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Erstes Mal

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06.01.2022
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Erstes Mal

Es war der erste Sonntag im August. Ein Offizier rekrutierte am Kirchenausgang. Am Vorabend war die Nachricht gekommen, auf die man seit dem 19. Juli gewartet hatte: Der Kurfürst war dem preußisch-österreichischen Bündnis beigetreten!
Wehe denen, die uns zum Kampf zwingen! Paris liegt keine vierzehn Tage von Mainz entfernt. Eine schnelle Sache. Ein Monat hin und zurück, plus zwei oder drei Wochen, um die Pariserinnen kennenzulernen: Zur Lesezeit wären wir wieder da.
Hatte ich gedacht! Außerdem … ein Handgeld von sechs Gulden!

Am 31. August zogen wir unter dem Jubel des Volkes und dem Geläute der Kirchenglocken ins Feld. In der Stadt kursierten Gerüchte, der König von Preußen hätte Logen in der Opéra reserviert. „Uns erwartet der Ruhm!“, brüllte mein Kamerad Zollner beim Verlassen des Gautors.
Während des Marsches änderte sich bald der Ton. Es war die Rede von einer Armee fünfmal so stark wie die unsere. Sie besäße viermal so viele Kanonen wie wir. In den Augen unseres Obersts sollte dies nicht weiter schlimm sein. Es rumorte, er hätte sich sogar über die Anzahl ihrer Kanonen gefreut, da er damit rechnete, wir würden sie erbeuten.
Unsere Route folgte dem Rhein, der über die Ufer trat und wie ein Spiegel glänzte. Nach vier Tage waren wir in Speyer.

Die Proviantwagen waren zurückgegangen, die Munitionswagen waren vorgerückt, um halb zwölf ging es richtig los. Die Franzen fingen an, von der etwa hundert Ruten vor unseren Linien gelegenen Batterien heftig zu feuern. Unser Hauptmann verließ seinen Platz hinter der Kompanie, um sie besser zu beobachten. Er richtete sich in den Steigbügeln auf … Der Schuss eines Vierpfünders riss den Knauf seines Sattels weg, an dem seinen Rosenkranz hing, ohne ihn oder sein Pferd zu berühren. Sein Wallach bäumte sich auf und warf ihn fast um.
Während ich auf die feindlichen Kanonen blickte, feuerten sie eine Salve ab. Für eine halbe Sekunde war mir, als sähe ich einen dunklen Punkt, der sich in der weißen Wolke abzeichnete. Ich zog instinktiv den Kopf in die Schultern. Das Geschoss flog schrillend vorbei. So nah, dass mir für ein paar Sekunden Hören und Sehen vergingen. Die Vibration des Bodens breitete sich in meinem ganzen Körper aus.
Der heftige Luftstoß hatte mich zu Boden geworfen. Ich war wie betäubt, aber meine Sehkraft kehrte zurück. Nachdem ich mich aufgerafft hatte, tastete ich meinen Kopf ab, kontrollierte meine Arme, meinen Bauch, meine Beine. Alle meine Glieder zitterten. Unversehrt! Nichts! Der Rausch des Überlebens löschte alle anderen Gefühle aus.

Gegen drei Uhr kamen zwei dichtgeschlossene Heersäulen mit wehenden Trikoloren aus dem Wald. Es drohte schlimm zu werden …
Es wurde schlimmer. Die Sansculotten, die zahlreicher als die Fliegen im Schlachter waren, umschwirrten uns von den Flanken her und rückten langsam näher. Ich grübelte darüber, wie viel von uns am Abend noch leben, als das Rückzugsignal gepfiffen wurde.

