in der Gegend herum-)stehen. Esmas Sprache wird fragmenthafter im Lauf der Geschichte. Während sie gegen Ende über Reso nachdenkt, ist das vielleicht etwas klarer von der Sprache, aber nicht von den Gedanken, die sie hat. Die sind wie ein Strudel.
Das mit der Zeitlichkeit, was du angesprochen hast, finde ich einen sehr interessanten Punkt. Es war mir wichtig, dass nicht alles linear und in Abfolge zu erzählen, sondern über die Sprache, vor allem aber die Komposition da einen Schritt weiter zu gehen. Dabei gibt es jetzt keine krassen Zeitsprünge oder so. Gegen Ende wird das nur analog zur Sprache fragmenthafter. Die Ausschnitte und Absätze verkürzen sich und in dem Sinne wird auch das mit der Zeit immer wackeliger, bis sie am Ende ja an einem Ort ist, wo Zeit im Grunde keine Rolle mehr zu spielen scheint. Ist ja auch klar, wenn die Erzählung insofern zu sich selbst kommt als der Erzähler als eine Figur innerhalb der Geschichte sichtbar wird (zumindest in einer Lesart bzw. der Auffassung oder Vermutung Esmas) und das Konstrukt des ganzen, das Erzählte, dadurch relativiert. Also wenn du etwas in die Richtung meintest, dann ja :D

Zu Inzest, Staub etc. will ich erstmal nicht zu viel sagen. Nur dass das Elemente der Figurenzeichnung bzw. Charakterisierungen sind, das heißt aber nicht, dass es deswegen keine Handlung gibt, dass das anti-dramatische PoMo-Literatur sein soll etc. Ich habe mir Mühe gegeben, einen halbwegs klassischen Handlungsaufbau zu konstruieren, natürlich steckt der unter der Schicht dieser Sprache und Figuren. Ich glaube, dass deshalb das Commitment des Lesers bei solchen Texten eine wichtige Rolle spielt. Ob man dem Erzähler zutraut, dass er etwas erzählt, oder sich doch lieber die Mühe spart aus der verständlichen Angst heraus, es könnte wieder nur einer von diesen Schaumschlägertexten sein, vor allem hier, wo nicht selten ein paar Eintagsfliegen ins Forum kommen, die Rätselkiste aufmachen und schauen, was dabei rauskommt. Ich kann das gut verstehen, aber ich nehme meine Texte auf jeden Fall sehr ernst und wer sich damit intensiv auseinandersetzt (auch wenn das keine Bedingung ist, um diesen Text zu lesen oder zu verstehen), der steht am Ende garantiert nicht mit leeren Händen da.

Es freut mich, dass du das gern gelesen hast. Es stimmt auf jeden Fall. Das ist ein Text mit gewissen Herausforderung. Gerade deshalb freut es mich :)

die eine kleine Anmerkung habe ich ausgebessert, mit der Todesschreifrequenz induzierten ... bin ich mir noch nicht sicher. Ich glaube sogar, dass man das so schreiben kann unter der Prämisse, dass hier einfach das 'durch ein (Todesschrei...)' unterschlagen wird.

das 'hat ihm Haut gezeigt' meint ja, dass die beiden schon länger miteinander zu tun haben. Aber es stimmt, der Rest ist komplett im Präsens. Werde mir das nochmal anschauen.

Ich danke dir sehr für deine Mühe, Zeit und interessanten Denkanstöße!

LG
Carlo

 

Lieber Friedl,

es ist immer so schön, von dir zu lesen :herz: (*schleim). Und jetzt kriege ich noch meine ganz persönliche Copyright-Geschichte von dir. Wie Geburtstag.
Danke, dass du hier reingeschaut hast und auch kommentiert.

Ich habe das Eingangszitat nicht gefunden, wo ist das her? 'Ikarus' aus der Ikarus-Sage? Es ist jedenfalls sehr spannend, das nebeneinandergestellt zu lesen. Eben auch wie so ein seltsamer Gedankenstrudel, Selbst-/Fremderkenntnisstrudel.
Der 'DreiD-Kuchen' sollte vorher anders daherkommen: Aus alter Version: "Sie bäckt ihm einen Internetkuchen, den er ihr herausgesucht hat." :lol: Ich denke, das wäre etwas zu viel des Guten gewesen.
Deine Assoziationen zu den 'EinzelPrimaten' treffen es sehr. Nach-Ford-Ära ist ja zugegeben schon ein sehr langer Zeitraum. Selbst die Neoliberalismus-Kritik setzt schon etwas Staub an, finde ich. Obwohl mich neulich die Hypothese überzeugt hat, die Vereinzelung nähme vom Individualismuszwang des neoliberalen Kapitalismus ihren Lauf. So sehe ich es. Finde, es ist nach wie vor ein schwieriges Thema, um darüber zu schreiben, und wenn ich mal alt bin, ist das wahscheinlich längst Geschichte, aber who cares, ich finde das interessant, schließlich schreibe ich nach wie vor Texte darüber.

Der Michael Ende (großer Fan) Zusammenhang ist ja fast schon genial; hatte das aber nicht im Hinterkopf, obwohl, dort vielleicht schon, aber nicht bewusst. Da fand ich das in dem Moment passend, weil es Gisa wieder zum Kind macht. Habe dann überlegt, ob das nicht zu expressiv klingt und darin kitschig, aber mich dafür entschieden, weil man ja auch mal was wagen kann.

Für deine Aufdröselung der Sache mit den Ellipsen bin ich dir dankbar. Das ist sehr konzise und trifft es auch strukturell. Ich habe dazu oben Sisorus was geschrieben. Im Kern, dass es nicht nur diese eine 'Funktion' hat.

Danke auch für die kleinen Korrekturen, die immer schwer ins Gewicht fallen. Das Gewandt ist natürlich ein richtiges Unding. Danke für die Korrektur!
Du hast noch so ein paar Stellen rausgepickt. Ich hätte noch ein paar Mal still lesen können. Beim lauten Lesen habe ichs unterschlagen. Ein Sorry für die Mehrarbeit :p

Deine Valium-Korrektur gefällt mir auch sehr. Gleich übernommen.

Danke, guter Friedl, ich würde ja gerne schon wissen, welchen Text du dir herauspickst, aber Vorfreude ist auch schön.

Gruß
Carlo

 

Moin, Carlo,

nix zu danken (und Entschuldigung braucht es auch nicht)!

Ich habe das Eingangszitat nicht gefunden, wo ist das her? 'Ikarus' aus der Ikarus-Sage? Es ist jedenfalls sehr spannend, das nebeneinandergestellt zu lesen. Eben auch wie so ein seltsamer Gedankenstrudel, Selbst-/Fremderkenntnisstrudel.
Ist der Text, der den Schlüssel zu (damals noch) kurzgeschichten.de gab. Nach dem Vortrag in einem Literaturcafé riet ein Zuhörer, es hierorts mal zu versuchen. Schau mal rein unter
Ikarus

Danke, guter Friedl, ich würde ja gerne schon wissen, welchen Text du dir herauspickst, aber Vorfreude ist auch schön.
Wärstu überrascht, wenn ich schon ne Idee hab - aber aufgepasst - weißtu ja im Prinzip - es wird halbbiografisch, also "historisch" und damit auch Satire. Der Titel steht schon "Wie ich die Stones nach Sterkrade brachte" und setzt sich aus Theorie und Praxis, quatsch, Einzeltier zusammen. Spielt aber vor meiner Entdeckung Rimbauds.

Ich werd mir Zeit lassen!,

bis bald

Freatle

 

Hey @Meridian ,

vielen Dank für deinen Kommentar. Habe mich sehr darüber gefreut. Ich kenne dich noch gar nicht, obwohl du schon länger hier registriert bist als ich. Aber dein 'Comeback' wollte ich mir ohnehin nochmal anschauen. Wahrscheinlich gleich im Anschluss.

Du sprichst die Sprache und Perspektive an. Zu der Sprache, vor allem was den ersten Absatz betrifft, habe ich dir ja weiter oben in der Antwort an Sisorus schon geschrieben. Ich hoffe, diese Antwort ist halbwegs befriedigend.
Mich interessiert, dass du die Perspektive ansprichst und dass du das gleich auch mit dieser Selbsthinterfragung im Text zusammenbringst. Dass die Figur ihre Fiktionalität erkennt ist ein spannender Kniff, das stimmt, aber es ist jetzt auch kein Geniestreich oder so. Das gibt es schon auch. Wichtig ist mir, dass das durchgezogen wird. Ich habe das jetzt nicht ganz bei dir rausgelesen, aber hoffe einfach, dass diese Perspektive für dich in der Weise, wie das erzählt wird, konsistent ist. Ich hatte mir überlegt, das im Präsens zu erzählen, detailliert mit dem Fokus auf das, was sie fühlt. Als würde sie das in ihrer gebrochenen Wahrnehmung einem Therapeuten oder Kommissar erzählen.

Habe mich auch über das Lob zum Durchhaltevermögen gefreut hehe. Es hat mir schon was abgefordert, muss ich sagen, aber es hat auch viel Spaß gemacht.

Deine Anmerkungen zum Ende werde ich nochmal versuchen am Text nachzuvollziehen. Bislang ist das für mich einfach die Retardation vorm Ende. Aber vielleicht sprichst du damit ja noch etwas anderes Wichtiges an. Muss ich nochmal drüber nachgrübeln.

