***Elf Gedecke***
Der Duft des Weihnachtsbratens liegt schon im Raum. Hedwig geht ein paar Schritte zurück und prüft ihr Werk. Es ist so schön wie jedes Jahr. Am Baum hängen all die kleinen Weihnachtssachen. Erinnerungen zusammengetragen. Viele davon noch von ihrer Grossmutter. Ganz hoch oben der goldene Stern. Rote Kerzen schmücken den Baum und geben ihm ein weihnachtliches Licht. Alles ist so wie immer. Alles? Nein, dieses Jahr werden sie ohne ihre Tochter Marie das Fest feiern. Sie ist nur 13 Jahre alt geworden. Ein Autounfall. Der Fahrer war schuld. Hedwig spürt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen. Nein, nur nicht weinen. In der Schachtel liegt noch etwas goldenes Lametta. Sie behängt damit liebevoll die grünen Zweige und vollendet ihre Arbeit.
Das Zimmer geschmückt so wie jedes Jahr. Die weihnachtliche Stimmung verzaubernd den Blick der Besucher. Ein festlich gedeckter Tisch. Das gute weisse Porzellan mit dem Goldrand. Ein Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern war es gewesen. Nur an ganz besonderen Festtagen wurde es aufgetragen. Elf Gedecke auf dem Tisch liebevoll mit weihnachtlichen Servietten und Tannengrün dekoriert. Das Silberbesteck lag neben den Tellern und wartete auf die Gäste. Hedwig liebte es Feste auszurichten und zu feiern, und obwohl sie das meiste allein machte, war sie nie erschöpft oder unlustig. Ihre geübten Hände hatten auch in diesem Jahr ein geschmackvolles Ambiente gezaubert.
Marie war mit ihrem Fahrrad in die Stadt gefahren. Sie wollte noch Geschenke für ihre Familie kaufen. Das Auto an der Ampel sah sie nicht, der Fahrer hatte die rote Ampel übersehen. Es war nur eine Sekunde des Schreckens und Marie starb noch am Unfallort. Hedwig zählte noch einmal die Gedecke auf dem Tisch nach. Elf waren es und für einen kurzen Moment begann sie zu zögern. Ja, es waren elf und sie hatte nicht eins zuviel aufgelegt und keins zuwenig. Es war elf, als das Telefon klingelte und der Polizist am anderen Ende der Leitung die Schreckensbotschaft brachte. Elf Gedecke und nicht eins zuviel. Hedwig war ein gewissenhafter Mensch, dem nur selten mal ein Fehler unterlief.
Noch einmal ging Hedwig einen Schritt zurück und prüfte ihr Werk. Der silberne Kerzenleuchter in der Mitte des Tisches erstrahlte im sanften Licht der Kerzen. Der Fahrer hatte das rote Licht der Ampel nicht gesehen, er hatte sich bei der Familie des toten Mädchens entschuldigt. War selber noch völlig übermannt von den Geschehnissen. Hedwig öffnete die gläserne Vitrine und nahm die Kristallkelche heraus. Elf feine Gläser stellte sie rechts neben jedes Gedeck. Noch ein letzter prüfender Blick. Es war alles so wie immer.
Hedwigs Hände glitten nach hinten und lösten die Bänder von ihrer Schürze. Langsam zog sie sie aus und legte sie über den Sessel. Ihr Blick noch ein letztes mal auf den festlichen Raum gerichtet. Es war schon spät, die Bescherung und das weihnachtliche Feiern würde bald beginnen. Sie ging in die Diele und zog sich ihren schwarzen Mantel an. Bei dem frostigen Wetter würde sie wohl besser die dicken Stiefel anziehen. Leise ging die Türe hinter Hedwig zu. Es war eben doch nicht alles so wie jedes Jahr.