Endlich eine Pause. Wir hatten seit Beginn des Einsatzes keinen Tropfen getrunken und meine Kehle war von dem beißenden Rauch des Pulvers ausgetrocknet. Kaum hatte ich meine Feldflasche herausgeholt, dass schon der Befehl fiel: „Reinigung der Waffen!“ Ihre Läufe müssen nach etwa fünfzig Schüssen gesäubert werden. Aber wie? Wir hatten nichts, weder Lappen noch Leinöl.
„Zeig es ihnen, Weigand!“, ordnete der Hauptmann.
Weigand, ein altgedienter Soldat, ließ uns einen Halbkreis bilden, stellte sich in die Mitte und knöpfte seinen Hosenlatz auf. Er legte auf diese Weise eine sechs Zoll breite Öffnung an der Vorderseite seiner Hose frei:
„Den Körper leicht nach vorne neigen. Den Kopf in Verlängerung des Oberleib...“
Plötzlich brach er ab: „Achtung!“, schrie er (Zollner hatte gerade Wasser so heftig gelassen, dass die Schuhe des Veteranen Spritzer abbekamen.) „Es kommt nicht auf die Stärke des Strahls an, sondern auf seine Zielgenauigkeit!“
Der Vorgang verlangt Sorgfalt und Umsicht. Trotz einem hohen Maß an Konzentration tropfte die Flüssigkeit um den Lauf meiner Flinte herum, auf den Riemen, auf den Schaft; ich benetzte den Ärmel meines Kommissrockes und meine linke Hand, die das Gewehr hielt …
Gerade war ich dabei, meine Gamaschen zu bepissen, als uns eine heftige Explosion überraschte und uns drängte, unser Instrument wieder in unsere Hose zu packen. Im Nu hatten wir den Latz wieder zugeknöpft.

Es mochte sechs Uhr gewesen sein, als die Batterien verstummten. In diesem Moment stürzte sich ein Zug vom Bataillon Toskana-Dragoner in den Rheinarm und ergriff die Flucht.
„Wir laufen ihnen nach!“, schrie Zollner.
Es gab ein heilloses Durcheinander. Ich watete ein paar Schritte durch das Wasser.
Die süße Hoffnung, in den Morast Zuflucht zu finden, verging sobald Zwölf-Pfund-Kugeln pfeifend über unsere Köpfe hinflogen, die uns zwangen, in die Kniebeuge zu gehen. Sie fielen wenige Ruten vor uns in Fontänen aus stinkendem Schlamm. Ich war durchnässt. Die Sache war zu brenzlig, um meine Empfindungen weiter zu erforschen. Jemand zog mich am Ärmel meines Rockes. Es war Weigand:
„Wir haben den Befehl erhalten, ans Ufer zurückzukehren. Wir haben uns ergeben!“, flüsterte er mit einer von Emotionen verzerrten Stimme.
Bittere Tränen rollten ihm über die Wange; hinter uns schlugen Tamboure die Schamade, die den Waffenstillstand ankündigt.

Wie schlafbenommen warfen die Kadetten unserer Kompanien ihre Fahnen zu Boden. Der Wind hatte sich gelegt und der Abendnebel stieg auf. Der fade Geruch von verrottetem Blut stagnierte und vermischte sich mit dem des Schießpulvers, das noch in der Luft schwebte. Nachdem wir die Hähne unserer Büchsen abgeschraubt hatten, traten wir den Rückweg nach Speyer an, den Blick auf unsere Schuhspitzen geheftet. Hinter uns trommelten die Franzen einen feierlichen Rigaudon auf ihren Ziegenfellen. Ohne es zu wollen, passten wir unseren Tritt dem Takt ihrer Musik an.
„Sie spielen uns den Kehraus!“, sagte Zollner.
Das Regiment Kurmainz hatte kapituliert; wir waren in Gefangenschaft geraten ... Es war acht Uhr abends am 30. September im Jahr des Herrn 1792; unser Feldzug hatte lediglich einen halben Tag gedauert!

An diesem Montag waren wir keine Soldaten mehr. Unser Regiment war nur noch eine Kolonne Gefangener, die sich auf einem von Pfützen durchfeuchteten Weg dahinschleppte. So weit ich sehen konnte, säumten französische Husaren unsere Route und beobachteten, wie wir durch den tief aufgelösten Lehmboden stapften. Fetter, klebriger Lehm, aus dem sich die Füße mit einem saugenden Geräusch herauszogen. An einer Weggabelung ließ man uns warten. Gerüchte liefen, die sich blitzschnell verbreiteten. Zum einen, dass wir nach Straßburg gebracht würden und dort unsere Ruhe hätten. Zum anderen, dass wir in der Festung Landau gehängt würden.
Nach einer Stunde setzte sich unser Tross wieder in Bewegung … gen Landau!