Danke für deinen Kommentar, Meridian, und auf bald!
Carlo

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@Friedrichard

Lieber Freatle :lol: (du scheinst für Spitznamen auch etwas übrig zu haben),

deinen Ikarus werde ich mir zu Gemüte führen. Sehr gespannt, was dich hier hingebracht hat.
Und ist es wahr? Du hast dir schon eine ausgesucht? Ich hoffe dein 'aufgepasst es wird halbbiografisch, historisch' ist kein Seitenhieb auf etwas Unüberlegtes oder Freches, dass ich rausposaunt haben sollte :p
Versteh ich dich richtig, dann wirst du den aktuellen Text bearbeiten, auch wenn 'Theorie und Praxis' mich an noch zwei andere Texte denken ließe, genau wie deine Entdeckung Rimbauds. Also ganz gespoilert fühle ich mich noch nicht und es ist weiterhin Vorfreude bis unangenehm spannend.

Lass dir Zeit!
Zeh Punkt

 

Hallo @Carlo Zwei,

was ... Moment, ich muss mich kurz sortieren.

Das war echt spannend. Aber eins vorab: Der Einstieg, der hat es mir echt erschwert. Man ahnt, dass einen da etwas spezielles, mutiges, tolles erwartet, aber nach diesem Satz hier:

Dass er im schmalen Badezimmer und der Blütenpyjama aus Tussahseide und er ihn von den Schultern wischt, wie das Büßergewand vorm Scheiterhaufen, sich die Hände mit Blut vollgelaufen und scharlach im Spiegel betrachtet.

war ich mir nicht sicher, ob ich dafür bereit bin. Der klingt nämlich falsch. Ich dachte, okay, ist wohl so gewollt, aber will ich einen Text voller gewollt falscher Sätze lesen? Mittlerweile, am Ende angekommen, bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob der wirklich so gewollt ist, weil die anderen Sätze machen alle Sinn, sind zwar stellenweise abstrakt und alles andere als "normal", aber zumindest nicht falsch.

Ansonsten ist mir nur noch das hier negativ aufgefallen:

Sie bäckt einen Kuchen aus dem Internet,

Müsste das nicht backt heißen?

Keine Ahnung, ob ich das alles richtig verstanden habe, ob man das überhaupt verstehen kann bzw. soll. Ich weiß nicht, wer da erzählt, in welchem Zusammenhang die erwähnten Personen zueinander stehen - ob die überhaupt existieren oder nur Wahngebilde sind. Für mich fühlte sich das mehr wie ein Gedanken-/Eindrücke-Potpourri an, ein sprachgewaltiges (krümmte den Rumpf froschhaft und pisste eine Pfütze - erst mal sacken lassen), wie das Störbild, das früher nachts im Fernseher kam, mit den tausenden, wild umherrennenden Ameisen, und wenn man zu lange draufstarrte, meinte man, ein Bild zu erkennen, und wenn man noch länger draufstarrte, würden die einzelnen Bilder vielleicht eine zusammenhängende Geschichte ergeben.

Sind das die Einzeltiere, diese Bilder, diese Menschen? Ist das der Kern der Story? Oder lieg ich komplett daneben?

Man könnte auch sagen, der "Geschichte" fehlt der rote Faden, das ist Humbug, was da steht. Mach ich aber nicht.

Spannend war's, inspirierend, danke dafür!

Liebe Grüße,
Akka

 

Hallo @Carlo Zwei

bevor ich den Kommentar zu meiner Geschichte beantworte, nutze ich die Gelegenheit trotz der so lähmenden Zeiten, ein paar Gedanken zu deinem Traumtext anzubringen.
Als Sprachrausch, rein ästhetisch betrachtet, habe ich die Story sehr genossen. Auf der Bedeutungsebene im Grunde auch, weil ich ohnehin der Ansicht bin, dass nicht jeder parabelhafte Text dringend bis in alle Tiefen verstanden werden muss.
Trotzdem fehlt was, das ich anfangs gar nicht benennen konnte, erst beim zweiten Lesen deutlicher wurde. Die Ideen wuchern, die Bilder überfluten mich als Leser und am Erzähler kann ich mich nicht festhalten, nicht am Salztier, nicht am Einzeltier, der nicht nur unzuverlässig (was bei einem Ich-Erzähler den Kontrapunkt zu Distanz und Nähe ermöglicht) sondern auch mMn unglaubwürdig wirkt. Wer ist der, der uns das erzählt? Der Autor, der Ich-Erzähler (der jung erscheinen will und doch intellektuelle Schactelgedanken formuliert, kühn zwar, beobachtusngpräzise, aber irgendwie kann ich nicht glauben, dass er das so denkt, wie ich das lese. Also vermute ich den Schlingel von Autor, der dahintersteckt..
Dennoch: ein mutiger Text mit einer Menge Potential, sprachlich, stilistisch auf sehr hohem Niveau, obwohl es Stellen gibt, die over the top gehen, redundant erscheinen, wenn man sie nicht dem Rausch des Erzählers zuschreibt.

Konkreter:

Blütenpyjama aus Tussahseide ist und er ihn von den Schultern wischt, wie das Büßergewand vorm Scheiterhaufen,
sehr schöner Vergleich, überhaupt finde ich deine Vergleich frisch. Okay: Tussahseid, schon ein bisschen manieristisch.

wie die Hausstaubmilben unterm Bett, die mit Schimmeln, Hefen und anderem dosenförmige Biotope bilden
:D müsstemal unter dem Bett den Staub entfernen, schätze ich

nur die braunen Augen, die er von der Mutter und die eine Freundin des Vaters im besuchsweisen Rhythmus zu einer Reihe unüberlegter Komplimente bewog,
lies das mal: grammatisch stimmt was nicht, zu was bewegen die braunen Augen?

Daniel der Asperger, der mit der Leichenteilsammlung im Keller, der mit den Zuchtratten, deren Milch er trinkt. Davon weiß ich nichts, kann ich nichts wissen; ob das stimmt, was die Aasgeier zwitschern.
wenn ich das Semikolon übersehe verstehe ich den Zusammenhang nicht, warum setzt du nicht einen Punkt.

Erfindungen eines im Hirn vermantelten Männekens
gute Beschreibung der Legenden, die wir erfinden, um die Welt, die uns ummantelt, zu verstehen.

Sie bäckt einen Kuchen aus dem Internet,
so, guano betrachtet backt sie also das Internet selbst.

genießt den Abglanz der Elternliebe, der von seinem in ihre Gesichter strahlt,
präzise beschrieben, gefällt mir

An reichlich vorhandenen Nachmittagen lese ich Lewis Caroll oder sammle Escher-Fotokopien in weiten Nappaledermappen.
an manchen Stellen kannst du Adjektive mMn weglassen, welchen Mehrnutzen bringt es, dass die Ledermappen weit sind?

sodass ich ihn in eine Petrischale goss, um seine DNA zu entschlüsseln und mich selbst wieder zu verstehen.
:thumbsup:fein beschrieben

Du sollst mich, Fickscheiße, in Ruhe lassen, verebbt mein Echo.
Fickscheiße, wer sagt so was?

Herzstadt der Kronleuchterkultur
also meine Erfahrung mit Neologismen: nicht häufen...

spießgewordener Ornamentbesatz am Vorderhausgatt
spießgeworden?

Freundschaftliche Regungen sind Gisa eine fremde Sache, die Geier ihre Aasgemeinschaft, sie Einzeltier
mm, wo ist die grammatische Verbindung innerhalb des Satzes?

Sie begreift ihn als ihr Tamagotchi; sie hat ihm Haut gezeigt, Intimhaut und Haarhaut.
Intimhaut, Haarhaut: :thumbsup::Pfeif:

Als ich wieder Esma, beschaffe ich mir eine Pinzette, wenn ich sie tief genug ins Nasenloch, dann kann ich mich operieren.
[/QUOTEals ich wieder Emma...? ins Naenloch...?
]
sehe die Körperschau; dünn, rippig, die Brust eingefallen; trauriges, brauenloses Gesicht; ich aschfarben, die Brust tütenhaft; orangige Strukturen vom Steiß zum Innenbein, verbogene Füße.
lass doch gleich die Substantive weg :lol:

Wie gesagt: ein inspirierender Text, der bietet, aber nicht alles hält, was er verspricht

Bleib.doch-unbedingt-gesund-Grüße (muss man ja jetzt immer beifügen in den Zeiten des Schreckens und dem Abendrot der globalisierten Welt)
Isegrims

 

Hallo @Carlo Zwei!

Mir fällt es schwer, dir einen guten, hilfreichen Kommentar zu schreiben. Ich habe den Eindruck, die Komplexität deines Textes nicht ganz erfasst zu haben. Ich habe ihn paar Mal gelesen und jedes Mal stellten sich neue assoziative Ketten ein. Vielleicht hast du versucht, ein bestimmtes Zeitgefühl, eine bestimmte Wahrnehmung einzufangen, in der sich Menschen an sehr detaillierten, seltsamen Angewohnheiten orientieren als an festdefinierten Entwicklungsphasen. Mir gefällt dieser Ansatz. Aber falls du jetzt ein Urteil erhoffst, eine binäre Note (Ist das gut? Ist das nicht gut? Ist doch eh ein Superwitz, dass ausgerechnet künstlerisches Schaffen in der psychologischen Wahrnehmung oft auf "Gut geschrieben, schlecht geschrieben" reduziert wird) erwartest, muss ich dich leider enttäuschen - mir fällt es echt schwer zu sagen, ob das ein guter oder ein nicht so guter Text ist. Ich habe ihn sehr gerne gelesen; sehr gerne, denn die Bilder überstrahlen die Protagonisten, der Text schillert je nach Perspektive anders, eine plastische Kreativität deines schriftstellerischen Talents. Ein schöner Text zum Zerpflücken und Suchen, zum Inspirieren und Über-über-denken, da ist ja "janz" viel drin. Es sind keine Menschen, die du beschreibst, sondern eher ephemere Identitäten.

