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Engel fickt man nicht
Das Telefon klingelt mitten in der Nacht.
Verschlafen tastet Alex nach dem Handy. „Hallo?“
Auf der anderen Seite raschelt es kurz, dann Stille.
„Wer ist da?“ Alex richtet sich im Bett auf und schaltet die Nachtischlampe ein. „Hallo?“ Er will schon auflegen, da dringt ein leises Flüstern an sein Ohr.
“Alex …“
Die Stimme kommt ihm bekannt vor, aber er erkennt sie nicht sofort. „Bitte? Wer ist denn da?“
„Bitte komm … komm …“
„Santalaja? Bist du das? Was ist denn los?“ Mit einem Schlag ist er wach.
Ein Schluchzen am anderen Ende der Leitung. „Er … er ist in mein Zimmer gekommen …“
„Wer? Dein Vater?“
„Ja.“ Die Antwort kommt nur zögerlich und unsicher.
„Was wollte er?“ Unbehagen macht sich in Alex breit.
„Er … er wollte …“
Alex krampft seine freie Hand zusammen, lehnt den Kopf zurück und versucht geduldig zu klingen.
„Santalaja, wo ist dein Vater jetzt?“
Schweigen.
„Tala? Wo ist er?“
Ein kurzes Rascheln, für einen Augenblick befürchtet er, sie würde auflegen, dann antwortet sie, so leise, dass Alex zuerst denkt, sich verhört zu haben:
„Tot …“
Die Wände fühlen sich feucht an. Als Alex den kleinen, fensterlosen Raum betritt kann er im ersten Moment keine Luft holen. Sie brennt in seinen Lungen und er muss husten. „Tala?“, würgt er heraus. „Santalaja? Wo bist du?“ Der junge Mann tastet nach dem Lichtschalter, findet ihn nicht. Er sieht in dem Licht, welches durch die Tür hineinfällt, eine Bewegung. „Tala?“
Die Wand unter seinen Fingern fühlt sich schmierig und klebrig an.
Angestrengt starrt er in die Dunkelheit, doch das Licht reicht nicht aus um etwas Genaueres erkennen zu können.
Alexander vermutet sie in ihrem Bett. Wo sollte sie denn auch sonst sein? Er hat die ganze Wohnung nach ihr abgesucht. Sie muss hier einfach sein!
„Santalaja?“, ruft er noch einmal, dieses Mal ein wenig lauter und klarer. Unsicher macht er einen Schritt in den dunklen Raum.
Bettfedern knarren. Der junge Mann hält inne, als er eine Bewegung vor sich wahrnimmt. Dann ein dumpfer Schlag.
„Tala?!“ Alex macht zwei schnelle Schritte auf die am Boden gekauerte Gestalt zu und tastet nach ihr. Seine Hand streift langes Haar, der Schemen bewegt sich bei dieser Berührung und schließlich nimmt Alex ihn in den Arm.
Alex muss das Mädchen fast bis zur Tür tragen. Als das Licht Santalajas blasses Gesicht trifft, sieht er als erstes all das Blut unter ihren Augen und denkt, dass es so aussieht, als habe sie es geweint.
Er bringt sie ins Wohnzimmer und legt sie aufs Sofa. „Warte hier. Ich hole nur etwas, womit du dein Gesicht waschen kannst.“
Schweigend sieht sie ihn mit ihren grünen Augen an. Sie sehen verwirrt und verstört aus.
Alex löst sich von ihnen und geht ins Bad, welches nicht im besseren Zustand als die restliche Wohnung ist. Kaputte Fliesen hängen an den Wänden und in einer Ecke macht sich Schimmel breit. In einem kleinen Körbchen liegen Waschlappen. Er greift sich einen daraus, tritt ans verschmutze Waschbecken und stellt mit der Hand, das Wasser an. Blut klebt daran, als er den Wasserhahn loslässt. Verwirrt starrt der Mann darauf, dann auf seine Finger. An ihnen hängt ebenfalls Blut und es ist definitiv nicht sein eigenes …
Alex fährt mit dem Waschlappen über ihr Gesicht. Die blasse Haut, die darunter zum Vorschein kommt, steht im starken Kontrast zu den pechschwarzen Haaren.