Wir wurden dort wie Freunde empfangen. Mit Kokarden und Erfrischungen!
Zwei Tage später trafen wir vor der Zitadelle Straßburg ein. Die Musik der Regimenter kam uns entgegen. Die berittene Gendarmerie gab uns das Geleit bis zur Rue de la Soupe à l'eau (Wassersuppgasse).
Ein Name; ein Versprechen.
Zelte und Kessel voll mit heißer Reissuppe warteten auf einer Esplanade vor einer Kaserne. Man hieß uns „Vive la Nation“ (es lebe die Nation) als Zeichen der Dankbarkeit rufen. Das taten wir auch gern. Drei Mal sogar! Die Franzen erfreuten sich an unseren Schreien so sehr, dass sie uns mit Schuhen und Tabak gratifizierten.
Über Colmar setzten wir unseren Marsch nach Langres fort. Die Gastfreundschaft der Einwohner dieser Stadt erwies sich weniger enthusiastisch; wir waren nicht mehr auf der Durchreise, sondern sollten bleiben. Unsere Brotration schrumpfte von Tag zu Tag. Ein paar Waffenbrüder erkrankten an Ruhr. Im säkularisierten Priesterseminar zu St. Geosmes wurden sie von einer ehemaligen Nonne gepflegt.
Sie hat sich auch um mich gekümmert...

Hierorts grassiert ein entsetzlicher Müßiggang. Bei unserer Ankunft am 14. Oktober hat der Dolmetscher uns erklärt, dass unser Tagessold nicht in klingender Münze, sondern in Assignaten ausgezahlt wird. Abends bei geschlossenen Toren durften wir uns in der Stadt austoben. Bis dato hatte ich vom höchsten Glück nur eine vage Ahnung; meine Unschuld war intakt. Das wertlose Papiergeld und das schlechte Beispiel von Zollner und Weigand kosteten mich diesen Schatz.
„Komm mit uns, die Französinnen werden dir das Alphabet der Liebe beibringen“, haben sie insistiert.
Das Etablissement auf dem neu umbenannten Place de la Fraternité (Brüderlichkeitsplatz), der von den Einheimischen immer noch Marché aux porcs (Schweinemarkt) genannt wird, erzielt seine Einnahmen während der Sperrstunde. Der Wirt bietet Rausch im Erdgeschoss und seine Frau, die aus dem Elsass stammt, Liebe in den oberen Stockwerken.

Zollner hatte mich am Fuß der Treppe, die in den zweiten Stock führt, Madame überlassen. Sie verlangte vierzig Sous, bevor ich mich eine ihrer Töchter aussuchen dürfte.
Sie hielt mich wohl für verschwenderisch oder sehe ich so naiv aus?
„Du! Ich bin kein Krösus. Zwanzig Sous, kein Heller mehr!“, sagte ich.
Nur ein paar Schritte entfernt, schäkerte Weigand mit zwei Schicksen, die mit hochgeschlagenen Unterröcken auf jedem seiner Beine saßen. Er hatte die Szene beobachtet. Lachend sprach er die Wirtin an:
„Gib ihm die Toinette!“
Als er sah, dass Madame einige Bedenken hegte, räumte er sie aus:
„Er hat noch das Ungestüm der Jugend!“
Er winkte mir mit der Hand zu:
„Geh hoch!“