An manchen Stellen erinnerten mich der Text an David Foster Wallace, der ja auch einen solchen hyperkomplexen Ansatz verfolgt (so empfinde ich das zumindest - alles findet gleichzeitig statt und alle Ebenen, von der individuellen zur gesellschaftlichen verschmelzen sich) und ihn mit irrsinnig exakten Beschreibungen ausbaut:

Zum schmerzhaft in der Länge quälenden Höhepunkt der Groteske führte ein spießgewordener Ornamentbesatz am Vorderhausgatter und -zaun, der seit gut einem Jahrhundert ein freudloses Geranienbeet umgrenzte.

Falsch! Steckte in Gisa, die den Salzpanzer durch Ferngläser aus der antiquierten Fernsehstube eines oben wie unten freizügig in Feinripp gekleideten Mitte-fünfzig-Mannes studierte, der zu viel Neugier und einsame Geilheit in sich, um sein Hausrecht gegen ein sechzehnjähriges Mädchen zu behaupten.

Ich schreibe dir mal auf, was mir im Laufe des Lesens Deines Textes aufgefallen ist.

Ich kann nicht wissen, dass er den Staub fremder Dachböden sammelt; in braunen, Edding beschrifteten Tabakdosen unterm Bett. Der, der sich beim Einatmen an den Lungenbläschen festsetzt, der unterm gestohlenen Schulmikroskop graue Hüllen- und Fädenberge mit sporentiefen Schatten zeichnet. Da hat sich eine Lust in Daniel eingenistet und die krabbelt in Gedanken wie die Hausstaubmilben unterm Bett, die mit Schimmeln, Hefen und anderem dosenförmige Biotope bilden – woher ich das weiß, weiß ich nicht. Ich kenne Daniel kaum.

Das große Krabbeln und die "dunkle" Biologie - vor allem zu Beginn verwendest du sehr geschickt dieses Motiv, dieses Sachfeld. Dosenförmige Biotope gefallen mir besonders. Eine Welt ohne Licht oder besser, die zum Leben ohne Licht auskommt. Das passt, finde ich, zum Rückzug Daniels in den Salzpanzer. Dieser Rückzug basiert aber auf der phantasievollen Einschätzung des Ich-Erzählers: Esma malt sich Daniel-Tillmann-Resos Leben sehr detailliert und sehr analytisch aus.

Mein Name ist Esma Smelick. Ich bin sechzehn und ein Matheass.

...sodass ich ihn in eine Petrischale goss, um seine DNA zu entschlüsseln und mich selbst wieder zu verstehen. Seitdem lasse ich die Finger vom Thema. Muskelballen, Unterarmsehnen, stramme Oberlendenpäckchen sind mein Stolz und Blut.


Naja, was bedeutet es denn, einen Humor in eine Petrischale zu gießen und nach DNA zu suchen? Humor kann mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden analysiert werden und auf ein simples Modell reduziert werden. Gibt schöne inferenzstatistische Auswertungsverfahren dazu. Wahrnehmung erfordert eine, Zitat, "bruchteilhafte Verarbeitung". Vielleicht auch so gedacht: Im Grunde denkt Esma, dass man Humor aufzeichnen kann. Das Modell der DNA kann man aufzeichnen, sofern man halbwegs perspektivisches Zeichentalent besitzt. Sie ist ein Objekt. Humor ist ein Objekt. Und viele Sätze in deinem Text wirken auf mich sehr objektorientiert. Die Handlungen, das, was deine Charaktere tun, zeigt sich an Objekten und ihren Eigenschaften, sie binden Nylonschlingen, sie haben Muskelballen, der Schmerz ist fadendünn, im Mantel meidet das Leben alle Formen. Das sind übergroße, viele Bilder, die die "ephemeren Identitäten" auf viele, kleine Objekte reduzieren. Uff, ich hoffe, du verstehst ungefähr, was ich meine: Statt Menschen hast du flüchtige Identitäten, die sich über kleine Objektteile chrakterisieren. Mehr nicht. Überhaupt, die Identitäten des Tillmann-Daniel-Reso-Komplexes.

Da stürzte etwas vom Himmel, das kein Komet, der im Flug erkaltet, genau genommen nicht einmal dem Himmel entsprungen, sondern dem Umbaudachgeschoss des alleinstehenden Mitarbeiters der Kartonfabrik

Und so begab es sich, dass...


Ja, und hier wird kräftig entmystifiziert. Finde ich recht passend in dieser objektreichen Welt deines Textes. Ist das nicht typischer Bibelstil? "Und so begab es sich, dass...", da hört manch katholischer Kommunionsschüler die Weihnachtsgeschichte heraus. (okay, die beginnt mit "Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde" [Luk 2:1], aber den Übersetzern hätte ich auch ein "Und so begab es sich, dass Kaiser Augustus" zugetraut).

Gelegentlich stecke ich mir einen Finger in den Hals und hole es aus mir heraus.

Ich kaue von der Mutter geliehenes Valium zu bitterem Brei.


Ist damit das Pflaumenödem (herrliches Wort!) gemeint? Als Symbol für Wahnsinn? Im ersten Lesen sah ich hier ein lapidares Kommentieren einer Essstörung. Jetzt eher das lapidare Kommentieren einer psychischen Störung. Die vielleicht wirklich ist. Oder nicht. Ach, was ist schon Wirklichkeit! Ist doch alles subjektiv? Nee, doch nicht. - okay, hier übertreibe ich etwas. Aber ob diese lapidare Erwähnung mehr zum individuellen Schärfen der Identität dient oder eine wirkliche, echte, lebensbeeinflussende Störung beschreibt, ich weiß es nicht.

Dennoch habe ich den Eindruck, dass nebensächliches Erwähnen von psychischen, somatischen Störungen und rezeptpflichtigen, nein rezeptpflichtigen Medikamenten nach Betäubungsmittelgesetz, ein etwas abgegriffenes Stilmittel geworden ist. Ich habe so etwas öfters gelesen: Lithium oder SSRIs werden erwähnt, Ibus ab 600mg, im Kern also der Versuch, seinen "Weltschmerz" pharmakologisch zu beschreiben. Gut, ich übertreibe hier. Es ist auch eher ein kleiner Punkt.

***

So,@Carlo Zwei, das sind ein paar kurze Gedanken zu deinem Text. Ich denke, er verdient das Prädikat "poststrukturalistisch". Ich habe ihn, wie gesagt, sehr gerne gelesen. Er ist auch ein Zeugnis deiner Kreativität, deiner Assoziationen, deiner Sprachmacht. Ich glaube, ich könnte noch sehr, sehr viel mehr dazu schreiben, würde mich aber zu sehr in viele kleine Verästelungen verirren.

Lg
kiroly

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @Carlo Zwei

Ich nähere mich dem Text über den Namen der Erzählerin, Esma, im Arabischen mit Verständnis und Gehör verbunden, lese ich auf Wikipedia, und das passt ganz gut, denn genau das habe ich mir gedacht: Esma hört ihre Mitmenschen, sie geht durch ihre Gedanken, sie weiss nicht, woher sie es weiss, sie weiss es einfach, sie weiss es so sehr, dass sie zuweilen nicht mehr sicher ist, ob sie nicht vielleicht ihre Mitmenschen ist, und sie selbst überhaupt nicht real, weil sie in diese anderen Menschen übergeht, in ihre Sonderbarkeiten. Denn sie versteht, doch sie versteht nicht so, wie wir es normalerweise kennen, ich verstehe dich, ja ja, bla bla, so wie eben Aasgeier verstehen oder Verstehen heucheln.

Da ist Reso, der krebskranke Metalboy, der ihr nachsteigt, scheu und ungeniert ein paar Schritte hinter ihr her. Den sie anweist, sie in Ruhe zu lassen, und doch auch Ausschau nach ihm hält, denn Reso, dem Rippigen und Kranken, fühlt sie sich nahe wie eine Schwester. Reso fand ich eine zugängliche Figur.

Da ist Daniel, der sich einpanzert in Salz (ein Bild, das sich mir nicht so ganz entschlüsseln will), der Staub sammelt, Mikroskope stiehlt und sich durch seine Augen von einem Tier unterscheidet. Und doch bricht das Tierische aus ihm heraus, als er die Katze tötet (die Passage war mir - in Relation zum Rest - gefühlt etwas zu lang geraten). Doch unter dem Panzer ist weiches, molluskenhaftes Fleisch, eine schwache Stelle, die ...

... Gisa entdeckt hat, die Daniel offenbar nur deshalb Intimhaut und Haarhaut gezeigt hat, um ihn an dieser schwachen Stelle zu greifen, ihn als Tamagochi zu behandeln und zu zerstören. Gisa finde ich ganz wunderbar skizziert, solche kannte ich auch.

Und Esma? Samurai des Salztieres. Sie will schützen. Sie denkt über die Heilung von (Resos) Krebs nach. Sie hört und versteht die Verzweiflung der anderen, auch Gisas, wie mir scheint, obwohl sie sie nicht mag. Dabei ist Esma selbst ein Fragment ihrer Selbst, aus sich herausgetreten. Schläft mit dem Cousin und mit dem Vater offenbar auch, wenn ich das richtig gelesen habe. Übergibt sich. Kaut Valium zu bitterem Brei.