Wortlos starrt sie auf einen Fleck an der Decke. Diese verdammten Augen. In diese hat er sich im ersten Augenblick verliebt. Nicht zum ersten Mal verspürt Alex den Drang, es ihr zu sagen. Aber das ist nicht der richte Moment. Sie müssen hier weg. Wohin, das weiß er noch nicht, aber sie werden schon Unterschlupf finden.
Er lächelt sie kurz an und richtet sich dann auf. „Ich bin gleich wieder da. Bleib, wo du bist, okay?“
Langsam geht er auf Santalajas Zimmer zu. Das Wissen, dass er die Leiche ihres Vaters nicht gesehen hat, als er die Wohnung nach Santalaja absuchte, lässt ihn schwer atmen. Ein großer Klumpen scheint ihm im Hals zu stecken.
Alex ist schon an der Tür, als etwas an seinem Ärmel zieht. Erschrocken dreht er sich um. Vor ihm steht Santalaja. Ihre Pupillen sind geweitet und ein Zittern durchläuft ihren Körper.
„Tala, was ist los?“ Er nimmt sie an den Schultern und hält sie fest.
„Was … was macht du da?“ Ihre Stimme hört sich dünn an.
„Ich wollte bloß …“ Er stockt. Dann fängt er noch mal von vorne an. „Wir können hier nicht bleiben. Ich hol ein paar Sachen aus deinem Zimmer und dann machen wir, dass wir hier weg kommen. So weit wie möglich.“
Tala schüttelt den Kopf. „Nein. Geh da bitte nicht rein. Da … Ich will nicht dieses alte Zeugs tragen. Wir können doch neue Sachen kaufen.“ Flehend sieht sie ihn an und Alex kann ihr nicht widersprechen. Er nimmt sie in den Arm und streicht ihr über das glatte Haar.
„Ja - klar können wir das.“
Alle waren in schwarz gekleidet und hielten Blumen in der Hand.
Ganz vorne saß ein kleines Mädchens. Der Mann neben ihr hatte seinen Arm auf ihre Schulter gelegt und roch nach Alkohol. Das Mädchen blickte zu ihrem Vater hoch. Tränen glänzten in ihren Augen. Dann betrat der Pfarrer den Raum und sie wandte ihren Blick ab, zu der Frau im Sarg.
Als der Pfarrer die letzten Worte gesprochen hatte, wurde der Sargdeckel geschlossen und sie sah die Frau zum letzten Mal. Doch nie würde sie vergessen, wie die schwarzen Haare und die geschwungenen Lippen der Frau der ihren glichen.
Damals war sie ihr zum ersten Mal begegnet. Eine leise Stimme in ihrem Inneren, die flüsterte, dass sie nun stark sein müsse, dass es irgendwann wieder besser werden würde …
Felder ziehen vorbei. Wälder beginnen und enden. Städte sind mal auf der einen, mal auf der anderen Seite, mal vor ihnen, mal hinter ihnen. Schilder kündigen die nächsten Tankstelle an. An einer halten sie, aber nicht lange. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel.
Sie starrt die ganze Zeit aus dem Fenster. Auf ihrem Schoß hält sie eine kleine braune Bibel. Ihre Finger sind verkrampft. Seit sie das Haus verlassen haben schweigt sie wieder.
„Du hast mal gesagt, du würdest gerne das Meer sehen. Vielleicht fahren wir dorthin.“
Die Worte kommen so unvermittelt, dass Santalaja zusammenzuckt. Ein leichtes Lächeln umspielt ihre Lippen. Das Meer. Ja, da wollte sie schon immer hin. Bisher kennt sie es nur von Bildern in Katalogen und im Fernsehen, sowie von Erzählungen. Das Meer. Da ist es bestimmt schön.
