Empathie
Ein wolkenfleckiger Augusthimmel… ironisierte Phontonen drangen durch das rechteckig verstrebte staubstumpfe Glasdach der Fabrikhalle. Ein Ding unter den Dingen… Himmel und Fabrikgebäude.
Gelblicht waberte in der Halle. In der Luft blafften die Geräusche von einem Geschwader Pressluftschrauber, Blech auf Blech schepperte, begleitet vom rhythmischen tacktack und Tack der Klammermaschine: Geräuschkulisse der Vormontage und dem Verpacken von Parabolantennen. Lärmendes und schweißtriefendes Universum.
ICHDA, drahtig hochgewachsen, von den Fersen aufwärts bis zum Hals, rund um seinen Körper tanzten stümperhaft gestochene Tattoos; ein Tränentattoo unter seinem linken Auge zierte sein durchaus ansprechendes markantes Gesicht. ICHDA war seines Zeichen Vorarbeiter und Hooligan.
Vorarbeiter also… der selbstredend nicht arbeitete, bloß Kommandos gab:» Langsam schneller werden, Jungs! «
Die Jungs: Vietnamesen, Türken, Griechen, Chinesen, Nord- und Süd Deutsche, und Rheinländer, wurden schneller… Schweiß tropfte aus ihren Schuhen, Achselhöhlen, und suppte von ihrer Stirn – Klatschnass ihr Haar und Hirn … sie wurden schneller und schneller. Clinch mit ICHDA wollte man tunlichst vermeiden.
… Schlappern der Pressluftschrauber… Rollband kreischen… tacktack und Tack und… der sechseckige Karton ist verklammert … auf die Holzpalette geworfen … Neun an der Zahl, hochgestapelt (fünfzehn Kilo je Packeinheit, Neun auf der Palette und achtzig Paletten je Tag!) … Kreuzverschnürt mit Plastikband und schlussendlich maschinell mit Folie umwickelt.
Allein, der Neue, Glubschauge genannt – die Jungs gaben sich alle gegenseitig irgendwelche Namen, wie: Tanga, Brille Fielmann, Ahab -, also … der Neue, funktionierte nicht so recht. Er sollte bloß den Hubwagen bedienen, aber das verschluderte Glubschauge. Es gelang ihm zwar die Paletten einige Meter vom Rollband weg zu ziehen, soweit zu entfernen, das der Mann an der Klammermaschine weiter ungehindert das tacktack und Tack produzieren konnte, aber bis zur Stelle wo die Verschnürung stattfinden sollte, schaffte er es nicht.
Brille Fielmann brüllte:» Beweg deinen Arsch! Du Vollidiot! «
Glubschauge blieb reglos, seine großen runden Augen kullerten bloß irritiert.
» Man! … du Arsch … « Brille Fielmanns schlaksige Gestalt schnappte sich entschlossen den Hubwagen, schob ihn unter die Palette, pumpte diese Hoch und fuhr sie zu der Stelle, an der sie Kreuzverschnürt werden konnte. ICHDA lächelte und steuerte langsamen Schrittes, entlang des glühenden Rollbandes und der schweißtriefenden Mannschaft, auf Glubschauge zu, nicht ohne ruhig seine Kommandos zu geben: » Nicht müde werden, Männer, nicht müde werden … «
Glubschauges Augen rollten und rollten sinnverwirrt, Pupillen so groß wie ein Daumenabdruck und sie glänzten pechschwarz; immer noch stand er regungslos da. ICHDA baute sich vor ihm auf, die langfingrigen Hände in die Hüften gestemmt, zwei Köpfe Glubschauge überragend: » Kannst du nicht, oder willst du nicht? «
Glubschauges Mundwinkel zuckten, mit zitternden Lippen versuchte er ein Wort herauszupressen, doch es misslang ihm.
ICHDA hob seinen Kopf, ließ für zwei Augenblicke seinen Blick über das Hallendach streifen, stieß einen tiefer Seufzer aus, sah dann Glubschauge wieder an, streckte bedachtsam seinen rechten Arm aus, ballte genüsslich seine Hand zur Faust, und hielt sie dem Irr/Blickenden vor die Nase:» Lies das! «
Auf dem ersten Glied des Zeigefingers bis zum kleinen Finger prangte jeweils ein tätowierter Buchstabe: H A S S.
Glubschauges schmächtiger Körper erzitterte, bebte geradezu, als erhielte immer wieder einen Stromschlag. Vor ICHDA zuckte ein physiologisches Etwas.
» Na, nun ruhig Blut, Junge. Das wird nichts mit dir. « ICHDA lachte laut auf und klopfte Glubschauge mit der Hass/Hand auf die Schulter. Ein irrer Spaß für den Vorarbeiter.