Ja, da hast du auf der sichtbaren Oberfläche eigentlich nichts als eine etwas kaputte Erzählerin, die über ihre Mitschüler nachdenkt, Asperger, Verliebte und Getriebene, Aasgeier, kleine Intrigen. Liesse sich als normale Coming-of-Age-Geschichte erzählen.

Du machst es anders. Mir fällt eine meiner Lieblingsszenen der Filmgeschichte ein, am Beginn von Lynchs "Blue Velvet", wo die Blumen farbenprächtig blühen, das Gras leuchtet grün und kräftig in der Sonne und da fährt die Kamera nach unten und in den Boden und dort wuseln die Käfer und die Würmer und das wird auch akustisch untermalt, und mir scheint, als hätte Esma genau diese Fähigkeit: Unter das grüne Gras zu blicken und zu horchen, in die Abgründe, die Ängste, und das dann in einer ganz eigenen Sprache auszudrücken (bei der sich mir nicht mal für eine Millisekunde die Frage stellt, ob ein Teenager so sprechen würde, weil eine solche Frage meines Erachtens am Text vorbeizielen würde) und das macht den Text für mich sehr besonders.

Kleine Kritik: Den Einschub ab: Moment mal hätte ich nicht gebraucht. Wie du selbst sagst, ist die Idee nicht ganz neu und seit Stranger than Fiction ja auch genügend ausgewalzt. Für mich passt diese kleine intellektuelle Spielerei nicht so recht zum Text, du hast die Erzählerin ja bereits aufgelöst, fragmentiert, dissoziiert und zwar auf eine eindringliche Weise, so dass die Wendung, in der sie selbst auf den Gedanken kommt, nur eine Figur in einer Geschichte zu sein, nicht mehr nötig ist, und dem Text in meinen Augen auch ein Stück seiner Ernsthaftigkeit und Eindringlichkeit beraubt.

Sehr gerne gelesen!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Liebe/r @Akka ,

danke für deinen sehr schönen Kommentar. Freue mich sehr, dass du den Text mit Offenheit gelesen hast und dich von dem Anfang nicht hast abschrecken lassen.

Nach deinem Kommentar habe ich den Anfang sprachlich nochmal etwas auf eine ältere Version zurückgesetzt und nochmal zwei Kommas eingefügt. Ich denke, jetzt müsste es schon etwas klarer sein.

Bei backt bzw. bäckt sind beide Schreibweisen gestattet. Aber ich finde es immer gut zu wissen, wenn sich jemand dann am einen stört. Wenn sich das häuft, tendiere ich zu der gebräuchlicheren Version.

Klar ist das ein Text, den man 'verstehen' soll. Das hat natürlich auch ein paar Grenzen je offener gewisse Stellen gelassen werden. Aber deinen Leseeindruck kann ich auf jeden Fall verstehen. Dass das wahnhaft erscheint, das ist es auch. Peeperkorn hat die Figurenzusammenhänge noch einmal dargelegt. Es ist natürlich immer die Frage, muss ein Text so gestaltet sein, dass man ihn im ersten Durchrauschen versteht oder kann er auch einfach rezipiert und im Nachgang (wenn man das möchte) weiter verstanden werden. Um bei deinem Bild mit den Ameisen zu bleiben. Das hier ist auf jeden Fall kein Dada-Text, bei dem die Teile willkürlich durcheinanderflattern. Da wird schon eine Handlung geschildert und über verschiedene Figuren gesprochen. Dazu hatte ich etwas an Sisorus geschrieben. Da ging es um ein gewisses Commitment, das so ein Text dem Leser abverlangt. Der Leser vertraut dem Erzähler im besten Fall, dass er sein Handwerk versteht und einen nicht mit leeren Händen aus der Geschichte entlässt. Wenn das gegeben ist, also ein Sichdaraufeinlassen, wird der Text, glaube ich, bereits aufgrund der positiven Erwartungshaltung leichter zugänglich. Aber ja, viel verlangt, das ist so.

Die Einzeltiere sind die Figuren, um die es geht. Das ist ja ein von der Erzählerin eingeführter Begriff, mit dem sie zunächst nur Gisa beschreibt. Ich habe diesen Begriff aufgegriffen und als gemeinsames Prinzip all der hier zusammenkommenden Figuren gesetzt. Ein Stück weit ist es also die Frage, ob der Leser das auch so sieht, dass die Figuren 'Einzeltiere' im Sinne Gisas sind oder Esma (die Erzählerin) vielleicht auch Reso sich von diesen durch ihre Handlungen unterscheiden. Wenn es da eine große Kluft gäbe zwischen meinem Titel und der Wahrnehmung des Textes, würde ich den wahrscheinlich über kurz oder lang ändern müssen. Erstmal finde ich deine Frage, wer diese Einzeltiere denn jetzt wirklich sind, absolut berechtigt und sinnvoll (weil es steht ja so nirgends im Text, der Begriff wird einfach von Esma verwendet, als hätte sie eine eigene Sprache).

Das letzte habe ich nicht ganz verstanden. Meinst du, dass du findest, dass da ein roter Faden fehlt, oder dass man das auf den ersten Blick meinen könnte? Ist ja ein wichtiger Unterschied :p

Freue mich sehr für deine Wertschätzung der Sache und dass du hier ins Forum gefunden hast. Ich finde man merkt sehr gut, wenn man hier auf jemanden trifft, der noch ein Weilchen länger bleiben könnte ...

Hoffe ich es mal.
Lieben Gruß
Carlo

 

Hallo @Carlo Zwei noch mal,

Es ist natürlich immer die Frage, muss ein Text so gestaltet sein, dass man ihn im ersten Durchrauschen versteht oder kann er auch einfach rezipiert und im Nachgang (wenn man das möchte) weiter verstanden werden. Um bei deinem Bild mit den Ameisen zu bleiben. Das hier ist auf jeden Fall kein Dada-Text, bei dem die Teile willkürlich durcheinanderflattern. Da wird schon eine Handlung geschildert und über verschiedene Figuren gesprochen. Dazu hatte ich etwas an Sisorus geschrieben. Da ging es um ein gewisses Commitment, das so ein Text dem Leser abverlangt. Der Leser vertraut dem Erzähler im besten Fall, dass er sein Handwerk versteht und einen nicht mit leeren Händen aus der Geschichte entlässt. Wenn das gegeben ist, also ein Sichdaraufeinlassen, wird der Text, glaube ich, bereits aufgrund der positiven Erwartungshaltung leichter zugänglich. Aber ja, viel verlangt, das ist so.

Einen ähnlichen Gedanken hatte ich auch schon während bzw. nach dem Lesen deiner Geschichte. Ich kenne dich nicht, ich kenne dein Schaffen nicht, ich weiß nicht, mit welchem Commitment du selbst dabei bist. Wenn ich wüsste: Ach ja, das ist doch dieser Kafka, der quasi gar nicht anders kann als schreiben, der Buchstaben schwitzt und ... Sollte klar sein, worauf ich hinausmöchte. Dann wüsste ich im Grunde schon im Vorhinein, dass das kein Dada-Text ist, und würde den vielleicht auch ganz anders lesen.

Ich sage bewusst vielleicht, weil vielleicht hätte ich ihn dann trotzdem ganz genauso gelesen. Ich habe auch Kafkas Verwandlung so gelesen, und wahrscheinlich habe ich deshalb sowohl da als auch hier eine Menge verpasst, aber es gibt ja glücklicherweise keine Gebrauchsanweisung fürs Lesen. So macht es mir auf alle Fälle am meisten Spaß, und lesen ist ja vor allem das: Eine persönliche Sache, glaube ich.
Die Lücken, die sich auftun, kann ich selbst schließen. So, wie es mir gefällt, wie es mir sinnvoll erscheint, kann sie mit eigenen Erfahrungen, Sinnzusammenhängen, etc. stopfen.
Vielleicht eigne ich mir also deine Geschichte an und mache einfach meine eigene draus. Oder: Ich werde eins mit deiner Geschichte und lese sie so viel intensiver, als wenn ich sie so lesen würde, wie es vom Autor "beabsichtigt" war.

Gut zu wissen jedenfalls, dass da mehr dahintersteckt, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Und wahrscheinlich ist die Sache auch gar nicht so tief verborgen, wie ich das vielleicht dachte, offenbar haben andere die Fäden ja zusammenknüpfen können. Und um das noch mal klarzustellen: Wie einen Unsinnstext habe ich deine Geschichte sicher nicht gelesen, man spürt ja regelrecht, dass da was dahintersteckt. Ich war nur nicht in der Lage, die Fäden auf Anhieb zusammenzuführen, hatte dann die Wahl zwischen überaufmerksamen, möglicherweise mehrfachem Lesen, oder mich einfach dem Rauschhaften hinzugeben, was ich weitaus lieber mag.

Um daber mal auf den eigentlichen Punkt zu kommen und nicht so viel abstrakten Quatsch zu reden: Wenn eine Geschichte imstande ist, meine eigene Fantasie anzuregen, mich nicht mit "fertigen" Bildern füttert, sondern mich dazu verleitet, selber welche zu kreieren, dann hat sie für mich persönlich alles richtig gemacht. Deine hat das getan.