Sie klammerte sich an diesen Gedanken wie an einen Fallschirm. Wenn sie sich nur fest genug das Meer vorstellt, dann verschwinden diese grässlichen Bilder für einen Moment aus ihrem Kopf.
„Bist du müde?“ Alex‘ Stimme hört sich beruhigend und wohltuend an.
Ja, ihre Lieder fühlen sich schwer an und ihre Augen brennen.
„Ich habe Angst vor schlechten Träumen“, antwortet sie. Das Reden fällt Santalaja unheimlich schwer, da ist es leichter, ans Meer zu denken.
„Keine Sorge. Ich werde da sein, wenn du aufwachst.“ Er zwinkert ihr mit seinen braunen Augen zu und Santalaja wendet sich wieder ab.
Er weiß nicht, dass diese Träume nicht einfach Träume sein werden. Davor hat sie Angst. Sie wird nie wieder schlafen können, ohne davon zu träumen. Da ist sie sich sicher. Und sie will jetzt nicht davon träumen. Nicht jetzt.
Keine zehn Minuten später ist ihr Kopf gegen das Fenster gesunken, ihr Atem geht nun ruhig und regelmäßig. Sie ist eingeschlafen.
Es war ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Mutter und an ein Sonntag gewesen. Sie kamen gerade vom Gottesdienst, als er sie darum bat, ihr hübsches, weißes Kleid auszuziehen und sich auf seinen Schoss zu setzen.
Santalaja gehorchte ihm. Schließlich war sie ein braves Mädchen, das stets darum bemüht war, ein Lächeln auf das Gesicht ihres Vaters zu zaubern. Aber als er mit der Hand in ihr Höschen fährt ziemte sie sich doch und wollte aufstehen. Doch er hielt sie fest.
„Komm, sei ein bisschen lieb zu mir“, beschwor er sie.
„Aber …“
„Kein aber. Gott würde auch wollen, dass du deinen alten Herren glücklich machst.“
Und so gehorchte sie …
Langsam verschwimmt der Traum und wandelt sich in Dunkelheit. Dann wird diese Dunkelheit immer durchdringbarer, bis sie sich endlich aus dem Schlaf befreien kann.
Als Santalaja die Augen öffnet, ist um sie herum alles rot. Verwirrt blinzelt sie und schaut sich um.
Die Sonne wirft ihre letzten Strahlen über den Horizont und es wird nicht mehr lange dauern, dann hat sie sich endgültig für den Tag verabschiedet. Aber sie fahren nicht mehr. Autos stehen dicht an dicht und bilden eine große Schlange, die hinter dem nächsten Hügel verschwindet.
Es dauert gar nicht lange, bis sie ganz wach ist. Ihr Magen fühlt sich leer an und gibt einen protestierenden Laut von sich.
„Na, wieder wach?“ Alex‘ Stimme klingt schrecklich freundlich. Sie kann es kaum ertragen. Wie kann er bloß so freundlich sein? Er weiß doch ... „Hast du Hunger? Was meinst du? Sollen wir an der nächsten Abfahrt runterfahren und nach Unterkunft für die Nacht suchen?“
„Wieso?“
Ihm war schon von Anfang an klar gewesen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Als er damals mit ihr in eine Klasse kam, war sie im ersten Augenblick das schüchterne Mädchen in der Ecke gewesen. Er hatte Mitleid mit ihr, weil sie immer so allein da saß und nie etwas zum Essen dabei gehabt hatte. Nur deshalb hatte er sie angesprochen gehabt. Das war in der Grundschule gewesen.
Schnell hatte er gemerkt, dass sie anders als andere Mädchen war. Sie war zwar schüchtern, aber wenn man sie verärgerte, dann konnte sie richtig aggressiv werden. Dann war es so, als sei sie besessen .Außerdem hatten ihn ihre blauen Augen gefangen genommen.