Oben war ein finsterer Flur. Ich tastete mich langsam hinter der Wirtin vor, bis sie eine Tür öffnete und mich in eine Abstellkammer schob, die vom rötlichen Schein eines Wachslichtes erhellt wurde. Mamsell Toinette ignorierte meinen schüchternen Gruß und verrichtete ihre Waschungen über einer Schüssel, die zwischen ihren Füßen auf dem Boden stand, ohne sich umzudrehen. Die Luft im Raum war von scharfen Gerüchen erfüllt. Sie besaß eine echte den Geruchssinn verletzende Konsistenz.
Mamsell trocknete sich lautlos im Schutze der Dunkelheit ab und kletterte auf das vergilbte Laken des Bettes. Sie schob ihr von erfüllten Begierden beflecktes Hemd bis zum Kinn hoch, legte sich auf den Rücken und zog ihre schlaksigen Schenkel an den Bauch. Mit gebeugten Knien öffnete sie ihre Beine, wie man ein Buch aufschlägt. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Alphabet zu lernen.
Es war schwierig, mich in den siebten Himmel abzuheben. Toinette, die ihren Kopf unter ihrem Hemd vergraben hatte, war nicht der Sorte, eine Befriedigung vorzutäuschen, die sie nicht empfand. Das Fazit lautet: eine oberflächige Wollust; eine Dreigroschenwonne; der Eindruck, eine Leiche vergewaltigt zu haben; aber zugegeben, eine Ekstase, die dem entsprach, was sie mich gekostet hatte … nicht mal 20 Kreuzer.

Vier oder fünf Tage nach dieser Initiation begann mein Spatz, mir Sorgen zu bereiten. Ein juckendes Gefühl an der Extremität. Vor allem beim Wasserlassen. Das Tunken des betroffenen Gliedes (in Wein, dann in einen Tabakabsud), das ich auf Zollners Anraten hin durchführte, brachte keine Linderung.
Seit den ersten Beschwerden hatte mir Weigand, der bei Madame in ständiger Angst vor der Franzosenkrankheit säbelt, das ultimative Allheilmittel des Militärs gegen den Tripper nahegelegt: gepfefferten Schnaps.
„Wehe! Oh wehe!“ ... Ein wahrhafter verrückter Einfall, Spatzen mit Pfeffer zu füttern! In meiner Not wandte ich mich an unseren Gefreiten um Hilfe. Der Gefreite erkundigte sich nach der Häufigkeit der Verhältnisse („Ein einziges Mal? Da musst du vom Pech gejagt werden!“) und der Farbe des Ausflusses (ursprünglich entengrün, war er mittlerweile kanariengelb) und stellte dann seine Diagnose:
„Das ist ein Fußtritt der Venus, wie Madame sagt. Geh zum Lazarett!“
Was ich auch tat.

Ich wurde in einem Zimmer untergebracht, das für diese besonderen Tritte reserviert ist. Dort beim Aufstehen und Zubettgehen bekam ich über eine Woche lang ein lauwarmes Sitzbad mit einer Tinktur aus Malvenblättern. Nach den morgendlichen Visiten eines Regiment-Chirurgus servierte mir die Schwester sechs Blutegel, als ob es sich um eine Delikatesse handeln würde, die ich nach der Waschung auf die gemarterte Stelle einsetzen sollte. Während fünf Minuten, die sich wie ein Jahrhundert anfühlten, hatte ich das Gefühl, mein Fleisch in Brennnesseln zu wickeln. Am Tag, nachdem ich mit der Behandlung begonnen hatte, beschwerte ich mich bei ihr über die Unannehmlichkeiten, die mir diese Therapie bereitete. Als Antwort zitierte sie – die Situation gnadenlos auskostend – einen Vers vorgeblich aus der Offenbarung des Johannes. Sie schien diese Stelle vor lauter Erwiderungen auf das Gejammer ihrer Patienten auswendig zu kennen:
„Die Könige der Erde, die mit Babylon Unzucht getrieben haben, werden weinen und klagen, nicht weil sie mit ihr gesündigt haben und vom Wein ihrer Hurerei betrunken wurden, sondern weil sie den Zorn Gottes spüren werden.“

Wie sehr habe ich den Zorn des Herrn gespürt! Aber die Entzündung ging zurück. Nach etwa einem Monat verschwand sie. Der Vater im Himmel hatte mir vergeben.
Ich schäme mich, es zu gestehen: Ich möchte es noch einmal ausprobieren … Vierzig Kreuzer reinstecken, um zu sehen ...
Einmal ist keinmal.​

 

Hallo @Eraclito,

ob das, was ich da lese, historisch akurat ist, kann und will ich nicht beurteilen, das können andere sicher besser. Deshalb lese ich den Text einfach als das, was er ist: Eine Geschichte.