Die Frage, die offen bleibt: Wünscht man sich als Autor einen solchen Leser? :D

Liebe Grüße,
Akka

 
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Hey @Isegrims ,

danke für deinen ausführlichen Kommentar. Habe ich sehr gerne gelesen. Finde es verständlich, dass du die aktuelle Situation als lähmend empfindest. Tatsächlich geht es mir auch so, auch wenn ich es sehr genieße so viel Zeit fürs Schreiben und Herumwerkeln in der Bude zu haben.
Schön, dass dir Text vom Ästhetischen und ja auch Inhaltlichen was bieten konnte. Nee, der muss nicht in allen Tiefen verstanden werden. Allerdings soll der Text auch einladen, sich darin zu vertiefen. Es kann natürlich nicht darum gehen, da mit einem Wörterbuch oder dergleichen zu sitzen. Es ist ja auch eher eine textinterne Sprache die hier natürlich in gewisser Weise Hindernis, aber auch Bereicherung sein kann.
Deinen Einwand, dass der Autor hier in den genauen Beobachtungen und Syntax-Verästelung sichtbar wird, verstehe ich ganz. Das ist ein sehr spannender und natürlich wunder Punkt. Wenn man sich fragt, ja, kann denn die Figur wirklich so denken, dann stellt das den Text ja nochmal ganz anders auf den Prüfstand. Ich sage es mal so. Ich denke, das ist schon richtig, das in Frage zu stellen, der Text bietet aber auch die Möglichkeit, das zu glauben, wenn man so will. Die Erzählerin fragt sich den ganzen Text über, woher sie dieses Wissen hat, wer ihr das eingegeben hat. Sie vermutet, fragt: Liegt es an einem Hirntumor oder dergleichen, hat sie so eine Art seltene Inselbegabung erlangt oder ist das am Ende nicht mehr mit Wissenschaft zu erklären oder ist sie einfach wahnsinnig und das alles ist erfunden? Gegen diese dritte Lesart spräche dann formal deine Anmerkung (kann sie wirklich so sprechen). Hier gäbe es nur noch den Anhaltspunkt, dass sie ein besonderes Talent für Sprache hat. Tatsächlich ist das in Jugendromanen fast generell ein Problem. Ob es jetzt die Figuren in Eine wie Alaska, Tschick oder Auerhaus sind, selbst wenn sie authentisch sprechen, wohnt ihrer Dialogführung immer etwas Planmäßiges inne. Dieses Argument: der/die hat eben ein Sprachtalent ist daher schon fast so etwas wie eine Trope geworden. Sicherlich vermeidbar.

Danke auf jeden Fall auch, dass du dem Mut und Potential zusprichst. Deine herausgepickten Stellen, werde ich in großen Teilen übernehmen. Das mit dem Semikolon etwa war ein super Hinweis. Auch die Sache mit den Adjektiven. Das ist dann stellenweise schon etwas abgehalftert, gebe ich zu. Da gehe ich nochmal ran. Auch die Anmerkungen zu einzelnen Neologismen. Das mit den Substantiven am Ende habe ich nicht ganz verstanden, wie du das meintest.

Freut mich jedenfalls, dass der Text dir was bieten konnte und bleib du auch gesund!
Carlo

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber @kiroly,

auch wenn es dir mit dem Kommentieren schwer gefallen ist, wie du schreibst, kriegt dein Feedback jetzt einen binären Upvote von mir ;) Vielen vielen Dank für diesen wunderbaren Kommentar. Habe dir schon geschrieben, dass ich den nicht nur drei mal lesen werde. Ich muss auch dringend Mal ein Backup mit den WK-Kommentarbereichen machen, nur für den Fall ...

Ob ich da jetzt ein bestimmtes Zeitgefühl einfangen wollte, ja, aber das war jetzt nicht prinzipiell wichtig. Das ist etwas, glaube ich, das ich aus der collage-haften Schreibweise fast von selbst ergibt. Das erlaubt mir, sehr frei mit der Zeit umzuspringen. Es gibt da Rückblenden und durch die besondere Thematik ja auch unmögliche Momentaufnahmen, weil sie ja scheinbar dort am alten Zaunweg so eine Eingebung bekommt, wo sie etwas über Daniel (das mit der Katze) und über Gisa erfährt. Dann liegt sie im Bett, das ist später (könnte natürlich auch früher sein, aber es gibt hier eigentlich schon eine gewisse Linearität, nur das die einfach stark aufgebrochen und mit Sprüngen durchsetzt ist).

Was das mit der bestimmten Wahrnehmung angeht, da kann ich sagen, ja, das war mir wirklich auch gesondert sehr wichtig. Das hängt schon auch mit der eigentümlichen Sprechweise Esmas zusammen, ihrem Vokabular. Ist aber natürlich auch mit dem Collagehaften und auch mit der Story verbunden. Es geht ja darum, dass ihr Verstand immer weiter abdriftet, dass es dann nur nicht klar ist, weshalb denn eigentlich (wegen eines Tumors/Pflaumenödems im Kopf; weil das irgendetwas seltsam Telepathisches ist oder weil sie wahnsinnig, vielleicht auch durch den Stress im Zusammenhang mit der Cousin-Affäre verwirrt ist, dass das etwas Schizophrenes triggert. Das steigert sich klimaktisch. Das war der Plan.

Zu der Bewertung von Texten will ich auch noch was schreiben. Ich sehe das nämlich anders (wahrscheinlich im Gegensatz zu einigen und vielleicht auch etwas eng). Du hast geschrieben, "Superwitz, dass ausgerechnet künstlerisches Schaffen ... auf gut geschrieben ... reduziert wird". Ich hab ja auch durch Studium mit der sogenannten Bildenden Kunst (eigentlich gar kein so schlechter Begriff, finde ich) was zu tun. Da sehe ich das genauso, was bei meiner Berufswahl natürlich das eigentlich Witzige ist. Ich mache da komischerweise einen Unterschied. Für mich ist Literatur viel eher bewertbar als Kunst. Ich finde, eine Eigenschaft von Kunst ist es, sich Bewertungen zu entziehen. Das würde ich eventuell noch der Lyrik zuschreiben, nicht aber der Prosa. Klar, genau Texte wie dieser hier, bilden den Grenzbereich. Trotzdem, wenn du mich fragst, wird da die Antwort kommen, ich finde das bewertbar. Vielmehr stellt sich mir die Frage, nach welchen Kriterien denn bewertet wird. Ich habe da meine eigenen, die im Wesentlichen auf Erfahrungen und allgemeinen und speziellen, literaturorientierten Kriterien aufbauen. Beispielsweise ist es für mich eine Eigenschaft herausragender Texte lineare Szenenfolgen und typische Dialogformen abzubauen. Zwar mache ich das auch nicht immer, es ist für mich ja auch nur eines unter vielen Kriterien, aber ich finde zum Beispiel, das gute Literatur auch etwas Neues ausprobiert. Wenn ich sehe, ein Text entspricht in sehr vielen Punkten meinen Kriterien, dann fühle ich mich durchaus in der Lage zu sagen, das ist ein aus meiner Perspektive sehr guter Text.

Über das Lob hier und da habe ich mich natürlich auch sehr gefreut, walze das nicht aus, aber erlaube mir insgeheim, mich andernorts in diesen Balsam zu legen wie in eine heiße Badewanne :p

Finde es interessant, dass du die Gestalten hier als emphemer und objektbasiert bezeichnest. Da ist schon was dran. Obwohl bei den Objekten zumindest in der Planung für mich nur bedingt. @Peeperkorn hat die Figurenkonstellation ziemlich genauso aufgeschlüsselt, wie ich sie mir gedacht hatte. Natürlich ist da schon noch ein bisschen mehr, aber prinzipiell trifft es das sehr.

David Foster Wallace finde ich selbst sehr beeindruckend. Vor allem die Kurzgeschichten, die ich gelesen habe. Das ist ein toller Schriftsteller gewesen, soweit ich das halbwegs unwissend eigentlich mir zu urteilen erlaube, ich habe angefangen, Unendlicher Spaß zu lesen, aber nach hundert Seiten wieder etwas anderes getan. Auch wenn ich andere Autoren lieber lese, es gibt da diese eine Geschichte von ihm, wo die Pubertät eines jungen beschrieben wird, wie er an seinem Geburtstag vom Sprungturm im Schwimmbad springt in feinsten Detailzeichnungen. Das ist einfach überwältigend. Insofern danke für diesen Vergleich, auch wenn ich mir das besser nicht zu Kopf steigen lasse. Es ist ja schon immer lustig, mit wem man sich zu vergleichen wagt. Auch wenn ich das nicht überheblich finde, überhaupt nicht, wird es der Sache ja oft nicht gerecht. Weil man dann eben doch Dinge ganz anders macht. Das ist ja auch ein stückweit das schöne am Schreiben. Tausend Möglichkeiten ein bunter Duftkasten, aus dem man sich etwas zusammenmixt.

Der Hinweis auf den Humor in der Petrischale ist gut. Ich weiß nicht inwiefern da auch eine Kritik drin steckte und ob da Handlungsbedarf für mich besteht, aber das schaue ich mir nochmal ganz genau an.

Zu der Stelle im 'Bibelstil': Das ist auch so eine Sache, die mir diese Auflösung linerer Szenenfolgen erst erlaubt. Die besondere Wahrnehmung der Protagonistin gibt solche (wie ich finde) spannenden Wechsel im Tonfall her. Ich mag das selbst sehr gerne, wenn ich zwischendurch Unterschiedliches geboten bekomme. Das macht Spaß und erfrischt, finde ich.

Die Hals-in-Finger-Stelle kann ich auflösen: Also keine Essstörung. Sie beschreibt ja, wie sie in der Nacht fiebrig träumt und schreit, sich aber fern hört, was Hinweis auf ihre multiple Wahrnehmung sein sollte. Insofern ist mit 'es aus sich herausholen' die Gesamtheit dieser fremden Persönlichkeiten gemeint.