Eines Tages war sie zu ihm gekommen, um ihm etwas zu zeigen.
„Komm schon, komm mit.“ Sie hatte ihm am Ärmel mit sich gezogen. Das war das erste und letzte Mal gewesen, dass er sie so aufgeregt gesehen hatte.
Sie führte ihn zu einem kleinen Teich hinter dem Schulgebäude, der von braunem Gras umgeben war. Sie kniete sich nieder und er setzte sich neben sie.
„Was denn? Ich sehe nichts“, hatte er gesagt und sie hatte den Finger an den Mund gelegt und ein „Schscht!“ von sich gegeben. Dann erklärte sie. „Ich kann machen, dass das Gras wieder grün wird.“ Da musste Alex lachen. „Du spinnst doch! Komm, lass uns zur Klasse gehen, bevor es Ärger gibt.“
Aber sie hatte ihm am Ärmel festgehalten und er musste bleiben. Ganze 15 Minuten standen sie dort und nichts passierte. Schließlich lies sie den Kopf sinken. „Aber letztes Mal hat es doch geklappt. Letztes Mal …“
„Jaja, sicher!“, mit diesen Worten war er sauer davon gegangen, in dem Glauben, sie wolle ihm nur einen Streich spielen …
Sie nehmen sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel, weil Santalaja Angst hat, alleine zu schlafen. Draußen prangt ein orangefarbenes Schild mit weißer Schrift. Die Straße, in der es liegt, ist schmutzig und eng. Häuserblocks liegen an ihm. Bis zur Stadtmitte ist es allerdings nicht weit.
Das Zimmer ist klein und das Bett sieht alles anders als bequem aus. Das Licht einer Straßenlaterne fällt durchs Fenster.
Santalaja setzt sich aufs Bett, das daraufhin ein protestierendes quietschendes Geräusch von sich gibt.
„Tala, ich werde dich kurz allein lassen, okay?“
Aus großen Augen sieht sie ihn an und schüttelt fast panisch den Kopf. „Nein, bitte. Lass mich nicht allein!“
Alex geht vor ihr auf die Knie und nimmt ihre schmalen Hände. „Ich muss. Aber ich bin bald zurück. Ich möchte nur etwas zum Essen besorgen. Mehr nicht. Und morgen besorgen wir uns frische Klamotten, bevor wir weiterfahren. Ruh dich aus.“
„Wieso kann ich nicht mit?“
„In deinem Zustand … Tala ...“
Santalaja senkt den Kopf und nickt bedächtig. „Aber du bist in einer halben Stunde zurück, ja?“
Er steht auf und streicht ihr über das glatte Haar. „Klar.“
Es war der Tag gewesen, als er sie zum ersten Mal richtig sauer machte. Er wusste nicht mehr wegen was es war, nur noch, dass es sich eigentlich um eine kleine Lappalie handelte, mehr nicht. Aber so wütend war sie noch nie auf ihn gewesen. Das war jetzt vielleicht fünf oder sechs Jahre her.
Sie war außer sich vor Wut aus seinem Elternhaus geflohen. Instinktiv war er hier hinterher gerannt und hatte gerufen, sie solle warten, es täte ihm leid. Er hatte sie nicht sauer machen wollen.
Als er sie auf der Straße endlich am Handgelenk zu packen bekam wehrte sie sich. Sie schlug um sich und schrie er solle sie los lassen. Er versuchte, es ihr zu erklären, doch da stieß sie ihn schon mit unglaublicher Kraft von sich und her fiel hin. Ein Schmerz hatte seinen Kopf durchzuckt und Blut war ihm aus der Nase gelaufen. Als er aufblickte und sich das Blut von den Lippen wischte, stand sie da und starrte kalt auf ihn hinab. Und da hatte er es gesehen. Da hatte er ihre Augen gesehen. Die wunderschönen blauen Augen. Die Augen, die nun grün waren und es für immer bleiben würden …
Sie liegt auf dem großen Bett und starrt an die Decke.