Es war der erste Sonntag im August. Ein Offizier rekrutierte am Kirchenausgang. Am Vorabend war die Nachricht gekommen, auf die man seit dem 19. Juli gewartet hatte: Der Kurfürst hatte dem preußisch-österreichischen Bündnis beigetreten!

Hat beigetreten? Also ... Ich lieg auch gerne mal daneben bei solchen Grammatikdingen, auch regional bedingt ... Aber ... Das müsste doch war beigetreten heißen, oder?

Was mich zu Anfang außerdem ein bisschen ins Straucheln bringt, ist die Erzählerperspektive. Das ist ja ein Ich-Erzähler, aber es dauert bis zum dritten Absatz, dass das wirklich klar wird, er wirklich von sich als ich spricht, vorher sind es immer nur wir, also sie. Ich könnte mir vorstellen, dass es zur Orientierung des Lesers hilfreich wäre, da schon früher für Klarheit zu sorgen, gleich im ersten Absatz hättest du da ja schon Möglichkeiten, zum Beispiel das Handgeld von sechs Gulden: Dafür steht der Ich-Erzähler sonst wahrscheinlich wochenlang auf dem Markt, um sein ... was weiß ich unter die Leute zu bringen, oder auf dem Feld oder was man damals sonst so gemacht hat ... Dann wüsste ich gleich, an wessen Seite ich da durch die Vergangenheit marschiere, hätte womöglich auch gleich ein bisschen mehr Interesse an der Sache: Ach ja, und wenn er die sechs Gulden dann heimbringt, dann kann er sicher auch der Gisela imponieren, dann ist er ja ein gemachter Mann mit Erfahrungen aus dem Ausland im Gepäck ...

Für eine halbe Sekunde war es mir, als sähe ich einen dunklen Punkt, der sich in der weißen Wolke abzeichnete. „Verdammt! Dieser Kugel ist für mich.“ Ich zog instinktiv den Kopf in die Schultern.

Ich weiß nicht, woran es liegt, aber die "wörtliche" Rede wirkt hier auf mich wie eine Comic-Denkblase - verdammt! Bräuchte es für mich nicht, um die Brisanz der Situation deutlich zu machen, im Gegenteil, lenkt sogar davon ab.

Ich überlegte mich

Gerade in dem historisch ernsten Setting hier wirken so sprachliche Ausrutscher unfreiwillig komisch, das reißt einen aus der Immersion. Da würde ich ganz lehrermäßig zu mehr Aufmerksamkeit gemahnen :teach:

Ähnlich verhät es sich für meinen Geschmack auch mit den vielen Ausrufezeichen, die sich durch den ganzen Text ziehen, auch die haben so eine Wirkung, die mich rausreißt.

Ich war durchnässt …

Ich ziehe das mal exemplarisch raus, um eine Sache zu verdeutlichen. Ich folge also deinem Protagonist, einem Mensch, der mir vermutlich nicht unähnlich ist, der sich plötzlich - das erste Mal, vermutlich - in ... Kriegswirren wiederfindet. Und natürlich frage ich mich zwangsläufig, was das mit ihm macht, die Erwartungshaltung entwickelt sich doch sicher bei jedem, der das liest, ob man will oder nicht, da kannst auch du als Autor gar nicht viel gegen tun. Deshalb bin ich auch maßlos enttäuscht, wenn der Autor mir auf dieser Ebene dann nicht mehr bietet als: Ich war durchnässt. Das sind also seine Gedanken, hm. Eben sauste ihm noch eine Kugel an der Birne vorbei: Da war er wie betäubt, alle seine Glieder haben gezittert, näher komme ich ihm aber auch da nicht, klar, es geht Schlag auf Schlag hier, aber ... Ich bin doch unbefriedigt, irgendwo muss er doch mal kurz innehalten, selbst versuchen zu begreifen, was er da gerade erlebt:

„Wir haben den Befehl erhalten, ans Ufer zurückzukehren. Wir haben uns ergeben!“, flüsterte er mit einer von Emotionen verzerrten Stimme.
Bittere Tränen rollten ihm über die Wange; hinter uns schlugen Tamboure die Schamade, die den Waffenstillstand ankündigt.