Der kleine Wink wegen des Topos der rezeptpflichtigen Medikamente gerade im Zusammenhang mit Texten, die sonderliche Wahrnehmung schildern, ist natürlich absolut berechtigt. Ich dachte, das ist okay, weil es eben nur eine kleine Stelle ist und die Möglichkeit schafft, da so eine doppelte Lesart am Ende beizubehalten. Wo man nicht eindeutig sagen kann, träumt sie das jetzt oder erlebt sie das oder erlebt sie das zusätzlich zu ihrem schizo-Wahnsinn durchs Valium noch unwirklicher.

Das von dir verliehen Prädikat 'poststrukturalistisch' wird sich auf jeden Fall in mein Gedächtnis einbrennen, was den Text betrifft :D Danke für dein ganzes Wohlwollen und allgemein diesen Kommentar!

LG
Carlo

 

Lieber @Peeperkorn ,

vielen Dank für deinen Kommentar. Habe mich sehr gefreut, von dir zu lesen. Außerdem bin ich begeistert davon, wie du die Figurenkonstellation nochmal analysiert hast. Über den Vergleich mit der Blue Velvet Szene freue ich mich sehr. Neulich hat mich jemand gefragt, mit welchem 'Promi' würdest du gern mal einen Tag abhängen. Da habe ich gesagt, mit David Lynch. Ich glaube, das ist ein kurioser und auf seine Art auch weiser Mensch. Jedenfalls mag ich den Film auch sehr und die Szene ist mir in Erinnerung geblieben. Danke, dass du das nochmal wachgerufen hast.

Die Namensherkunft zu Esma ist interessant, das habe ich nicht recherchiert, ich kannte mal eine Esma. Es passt aber wirklich erstaunlich gut. Ich habe den Namen vor allem wegen der ethnischen Bedeutung, seiner Kürze und dem Klang, der für mir eine gewisse Kraft vermittelt, ausgewählt.

Ich bin auch froh, wie du das mit ihrer Wahrnehmung dargestellt hast. Genau das ist es. Ich brauche es gar nicht nochmal zu wiederholen – als hättest du in die Skizze geschaut. Es scheint sich auf jeden Fall nicht allen so zu erschließen. Ich denke, dass muss es auch nicht; glaube, man kann viel aus der Geschichte herauslesen, für sich herausnehmen, sich auch eingraben wenn man möchte. Das ist kein einfacher Text, aber das ist eben manchmal so. Man kann das sicher auch kontrollieren, aber ich finde eben nicht, dass ein Text da so oder so sein müssen. Beides hat seine Vorzüge für verschiedene Leser, da sind die Geschmäcker unterschiedlich. Ich kenne tatsächlich (leider) auch wenige Leute, die David Lynch Filme zu schätzen wissen, habe aber selbst viele auf DVD, weil ich sie so mag, dass ich sie in analoger Form um mich herum haben will :-p

Interessant, dass du Reso 'zugänglich' findest. Vielleicht liegt das an der Charakterisierung über das Familiäre und seine Krankheit. Da gibt es vielleicht mehr Möglichkeiten, sich einzufühlen oder auch Mitleid zu haben.

Über die Sache mit dem Salzpanzer hast du geschrieben, dass sie sich dir nicht so ganz entschlüsselt. Für mich ist das eine von Daniels schrägen Eigenschaften, die seinen apathischen Charakter bezeichnet. Es soll vorstellbar sein, dass er viele solcher Eigenarten pflegt; von denen hier eben ein zwei herausgegriffen sind. Das mit den Stäuben und eben dem Salzpanzer. Ich habe mir das so vorgestellt wie eine Ummantelung oder auch Abschirmung. Etwas ähnliches habe ich auch in anderen Geschichten mit anderen Figuren, die sich wie in Watte hüllen, um sich gegen ein als störend/bedrohlich/fremd empfundenes Äußeres zu isolieren. So ein Akt hat natürlich auch etwas Metaphorisches, ein Salzpanz bietet nur einer Person Schutz. Es wäre logisch etwas anderes, wenn Daniel sich mit Gisa verschlungen einsalzen würde. Vielleicht ist die Salzsache aber auch überflüssig, wenn es schon das mit den Stäuben gibt – denke ich mir zumindest, während ich deine Anmerkung lese.
Ich fand auch, du hast gut dargestellt, wie Gisa es auf ihn abgesehen hat; dass es eben nur darum geht, ihn fertig zu machen, ihn eigentlich zu terrorisieren. Ich wollte da so eine Kette von Antagonismen innerhalb der Geschichte aufbauen. Daniel im Salzpanzer versus Gisa, die ihn tyranisiert, die wiederum von Esma daran gehindert werden könnte, was Esma dann jedoch nicht schafft, weil Reso, ihr Gegenspieler, sich dagegen sträubt. Letztlich, wenn man das jetzt aus Esmas Perspektive sähe, setzt sich Reso bei alldem durch. 'Ironischerweise' taucht er am Ende aber nicht auf, um Esma aus der Geschichte zu entlassen. Esma ist an einem unwirklichen, sommerhaften Ort gelandet und wieder entzieht Reso sich ihr, 'ironischerweise' aber zu ihrem Vorteil (da das ja ein Ort ist, an dem sich ihre Probleme in dieser Art Zeitenthobenheit auflösen).

Das mit der Intimhaut und Haarhaut ist genau so, wie du es schreibst. Ich bin im Übrigen sehr froh, dass das scheinbar problemlos beim Lesen übersetzt werden kann, obwohl das Neologismen sind. Die Idee war, dass das zu Gisas Terror gehört. Also auch ein sexueller Terror gegen Daniel, der womöglich eine ungewöhnliche Haltung zu Sexuellem hat, wenn das überhaupt ein Thema für ihn ist. Sie erregt seine Aufmerksamkeit. Er ist ein würdiges Opfer, zu verschwiegen, um Gisa Probleme zu bereiten und eben interessant genug, um eine Herausforderung darzustellen. Krass, dass du schreibst, du kanntest so Leute wie Gisa. Ich muss auch so jemanden gekannt haben, zumindest Menschen, die Eigenschaften davon im Einzelnen an sich haben. Dahinter steckt ja auch eigentlich ein sehr anarchisches Prinzip; über jede Moral scheinbar erhaben die eigene soziale Umgebung als persönliche Spielwiese zu missbrauchen. Gleichsam auch eine gewisse Intelligenz darin, keinen Verdacht zu erregen, um sich dieses Spiel zu bewahren. Letztlich eine Radikalisierung in dem Sinne, dass niemand mehr in irgendeinerweise an so eine psychopathische Person rankommt, das beeinflussen kann. Also irgendwo auch absolute Autonomie. Und die hat bei Gisa natürlich nochmal die Würze, dass sie das umgekehrte Prinzip der Situation zu Hause bei ihren Eltern darstellt, wo sie so eine Art geduldete Fremde ist.

Zu David Lynch habe ich ja schon weiter oben was geschrieben. Ich danke dir, dass du dem Text das lässt, diese etwas verschwurbelte Sprache. Es ist ja wirklich auch nur ein einzelnes Element der Sache. Natürlich in einem Lesetext super präsent. Aber das zum Inhalt des Textes zu erklären wäre oberflächlich. Da bin ich froh, dass du das als Eigenheit des Textes stehen lässt.

Stranger than Fiction habe ich noch nicht geschaut Aber ja, du hast schon recht. Diese Spielerei ist nicht neu. Finde es spannend, dass du schreibst, es beeinflusse, wie 'ernsthaft' und 'eindringlich' der Text auf dich wirkt. Das würde mich natürlich nochmal näher interessieren. Ich denke, du meinst, dass es in gewisser Weise eine Dopplung ist, weil dieses Metaprinzip Esma auf andere Art innewohnt und dass das außerdem als gezielter Kunstgriff der Geschichte dieses flow-hafte nimmt, sie dann doch wieder nüchterner, planmäßiger wirken lässt. An beiden Punkten ist was dran. Ich werde mal darüber nachdenken. Da hängen ja viele Erwägungen dran. (Edit: hab mir den Trailer angeschaut :lol: okay, ich glaube, ich weiß jetzt, wie du das meinst; im Grunde meinst du wahrscheinlich, dass das etwas abgegriffen ist. Aber: ich sage das nicht, um mich rauszureden; ich habe vor zwei drei Jahren eine sehr sehr gute Erzählung von Benjamin Quaderer gelesen, die aus der Perspektive eines Babys (des Liechtensteiner Hochstaplers Heinrich Kieber) erzählt wird. Heinrich Kieber ist wohl auch über die Liechtensteiner Grenzen hinaus für seinen großen Datenklau und Handel mit dem BND berüchtigt und der Reiz mag darin liegen, seine fiktive Radikalisierung im Babyalter (davon handelt die Geschichte) vor diesem Hintergrund nachzuvollziehen. Irgendwann habe ich den Text mal einem Freund vorgelesen, weil ich ihn so gut fand, und der meinte, ist doch im Prinzip so wie in Irvings Garp und wie er die Welt sah. Das hat mich darüber nachdenken lassen; trotzdem hat es mich, gerade weil ich diesen Kniff nicht kannte, und weil das so herrlich umgesetzt war, sehr begeistert. Ich denke, da muss man trotzdem aufpassen und dass du da so reagierst, lässt mich auch darüber nachgrübeln. Da werde ich mir überlegen, wie man das anders lösen könnte, und ob ich mich damit abfinden soll zu denken, Peeperkorn kennt eh schon alles oder doch lieber: ein bisschen origineller kriegst du, Carlo, das doch vielleicht auch hin.