Was hat sie nur getan. Sie hat ihren eigenen Vater ermordet. Aber nicht einmal das ist schlimm. Das Schreckliche daran ist, auf welche Weise sie es getan hat.
Santalaja hebt ihre Hände und sieht sie ausdruckslos an …
„Nein, bitte hör auf. Ich will das nicht.“ Santalaja rutschte auf ihrem Bett zur Wand, während ihr Vater über sie gebeugt stand.
„Ach komm, sei ein wenig lieb zu deinem Vater.“ Seine Hand berührte ihren Oberschenkel. „Oder hast du deinen Papa nicht mehr lieb?“
„Ich will das nicht. Das hat nichts mit Liebe zu tun. Bitte hör auf.“ Sie zitterte am ganzen Leib. Aber was hätte sie tun sollen. Sie war doch so schwach, sie konnte sich nicht zur Wehr setzen. Ach, wenn doch nur Alex da wäre … Wieso kann sie nicht so stark sein, wie er es ist?
Sie spürt die Hand ihres Vaters hoch gleiten und sie zwischen ihren Beinen berühren. Die andere lag auf ihrer Brust und begann diese zu kneten. Da passierte es. Es ist nur eine kleine Erinnerung, die aus dem Nichts heraus taucht, eine Erinnerung an Gott, der an der Beerdigung ihrer Mutter zum ersten Mal mit ihr gesprochen hat. Der sie seit her gelehrt hat. Denn Gott war weiblich und stärkte alle schwachen Frauen.
Sie spürt, dass sich die Macht, die er ihr gegeben hat, in ihr aufbäumt und hindert sie nicht mehr daran, den Weg nach draußen zu finden. Denn dann wird alles vorbei sein. Gott hat gestern Abend gesagt, sie hätte nun ihre ganze Kraft beisammen. Nun könne sie sich wehren. Und sie würde mit Alex zusammen sein können. So wie es Gott gestern Abend versprochen hatte …
Das Mädchen schreckt aus dem Schlaf hoch und sieht in völlige Dunkelheit. Für einen Moment weiß sie nicht, wo sie ist. Doch dann kommen die Erinnerungen zurück.
Sie hört Alex‘ Atem neben sich und tastet nach ihm. Ihre Finger erfühlen seinen Rücken und sie rollt sich näher an ihn heran.
„Alexander?“, flüstert sie leise. „Alex, bist du wach?“
Keine Antwort.
Behutsam legt sie einen Arm um ihren besten Freund und drückt sich an ihn. Er regt sich bei dieser Bewegung und dreht sich zu ihr um.
„Tala? Bist du das?“
„Ich habe Angst.“ Sie drückt ihren Kopf an seine Brust.
„Tala, was ist los?“
„Ich … ich … ich habe davon geträumt“, schluchzt sie.
„Wovon geträumt?“
Sie weiß nicht, wie sie es ihm erzählen soll, aber auf einmal weiß sie, dass sie es gar nicht mit Worten beschreiben muss. Sie kann es ihm mit Bildern zeigen …
Für einen Moment glaubt Alex, er würde noch träumen. Dann spürt er Santalajas kalte Hand, die seine fasst. Klar und deutlich. Aber wie kann das sein …?
Er steht in Santalajas Zimmer, auf dem Bett liegt Santalaja, ihr Vater über ihr. Aber nein, sie steht doch auch neben ihm. Wie kann …?
„Ich habe da etwas in mir …“, murmelt die Santalaja neben ihm. „Ich weiß nicht, was es ist … aber es macht das hier.“ Sie hebt ihre Hand und zeigt auf ihren Vater, der so eben dabei ist, die andere Santalaja zu belästigen. „Will das nicht noch einmal sehen …“, weint sie leise neben ihm. „Aber du willst es sehen … Und es sind nur Erinnerungen … die tun einem nichts.“ Es hört sich an, als würde sie sich selbst damit beschwichtigen wollen.