Seltsamerweise wurde Glubschauge plötzlich ganz ruhig; Stille bemächtigte sich seines kreuzgebeugten Körpers und seiner Kulleraugen, als sei das Schulterklopfen von ICHDA ein freundlicher Klaps, als ein Zugeständnis hinsichtlich seiner Verwirrung zu verstehen – ein Lichtstrahl, der seine dunkle innere Wirklichkeit erhellte. Selbstredend bedeutete die vermeintliche Geste der tätowierten Hand nicht mal die Leuchtkraft einer kleinen Taschenlampe. Aber Glubschauge brachte ein kratzendes, dünnes „Danke“ hervor. Und dann… offenbar von einer Heerschar Tarantel gestochen … zischte er davon, spurte schnellfüßig zwischen den Gitterboxen hindurch, die Trägerarme und Mastschellen für die Vormontage der Parabolantennen enthielten, stürmte wirbelndes Laufschrittes zum anderer Ende der Halle in den Pausenraum. ICHDA sah ihm gelassen amüsiert nach, und gab das Kommando:» Ahab! Du machst das hier … «
Ahab, selbst für einen Vietnamesen Kleinwüchsig, schlurfte herbei; er zog das linke Bein beim Gehen hinter sich her. Ob diese leichte Behinderung einer Verletzung oder anderer Umstände zuzuschreiben war, wusste niemand. Er war einer der tausendenden Boatpeople, die die Cap Anamur Ende der Siebziger Jahre aus dem chinesischen Meer gerettet hatte…
Ahab also, war jetzt für den Hubwagen verantwortlich. Brille Fielmann, Schweiß dampfend, prustete los:» Erst der Vollidiot und jetzt der Affe auf dem Schleifstein! Scheiße! Mann … «
» Halt die Schnauze! Oder ich schlag dir deine schwule Brille in die Fresse! «, brüllte ICHDA, nun doch verärgert. Es ging ihm allmählich nicht langsam schneller genug.
Die anderen an den Werkbänken und am Rollband bekamen vor dem Vorfall mit Glubschauge nichts mit: Die einen Pressluft schraubten, andere klopften mit leichten Schlägen Kabelklemmen in die dafür vorgesehen Löcher der Trägerarme, wieder andere falteten Kartons, und noch andere packten in der vorgesehen Reihenfolge Parabolspiegel und Trägerarme in die sechseckige Verpackung … und dann das: tacktack und Tack. Hirntote Monotonie, der in der Arbeit lebendig begrabenen Körper.
Endlich ..
Mittagspause. Die Geräuschkulisse bricht zusammen… das Gelblicht in der Halle entstaubt sich … Augenblicklich kühlen sich die erhitzten Körper ab; nassklamm schlendern sie in den Pausenraum, allen voran der Vorarbeiter ICHDA.
Im kahlen Pausenraum besoffen sich die Schatten, an dem durch das nach Norden ausgerichtete Fenster einfallende Licht, der im Süden hochstehenden Augustsonne.
Umgarnt von Licht und Schatten saß Glubschauge am Ende eines langen Tisches auf einem billigen Plastikstuhl; eine Knarre an seinen Schädel gerückt, blickte er zur Tür hin, durch die augenblicklich ICHDA trat. Glubschauge drückte ab … ein… fünf, sechs, sieben, acht Mal … Aber es gab jedes Mal bloß ein trockenes metallisches Geräusch zu hören. Entmutigt legte er die Waffe beiseite und Tränen schossen aus seinen Augen.
ICHDA war weder überrascht noch sonst irgendwie beeindruckt, gleichmütig schritt er auf den in Tränenfluten dahinschwimmenden Glubschauge zu, betrachtete drei Augenblicke lang, die auf den Tisch stoisch haarende Waffe.
»Eine Beretta, M Siebzig/Einundsiebzig. «, stellte ICHDA fest, » Du hast wohl keine Munition. Na, dann… « Er wandte sich um und winkte die Jungs heran:» Eine Spendenaktion ist angesagt! Jeder legt einen Euro auf den Tisch. Aber zackig! «
Clinch mit dem Vorarbeiter wollte man vermeiden. Die Ein/Euro Münzen rollten über den Tisch. Eine hübsche Summe kam zusammen. ICHDA schob die Geldstücke zu einen Haufen zusammen und sagte mit breiten und schmallippigen Grinsen:» Für dich, Glubschauge. Das sollte reichen… Kauf davon Munition für deine Knarre. «
Glubschauge lächelte ICHDA an, Erleichterung zeigte die Miene seines klatschnassen Gesichts. Er steckte das Geld ein, ohne es zu zählen.
Die Jungs aßen ihr mitgebrachtes Essen, und alsbald Stank der Raum nach Fisch und kalten gekochten Eiern; und dann vernebelte Zigarettenrauch den Pausenraum…
Gerry X, Mai 2019