Lieber Peeperkorn, ich danke dir sehr, dass du dir die Zeit genommen hast. Wieder ein wirklich schöner Kommentar, der mir viel gibt.
Gruß
Carlo

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey, guter @Akka ,

oh, die Ereignisse überschlagen sich mal wieder. Selbst hier im Forum. Du hast eine Serie aus Lars und Lütte gemacht und der zweite Teil ist da. Super. Bin gespannt.

Ja, so ein Kafka bin ich natürlich leider auch nicht. Ich bin ja genauso hier, um zu lernen, zu schauen, was funktioniert und was nicht. Aber ja, Mühe gebe ich mir in den allermeisten Fällen. Ich habe, das gestehe ich zu meiner Schande, auch mal was ganz ganz schnell runtergeschrieben und hochgeladen. Aber das ist länger her. Das hat einmal prima funktioniert und das andere Mal war es der totale Flop und ich habe mich ein bisschen geschämt. Aber auch das war irgendwie interessant. Zu sehen, wieviel Arbeit braucht ein Text eigentlich. Ich bin da auch immer noch nicht mit meinen Überlegungen am Ende. Aber auf Arbeit bin ich eingestellt.

Es ist jedenfalls sehr nett von dir, dass du meiner Story so viel Aufmerksamkeit geschenkt hast. Das freut mich und ehrt mich. Finde es auch cool, dass du vielen Texten (habe manchen Kommentar von dir gelesen) auch etwas für dich abgewinnen kannst. Ja, so einen Leser wünscht man sich schon :D

Lieben Gruß!


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@Sisorus ,

ich bin beeindruckt. Vielleicht sollte ich öfter mal in die Runde schweigen und dann kommen ganz tolle Kommentare dabei heraus :p Hätte dir gerne früher geschrieben, aber dieses Copyright hat mich ein bisschen fertig gemacht, nachdem ich mich eigentlich schon ganz gut an dieser Geschichte hier ausgepowert habe. Das musste erstmal erledigt werden ...
Dein zweiter Kommentar war eine Aufforderung: Komm, Carlo, rück raus damit, warum das?
– weil du es bist, versuche ich es mal :D

Über die inzestuöse Beziehung, den vermeintlichen Tumor, das Salz, den Staub, alles Dinge, die sich als Puzzelteile geben, Dinge, die irgendwie signifikant sein müssen, deren Sinn im Titel zusammenläuft und damit auch in Gesa, die seltsamerweise gleichsam die fremdeste aller Personen bleibt.

Ich denke, vieles dürfte sich auch im Zusammenhang mit dem Kommentar von Peeperkorn geklärt haben.

Inzest: Ja, das ist ja sowas. Sie hat mit ihrem Cousin geschlafen (nicht mit dem Vater, was Peeperkorn vermutet hat, zumindest wollte ich das nicht so aussehen lassen). Sie macht sich Vorwürfe deswegen. Das motiviert ein Stück weit ihren Wahnsinn. Das ist ein Stressfaktor, der zu den vielen anderen hinzutritt, die sich in ihrem Wesen vereinigen; einer psychischen Labilität (der eventuellen "müttlerichen Erbschizophrenie" und der (berechtigt oder nicht) angenommenen Tumorerkrankung(en)). Sie hat Schulgefühle, liegt im Bett und es frisst sie auf. Außerdem ist sie Jüdin und die Sache mit dem Cousin ist an einem Feiertag, dem Laubhüttenfest, passiert. Das gibt dem auch einen gewissen numinosen Anstrich und die Schuld vor dem Vater ist in gewisser Weise auch eine Schuld vor dem Vater. Also unterm Strich: Inzest, Teil der Charakterisierung, der ein Stück weit den Fortlauf der Handlung motiviert.

Tumor: Ähnlich. Es soll eben denkbar bleiben, dass sie einfach in vielerlei Hinsicht einen an der Klatsche hat, um es mal so ausdrücken. Der Kniff dabei ist, dass es dadurch immer denkbar ist, dass sie sich das alles nur einbildet. Gleichzeitig könnte es aber auch sein, dass das wirklich alles auf eine übernatürliche Weise stattfindet; als nächstes wird der Erzähler sichtbar, Rezo, was auch Rückschlüsse auf den wirklichen Erzähler, mich, erlaubt. Das ist eigentlich eine dritte Art das zu lesen: ich sitze hier rum, Corona, und mache ein bisschen Halli Galli mit ein paar durchgeknallten Figuren. Und dann gibt es natürlich die vordergründige Handlung. Ein Mädchen erzählt, wie ein Junge sie auf dem Schulweg beobachtet, erzählt von Leuten aus der Schule, erzählt, wie sie Valium kaut und in den Park geht. Der Tumor ist ein wichtiges Schlüsselstück dazu.

Salz: Daniel panzert sich ein. Er schützt sich damit vor etwas Bedrohlichem. Nicht weiter bekannt, er hat offensichtlich eine Art Zwangsstörung. Er vollführt Handlungen, die anderen absurd erscheinen, ihm aber sinnvoll. Das Salz auf dem Körper ist eine Art stiller Genuss für ihn. Da ist er alleine, zieht den Seidenpyjama an und gibt sich, wie andere sich ein Bad einlassen. Das charakterisiert ihn. Warum ist das am Anfang so wichtig und groß. Weil es der Anfang ist. Und der muss irgendwie reinkicken und Figuren, vielleicht Setting vorstellen. Aber Reinkicken ist die erste Aufgabe. Sonst bin ich beim Lesen selbst auch gegen Formalismen, aber der Anfang soll eben was liefern. Später wird der Salzpanzer zur Rüstung, weil Daniel immerhin mit Gisa eine Feindin hat. Doch jeder hat irgendwo ein Siegfriedsblatt kleben. Vielleicht sind es Daniels Augen, vielleicht eben auch die kostbare Staubsammlung. Gisa hat es jedenfalls schnell aufgespürt ...

Staub: Ein bisschen wie das Salz. Daniel hat eine andere Sicht auf die Welt. Er interessiert sich nicht für Menschen, sondern für dosenförmige Biotope. In seiner Welt ist er in gewisser Weise der Gott dieser Staubdosen. Das sind die Welten, die er erschaffen hat (oder zumindest geordnet) und pflegt wie andere Leute ihre Gärten. Diese ganze Wohnung mit dem Salzritual und seinem Staub sind seine Zuflucht vor der ungemütlichen, unwägbaren Außenwelt. Aber Gisa hat es auf ihn abgesehen.

Jetzt zu deinem Kaffee-Kommentar. Der ist wirklich beeindruckend; vielleicht solltest du mir mal verraten, was für einen Kaffe du trinkst. A propos, ich muss mal für 10 Minuten unterbrechen ... Kaffeezeit.

Zurück nach einer kurzen Unterbrechung mit mit meinem Lieblingsgetränk. Passt ja, antworte ich also sozusagen auch in der Kaffeepause auf den entsprechenden Kommentar.

Nachdem ich den gelesen hatte, habe ich auch gedacht, wir lesen das unterschiedlich. Was für dich diese metaphorische Bedeutung ist, ist natürlich so auch vorhanden, aber für mich irgendwie selbstverständlich Teil der Charakterzeichnung auch im Bezug auf die Handlung(en) bzw. Lesarten hin. Das einzelne aber, also Staub und Salz und so weiter sind für mich einfach Dinge, die aus Skizzen entstehen, die ich in gewisserweise sehr lustvoll und mit einem ständigen Suchen nach solchen Ungereimtheiten und Bedeutungen anfertige. Als zweites gebe ich mir einfach wirklich Mühe, dass beim Schreiben nachzuvollziehen und vorm inneren Auge zu 'beobachten' bzw. mir vorzustellen. Daraus folgen auch Details, die vielleicht für dich sehr wichtig klingen.