Alex nimmt sie in den Arm und spürt ihre kalte Haut unter dem T-Shirt. „Ist ja gut. Du musst es mir nicht zeigen, wenn …“ Ein Schrei unterbricht ihn. Erschrocken starrt er auf den Vater, der gekrümmt auf dem Boden liegt und von dem das grelle Geräusch aus geht. Das Hemd ist zerfetzt und große, lange Kratzer entstellen seine Brust. Die Santalaja auf dem Bett starrt ihren Vater bloß regungslos an, als wäre es das natürlichste der Welt.
Der Mann auf dem Boden schreit noch lauter, – obwohl sich Alex gar nicht vorstellen kann, dass es noch lauter geht, – als etwas Unsichtbares seinen Magen aufreißt und die Gedärme heraus quirlen. Blut spritzt in alle Richtungen davon. Dann verstummt er mit einem Mal und liegt mit offener Kehle da. Er ist tot.
Voll Grauen starrt der Junge auf den Toten. Wie ... ? Was …? Warum …?
Er selbst nimmt sein eigenes Zittern am ganzen Körper nicht wahr. Er kann einfach nur auf die Leiche starren und sich nicht von ihrem Anblick lösen. Erst der leise, erstickte Schrei neben ihn wirkt befreiend. Er hat gar nicht gemerkt, wie er das Mädchen los gelassen hat.
Er starrt sie an. „Santalaja … Es ist … vorbei …“
Da schreit sie wieder. Und dieses Mal begreift er ihre Worte und dass sie an ihn vorbeistarrt. „NEIN! HÖR AUF!“
Er wendet sich um. Sieht zu der anderen Santalaja. Diese wiederum starrt zurück. Ihre Blicke kreuzen sich. Sie sieht ihn direkt an. Aber das kann doch gar nicht sein! Sie hat doch gesagt, das alles hier wäre bloß Erinnerung!
Er spürt einen stechenden Schmerz in seiner Brust und die echte Santalaja schreit noch lauter. „Hör auf! Hör auf! Das darfst du nicht! Das kannst du nicht! Du bist bloß Erinnerung!“ Sie bricht schluchzend auf dem Boden zusammen.
Etwas streift über Alex´ Kopf hinweg und er spürt es an den Haaren reißen. Er schreit vor Schmerzen auf, als sich sein Haaransatz beginnt, sich vom Kopf zu lösen. Blut rinnt zuerst die Stirn herunter, dann an den Schläfen und schließlich vom ganzen Körper. …
Santalaja liegt neben dem verstümmelten Leichnam ihres Freundes. Wie einem Käfer hat man ihm die einzelnen Glieder ausgerissen. Auch der Kopf fehlt. Sie weint.
Das andere Mädchen kommt auf sie zu. Santalaja wendet sich an sie und blickt sie an. „Wieso … weshalb er? Wer bist du?!“ Und in dem Moment, in dem sie diese Frage stellt, wird ihr alles klar. Sie ist hier, weil sie es ihm zeigen wollte. Es ist real, weil sie Angst davor hatte. Es ist alles wahr, wovor sie jemals Angst gehabt hatte …
Santalajas Ebenbild lässt sich neben sie nieder und streicht ihr über das Haar. „Ich bin du“, flüstert sie. „Ich bin da, um uns zu rächen.“ Und sie erkennt diese Stimme.
„Nein“, schluchzt die echte Santalaja. „Nein …“ Sie spürt die Hand ihres Spiegelbildes auf ihrem Gesicht und muss noch mehr weinen.
„Doch … “ Das Licht über dem falschen Mädchen bricht sich und es scheint, als würden zwei dunkle Flügel aus ihrem Rücken heraus ragen. Der Racheengel sieht seine andere Seite lächelnd an.
Beide weinen Blut …