ER oder die Revolution des geriatrischen Geschwaders
Schlange am Pfandautomat, direkt am Eingang. Alles ab sechzig plus tummelt sich mit Rollatoren und quer gestellten Einkaufswagen, sodass niemand mehr Platz hatte, das Gebäude zu betreten oder zu verlassen.
"So geht das doch hier nicht! Er hat doch meine fünfundzwanzig Zent!"
Er war weder gesprächs- noch kooperationsbereit. Schließlich war ihm jegliches Gezeter egal. Sowieso war ihm alles egal. Wenn voll, dann voll. Wenn wieder leer, dann weiter. Ein etwa achtzig Jahre alter Herr stand bei ihm und beobachtete argwöhnisch, mit leicht gerötetem Gesicht den Vorgang. Die zuletzt von ihm eingelegte Flasche rotierte ziellos im Pfandautomaten umher.
Eine circa dreißig jährige Frau gesellte sich zu der munteren Truppe und beobachtete, mit ihrem Pfandbeutel in der Hand, amüsiert die Szenerie. Das muss eine Demo sein, dachte sie. Sie planten bestimmt die Revolution gegen die Maschinen! Angefangen beim armen Supermarkt Praktikanten, der dafür zuständig war, den Pfandautomaten zu beaufsichtigen. Weder konnte dieser etwas dafür noch war er eine Maschine.
Ein Mann um die sechzig, lief aufgeregt hin und her und hatte bereits "Hilfe" geholt. Er sagte zu seiner Frau, dass sie doch schon mal einkaufen gehen solle. Brachte ja nichts, wenn sie beide hier herum stünden.
"Ja aber da kommt doch keiner."
"Doch! Kommt doch einer."
Unterdessen packte eine etwa neunzigjährige Dame in aller Seelenruhe Ihre erstandenen Waren in den mitgebrachten Stoffbeutel. Dieser Platz war weder für so ein Unterfangen vorgesehen, noch sehr praktisch für dieses. Schon gar nicht in Zeiten der Revolution. Das störte die Dame überhaupt nicht. Ab und an blickte sie in das Chaos und schmunzelte. Die dreißigjährige lächelte zurück und war sich absolut sicher, dass die Dame eine diebische Freude daran hatte, hier auch noch im Weg herum zu stehen mit Ihrer einen Pfandflasche. Immerhin war es jedem Menschen völlig frei überlassen, wie er sich amüsierte!
Einen Meter weiter vorne in Richtung der Lichtschranke des Einganges kam Panik auf. Eine etwa achtzig Jahre alte Dame drehte sich zu den Demonstrierenden um und rief verzweifelt in Richtung Auotmat:
"Siiieeechfrrried, nun komm doch Siechfrrried!"
"Ja, ich kann doch nicht", rief Siegfried noch verzweifelter zurück. "Der hat doch meine fünfundzwanzig Zent!"
Eine Dame um die sechzig Jahre drehte sich nun ebenfalls um und sagte zu dem sechzig Jährigen:
"Heiko, da kommt keiner."
"Doch, er hat doch gesagt, dass er kommt. Da macht doch schon einer!"
Alle waren nun mehr als gestresst und die Dreißigjährige fragte sich derweil, wer wohl gerade wo hin machte. Und das auch noch in einem Lebensmittelgeschäft!
Voller Inbrunst schrie Siegfried nun in die runde Öffnung des Automaten, dass ihm doch immer noch fünfundzwanzig Zent fehlten. Sein Kopf war nun sehr rot. Nun überschlugen sich die Ereignisse!
Heiko versuchte nun Siegfried zu beruhigen und erklärte ihm, dass der junge Mann doch aber auch noch eine neue Tüte in den Korb rein machen müsse. Während dessen rempelte Heikos Frau, nennen wir sie Ulla, die Neunzigjährige an. Ein Versehen?
Die Neunzigjährige, nennen wir sie Agathe, sagte, dass das doch absolut nichts machte und packte weiter stoisch Rosenkohl und Butter zu ihrem restlichen Einkauf.
Die Dreißigjährige, nennen wir sie Steffi, musste nun fast auch mal machen. Sie bog sich innerlich vor Lachen. Sie wollte etwas Gutes tun und Siegfried erklären, wie nun weiter vorzugehen sei. Dieser jedoch, war völlig außer Rand und Band und wedelte mit der zuvor rotierenden Flasche in der Luft. Seine fünfundzwanzig Zent! Verstand das denn hier keiner? Nun kam Ulla und schrie Steffi an, dass sie doch mit Heiko vor Ihr in der Schlange stand! So ging das nicht! Steffi hatte selten solch Probleme gehabt, einen Lachanfall zu unterdrücken. Ihr schossen bereits die Tränen in die Augen. Nun hatte Heiko die Faxen dicke und schrie Siiieeechfrrried an, dass er doch nun auch mal einkaufen gehen wolle. Man müsse hier ja mal irgendwie weiter kommen!
Ein etwa Vierzigjähriger gesellte sich zu dem Chaos und blickte dümmlich drein.
Agathe hatte genug gesehen. Das war ja ein vortrefflicher Einkauf! Lächelnd drehte sie sich zu Steffi um, drückte dieser ihre eine Pfandflasche in die Hand, wünschte ihr einen schönen Tag und ging nach Hause. Ja, ausdrücklich nur Steffi!
Steffi feierte innerlich Che Gevuara und versuchte nun Heiko zu beruhigen. Das fand Ulla auch nicht gut. Zum wiederholten Male ermahnte sie die dreißigjährige, dass sie und Heiko doch vor Ihr in der Schlange standen!
Er war nun wieder einsatzbereit. Eigentlich schon seit ein paar Minuten. Das merkte nur keiner bis auf Steffi. Diese sah sich aber außer Stande, die Situation zu klären, denn allerspätestens beim nächsten Versuch ein Wort zu sprechen, wäre der Lachanfall aus ihr heraus geplatzt. Das hätte die Situation mit Sicherheit zum eskalieren gebracht.
Nun kam der junge Praktikant aus dem Automatenraum und strahlte den völlig fertigen Siiieeechfrrried an. Lächelnd erklärte er ihm, wie weiter vorzugehen sei. Unterdessen verstaute nun Heiko sein und Ulla's Leergut in ihm. Danach drehte er sich mit einem triumphierenden Blick zu Steffi um. So machte man das! Ausserdem waren sie ja auch vor ihr an der Reihe...
Steffi wartete brav bis Siiieeechfrrried und... Nennen wir sie Thea. Steffi wartete nun also brav bis Siegfried und Thea Ihre restlichen zwei Pfandflaschen ordnungsgemäß in die runde Öffnung von ihm befördert hatten. Sie zogen Ihren Bon und der junge Praktikant schrieb die fehlenden fünfundzwanzig Zent auf diesem dazu.
Lächelnd führte Steffi nun auch Ihre Pfandflaschen behutsam in ihn ein. Er hatte für heute schon zu viel durchgemacht um weiterhin mit geriatrischen Rohheiten leben zu müssen. Sie ging einkaufen. Kurz vor der Käsetheke eine Menschentraube. Mit Adleraugen erfasste sie die Situation. Siegfried is back! Steffi umfuhr diesen Bereich weiträumig, erledigte die restlichen Einkäufe und bezahlte ohne weitere Vorkommnisse.
Beim verlassen des Ladens wünschte sie ihm einen beschwerdefreien Tag und ein schönes Wochenende.
Viv-a La Revolution !!!