Deine Lesart habe ich so gar nicht auf dem Schirm gehabt. Aber eigentlich ist das eine ziemlich coole Sache. So ein bisschen Harry-Potter-Hokrux-mäßig, wenn ich dich richtig verstanden habe. Reso spaltet seinen Persönlichkeit auf. Das ist natürlich eine interessante Lesart. Allerdings ist die hier von mir nicht wirklich angelegt gewesen. Ich hätte dann wahrscheinlich auch nicht aus Esmas Perspektive, sondern aus Resos geschrieben oder wäre noch dringlicher in der Auflösung auf Rezo eingegangen. Ich habe das unter dem Punkt "Tumor" ja schon zusammengefasst. Für mich wäre die reine Reso-Lesart die, das Reso einen Link zum Erzähler herstellt und somit eine indirekte Verbindung zwischen mir und einer meiner Figuren (Reso). Es gibt ja auch (etwa in Daniel Kehlmanns Ruhm) direkte Zwiesprache zwischen Erzähler und Figur. Hier ist es halt etwas anders. Schon ähnlich wie in diesem Stranger than Fiction Film wie Peeperkorn angemerkt hat.
Finde es besonders spannend, wie in deiner Interpretation die Einzelteile den Link zum Titel herstellen. Das ist wirklich zu Ende gedacht und ich schäme mich fast ein bisschen, dass ich das eben nicht so angelegt habe. Aber es ist eine echt coole Idee. Für mich sind sie Einzeltiere, weil sie alle in ihrem kleinen, merkwürdigen Kosmos stecken und irgendwie auch Singularitäten sind; man könnte nicht zweifelsfrei sagen, dass überhaupt Interaktionen zwischen ihnen stattfinden, selbst zwischen Esma und Rezo nicht.
Dass du dann Zeit als den gemeinsamen Nenner von Staub und Salz (Konservation) genannt ist, finde ich absolut sinnvoll und es ist, denke ich, auch einfach eine andere Übersetzung dessen, was ich dazu unter dem Punkt "Salz" geschrieben habe. Wahrscheinlich läuft das auf etwas ähnlich hinaus.
Was die Katze angeht, liegt es bei mir etwas anders. Das ist ein Detail aus Daniels Vergangenheit. So 'willkürlich' wie das Salz und der Staub, eben Teil von Daniel, der das eben erlebt hat. Innerhalb dieser Erzählrealität ist das genau so geschehen, keine Metapher oder irgendwas. Was ich damit bezwecke ist eigentlich, dass das der Moment ist, der für Esma wieder Daniel auf den Tisch bringt. Sie hatte wieder eine Vision, wenn man so will. Dieses Mal von Daniel ABER auch von Gisa. Es geht jetzt darum, wie Gisa in Daniels Leben hineintritt bzw. wie Esma den Zusammenhang erkennt. Das bildet einen Übergang der Handlung von der langen Einführung (Esmas merkwürdiger Charakter, ihre sonderbare Wahrnehmung) hin zur Vorstellung (Exposition) des Konflikts, der darin besteht, dass sie Mitwisserin der Tyrannei Gisas über Daniels wird. Das Ende dieser Sequenz bilder ihr Entschluss, Daniel zu helfen. Sie wird Samurai des Salztieres (Daniel). Doch es kommt anders. Reso schaltet sich in das Geschehen ein und entpuppt sich zusehends als Esmas wahrer Gegenspieler. Er übernimmt die Kontrolle über sie, entscheidet nun auch, dass sie sich in die Angelegenheiten von Daniel und Gisa nicht einzumischen hat. Die Situation spitzt sich zu. Esma hat zunehmend das Gefühl, dass Anteile ihrer Persönlichkeit sich von ihr abspalten oder dass sie zu denen wird, die sie in ihren Visionen sieht (Gisa, Daniel, Reso). Um handlungsfähig zu bleiben, beschließt sie Reso aufzusuchen. Gegen den Wahnsinn 'hilft' sie sich mit Valium ab, dass sie der ('erbschizophrenen') Mutter klaut. Sie findet Reso nicht, aber dafür einen Ort, an dem sie bleiben kann. Unklar, wo das genau ist, ob in ihren eigenen Gedanken oder wirklich in einer Art Zeitschleife.
Ich verstehe auf jeden Fall viel besser, warum du so auf das Inzest-Thema gedrängt hast. Deine Lesart ist wirklich kreativ und hätte eigentlich eine Geschichte verdient. Schade dass es nicht noch ein zweites Copyright gibt hehe. Vielen vielen Dank auf jeden Fall für diese sehr spannende und abgefahrene Interpretation der Geschichte. Was alles so aus Kaffee geboren wird ... Meiner ist mittlerweile auch kalt.

Liebe Grüße
Carlo

 

Hey @AWM ,

habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut. Die Geschichte war wegen des CW in meiner Aufmerksamkeit schon wieder verblasst. Habe mich gerade deshalb sehr gefreut, dass du sie nochmal rausgesucht hast.

das ist die erste Geschichte, bei der ich mir Notizen für meinen Kommentar gemacht habe :D

was für eine Ehre. Vielen Dank :) Gleichsam natürlich auch eine Zumutung für den Leser

Gleichzeitig finde ich, dass sie mit Motiven überladen ist und du es dem Leser an mancher Stelle unnötig schwer machst.
Das Salz und der Staub sind mir zum Beispiel zu viel. Würde es beim Salz belassen, was als Spleen absolut ausreicht und schwer genug zu deuten ist.
Würde den Einstiegssatz einfacher formulieren. Er hat das Salz gern in jeder Pore - aber woher weiß ich das?

Das ist wahrscheinlich der springende Punkt. Ich habe ziemlich intensiv an dieser Story gearbeitet. Jeden Satz mit viel Kaffee und Konzentration eingetippt. Vielleicht ist das etwas zu viel. Naja, dieses Experiment war es mir auf jeden Fall wert. Aber es stimmt schon, was du schreibst. Das ist auch mit Motiven überladen; das ist es wohl auch, was den Text etwas anstrengend zu lesen macht. Als würde die Konzentration, die ich beim Schreiben aufgewendet habe, dann auch im gleichen Maße vom Leser verlangt werden. Das ist natürlich ein Anspruch, der übers Ziel hinausschießt. Danke, dass du das so auf den Punkt gebracht hast.

Den Einstiegssatz schaue ich mir nochmal an.

Die Handinnenflächen sind ja schon versalzen. Es geht eher darum, dass er abschließend das Salz in die Innenflächen reibt.

Guter Hinweis. Werde ich bei Gelegenheit anpassen.

Der Text und die Sprache der Erzählerin sind so abgefahren, dass mir das Bild der Aasgeier hier abgenutzt erscheint. Auf der anderen Seite schwankt die Erzählerin zwischen übergeordneter, abgehobener Instanz und dem Leben einer (fast) normalen Teenagerin, was es auf der anderen Seite wieder Stimmig macht.

hehe; danke für das Attribut 'abgefahren'. Ich finde eigentlich auch, dass das in dem Zusammenhang so hinhaut. Es ist aber, wie im ganzen übrigen Text, stilistisch einiges ein bisschen drüber.

Mir ist nicht klar, welche Funktion das Judentum in deinem Text hat. Habe mir auch Gedanken gemacht, ob das Salz da eine Rolle spielt. Salz symbolisiert die Tora, ohne die die Welt nicht existiert = ohne Salz keine Welt. Ohne Salz keine Esma, weil sie mit Daniel verbunden ist? Das Salz, in das sich Daniel einpanzert, ist seine Möglichkeit, wie er seine (solipsistische) Welt vor der Außenwelt schützt. Esma ist teil seines Kosmos.

Hm. Ich glaube, die Antwort würde dich enttäuschen. Ich habe Esma versucht mit den anderen Figuren zu kontrastieren. Ihr Judentum hat in dem Sinne keine Funktion oder so. Ich hab mir Esma einfach mit Stumpf und Stiel so überlegt und in meiner Vorstellung war sie eben Jüdin und hatte etwas mit ihrem Cousin. Wenn ich da jetzt tief bohren würde, warum das und nicht etwas anderes, dann würde ich argumentieren, dass das die Sache eben noch komplizierter und unangenehmer für sie macht; eben weil dadurch nicht nur ein moralisches Dilemma entsteht, sondern auch noch ein religiöses Problem bzw. ein Frevel. Die religiöse Schuld, die es nach sich zieht, so etwas an einem heiligen Fest und an einem heiligen Ort zu tun. Gut, sie hätte auch Christin, Hindu, Moslem, was auch immer sein können. Da kann ich nichts sagen :D

Sie spürt Emotion, nimmt wirklich am Geschehen der Geschichte teil.

genau. Das war mein 'Trick', um sie die Konflikte bzw. Geschichten der anderen erleben zu lassen und es trotzdem aus der Ich-Perspektive zu erzählen. Es ist ein bisschen wie bei der Geschichte 'Goo', die ich hier letztes Jahr hochgeladen habe. Es geht um diese Figuren und die sind alle sehr speziell und sehr unterschiedlich und die versuche ich in einer Geschichte zusammenzubringen, weil ich sie ja auch gemeinsam entwickelt habe. Sie haben auf einer abstrakten Ebene alle etwas gemeinsam und das möchte ich mit so einer Geschichte dann zeigen. Hier ist es halt ziemlich kompliziert und auch etwas abstrus geworden ...

Ich sage aber geradeheraus, dass ich die Geschichte nicht ganz verstanden habe.

Das ist okay :p ich denke, die Story hat viele kleine Fäden, die irgendwo hinführen und am Ende weiß man dann nicht mehr, ob man überhaupt die richtige Abzweigung genommen hat.
Ob das jetzt eine Qualität ist? Wahrscheinlich nicht. Aber ich denke auch, dass das im Kontext dieser Geschichte einfach ein Stück dazugehört.

Warum denkt Esma zum Beispiel, dass das Techtelmechtel mit ihrem Cousin zu dem Wissen führt, das sie über andere hat. Den Link zwischen den Schuldgefühlen und eines Wahnsinns, der "wissenlässt", ergibt sich für mich nicht.

Naja, sie weiß ja nicht wirklich, was sie hat. Sie merkt, dass etwas nicht stimmt. Sie denkt, es ist etwas Psychosomatisches. Auch wenn sich so etwas doch ganz anders auswirkt (denkt sie). Sie ist verwirrt.
Es gibt in dem Sinne ja auch keine richtige Erklärung dafür außer die, dass das irgendeine Art von Wahnvorstellung oder dass das alles erfunden ist (von Rezo bzw. dem Autor).

Ich verstehe die Geschichte so, dass Esma eine Erfindung von Reso ist. Da Reso krank ist, nabelt sie sich von ihm ab, bewusst oder unbewusst, weil er bald sterben wird und sie dann mit ihm. Reso ist wie eigentlich alle Figuren der Geschichte Einzeltier. Über Esma werden diese Tiere verbunden.

So in etwa hatte ich das gemeint.
Ach, ja, diese Geschichte ist schon ein bisschen seltsam, ich gebe es zu :D
Ich danke dir auf jeden Fall, dass du dich so reingehängt hast. War bestimmt nicht easy, beim Kommentieren hiervon einen Fokus zu finden. Es hätte bestimmt noch mehr Dinge gegeben, über die man hätte sprechen können. Aber der Text ist eben auch nicht kurz und dafür sehr dicht.
Wie auch immer. Nochmal Danke und bis bald!
Carlo

 

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