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Erinnerungen in Stein gemeißelt.

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30.01.2021
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Erinnerungen in Stein gemeißelt.

Mein Vater und ich fahren durch sein Heimatdorf. Wir fahren, bis wir das Ortsausgangschild sehen und biegen davor rechts ab. Wir halten vor dem Eingangstor des Friedhofes. Wir steigen aus, ich sehe mich um, mein Vater nicht. Ihm ist hier jedes Detail vertraut. Er geht direkt zum Eingang, ich schaue mir das kleine alte Feuerwehrhaus an, das vor dem Friedhof liegt. Die Gardinen hinter den kleinen Fenstern sind zugezogen und gräulich vergilbt. Wie unter der Erde des Friedhofs, ist auch hier das Leben erloschen, wo früher Brände mit Schnaps gelöscht wurden.

Während mein Vater gezielt das Grab seiner Eltern ansteuert, laufe ich langsam hinter ihm her und erinnere mich an das letzte Mal, als ich hier gewesen bin. Es ist fast zwölf Jahre her. Meine Oma, seine Mutter haben wir damals auf ihrem letzten Weg zu ihrem Mann begleitet und die beiden ein zweites Mal und dieses Mal für die Ewigkeit zusammengebracht. Das Wetter war grau und kalt, so wie für uns dieser Tag.
Heute steht mein Vater vor dem Grab seiner Eltern und hakt das Grab. Er hakt um das Grab herum. Er hakt den Weg davor, links und rechts vom Grab natürlich auch. Eine Ordnung, die seinen Eltern bestimmt gefallen hätte. Ich versuche mich danach dem Grab nicht mehr zu nähern, sodass ich nichts durcheinanderbringen kann.

Mein Vater geht danach durch die Reihen der Gräber und durch seine Erinnerungen. Er kann jeden Grabstein zuordnen, wie ein Fotoalbum in Stein gemeißelt. Ein paar alte Gräber sind bereits abgetragen beziehungsweise erinnern nur noch Gedenksteine mit schwach lesbarer Innenschrift als verblasste Erinnerungen. An einem Ort, an dem die Zeit scheinbar zu enden scheint, hinterlässt auch sie ihre Spuren.
Wir bleiben vor einem größeren Grabstein stehen. Auf ihm stehen in Gedenken an eine kleine Familie drei Namen. Die Eltern und ihr Sohn. Sie überlebten ihn, er fiel Russland. Der Name der Frau, Frieda, kommt meinem Vater bekannt vor und ragt aus dem Sammelsurium der Erinnerungen dieses Ortes heraus. Der Name, das Sterbedatum, er vermutet seine Großmutter. Zum ersten Mal seit wir hier sind, fängt er an sich umzuschauen und auf der Wiese bekannter Namen nach Erinnerungen zu suchen, die seine Vermutungen bestätigen. Er schaut sich ein zweites Mal um und lässt dann seine Gedanken davon ab.

Rechts daneben ist ein weiterer Familiengrabstein. Der eines Arbeitskollegen seines Vaters. Er war eines Frühsommers dafür verantwortlich meinem Vater und anderen Kindern des Ortes das Rüben verziehen zu erklären.
Im jungen Frühling werden die Samen der Zuckerrübe ausgebracht und zwei Monate später sind die Pflanzen auf ungefähr zehn Zentimeter gewachsen. Bei der Saatgut wurden damals Samenkörner verwendet, aus der mehrere Pflanzen keimten. Nun entstand daraus die Aufgabe, dass die überschüssigen Pflanzen in mühseliger Handarbeit entfernt werden mussten, sodass die stärkste Pflanze Platz zum Wachsen hatte.
Die Reihen mit den Zuckerrübenpflanzen waren so lang das Auge reichte und länger als die Knie den Körper trugen. Die Arbeit war körperlich wie mental eine Belastung. Als Kinder lernten sie früh wie hart es war zu arbeiten, sodass die Familie nicht hungern musste.

Auf dem Weg zurück zum Ausgang zeigt mein Vater auf zwei Grabsteine links von uns versetzt in zwei Reihen schräg hintereinander, seines Cousins und seines Onkels. Beide erlagen der Volkskrankheit des Sozialismus, der eine jünger, der andere älter aber beide zu früh.
Mein Vater erzählt mir wie er früher mit seinem Cousin im Winter in den Wäldern hinter dem Friedhof Schlitten fuhr und wie sie zusammen auf einem Tümpel, abgeschieden und unscheinbar gelegen Schlittschuhfahren lernten. Sie waren stundenlang unterwegs, bis sie durchgefroren bis unters Hemd waren und die Wollhandschuhe vom Schnee durchnässt und die Finger klamm wurden. Jahre später verbrachten sie dann nicht mehr die Zeit gemeinsam draußen im Wald und auf dem Eis, sondern saßen am Tresen und waren höchstens durchnässt von verschütteten Getränken. Sie feierten gemeinsam in den Nächten und das Leben. Für seinen Cousin war das Leben ein einziger Rausch. Er fand kein Ende und so fand das Leben eins für ihn.
Sein Onkel war zu Zeiten des Sozialismus ein ranghoher Mann. Die Überzeugung an das System sollte die Mauer überdauern aber nicht den persönlichen Herausforderungen des Kapitalismus standhalten. Früher war der Schnaps günstig und allgegenwärtig. Später wurde aus Gewohnheit Sucht. Der Schnaps wurde teurer und kostete ihm das Leben.

Als wir den Friedhof verlassen wollen, kommt uns ein Vater mit seiner Tochter entgegen. Wir gehen zum Auto und sehen, wie die beiden zum Grab der vermeintlichen Oma Frieda gehen. 60 Jahre liegt sie nun schon hier und hat heute binnen kürzester Zeit vier BesucherInnen, sie muss ein toller Mensch gewesen sein.
Kurz bevor wir ins Auto steigen, möchte mein Vater mir doch noch etwas zeigen. Vor dem Friedhof rechts vom kleinen alten Feuerwehrhaus steht ein Gedenkstein für die gefallenen Soldaten des Ortes im ersten Weltkrieg. Unten am Fuße und zur Straße gerichtet, ist eine kleine neuere Tafel für die gefallenen Soldaten des zweiten Weltkrieges des Ortes.
Der erste Name auf der Tafel ist der meines Vaters. Ich schaue auf die Tafel, dann ungläubig zu ihm und noch ungläubiger auf die Tafel. Leben und Tod, Gegenwart und Vergangenheit vereint.
Er erklärt mir, dass sein Vater ihn nach dessen gefallenen Bruder benannt hatte. Kurze Stille, alles gesagt. Er wendet sich von der Tafel ab und läuft gezielt zum Auto. Ich laufe langsam hinter ihm her und denke daran, dass dies nicht das letzte Mal bleiben darf, dass ich hier gewesen bin.

 

Hallo @Fa Da
Ich habe deine Geschichte gelesen und der Titel hat mich sofort neugierig gemacht. Ich finde, dass dir der Anfang und das Ende sehr gut gelungen ist. Meiner Meinung nach hättest du in der Mitte ein paar Dialoge einbauen können, das hätte die Geschichte interessanter gemacht, dennoch habe ich sie gerne gelesen. Du hast den Friedhof sehr gut geschrieben, das gefiel mir.
Liebe Grüße
Amy

 

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