Wenn er es schon nicht schafft, in sich selbst zu reinzuhorchen, dann doch vielleicht in seine Kameraden. Da steht also dieser Weigand ... Ein Baum von einem Kerl und heult, warum eigentlich? ... Oder vielleicht doch kein Baum, vielleicht eigentlich noch ein Kind, vielleicht weint er gar nicht wegen der Niederlage, sondern weil ihm da bewusst wird, was er für sechs Gulden auf sich genommen hat, was für ein Glück er hat, noch am Leben zu sein und dass er jetzt vielleicht endlich wieder heim darf, zu seiner Gisela ...

Sorry, ich versuche mal einen Gang zurückzufahren. Möglicherweise hast du dich auch bewusst dagegen entschieden, hier Einzelschicksale zu beschreiben. Ich frage mich beim Lesen nur zwangsläufig, was du eigentlich wolltest, denn so ganz wird es mir nicht klar. Du lässt die auftretenden Menschen eher blass bleiben, das sind eher namenlose Figuren auf dem Schlachtfeld. Aber: Das Schlachtfeld selbst ist mir persönlich auch zu blass, meistens zeigst du Bilder, die ich in ähnlichen Varianten schon oft gelesen habe (es gibt auch Ausnahmen, die Pinkelszene zum Beispiel).

Trotz aller Widrigkeiten, vielleicht auch, weil ich wirklich wollte :D, konnte ich mich auf das Setting einlassen, und jetzt, hier, habe ich das Gefühl, dass auch der Autor wirklich angekommen ist:

Oben war ein finsterer Flur. Ich tastete mich langsam hinter der Wirtin vor, bis sie eine Tür öffnete und mich in eine Abstellkammer schob, die vom rötlichen Schein eines Wachslichtes erhellt wurde. Mamsell Toinette ignorierte meinen schüchternen Gruß und verrichtete ihre Waschungen über einer Schüssel, die zwischen ihren Füßen auf dem Boden stand, ohne sich umzudrehen. Die Luft im Raum war von scharfen Gerüchen erfüllt. Sie besaß eine echte den Geruchssinn verletzende Konsistenz.
Mamsell trocknete sich lautlos im Schutze der Dunkelheit ab und kletterte auf das vergilbte Laken des Bettes. Sie schob ihr von erfüllten Begierden beflecktes Hemd bis zum Kinn hoch, legte sich auf den Rücken und zog ihre schlaksigen Schenkel an den Bauch. Mit gebeugten Knien öffnete sie ihre Beine, wie man ein Buch aufschlägt. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Alphabet zu lernen.
Es war schwierig, mich in den siebten Himmel abzuheben. Toinette, die ihren Kopf unter ihrem Hemd vergraben hatte, war nicht der Sorte, eine Befriedigung vorzutäuschen, die sie nicht empfand. Das Fazit lautet: eine oberflächige Wollust; eine Dreigroschenwonne; der Eindruck, eine Leiche vergewaltigt zu haben; aber zugegeben, eine Ekstase, die dem entsprach, was sie mich gekostet hatte … nicht mal 20 Kreuzer.


Vier oder fünf Tage nach dieser Initiation begann mein Spatz, mir Sorgen zu bereiten. Ein juckendes Gefühl an der Extremität. Vor allem beim Wasserlassen. Das Tunken des betroffenen Gliedes (in Wein, dann in einen Tabakabsud), das ich auf Zollners Anraten hin durchführte, brachte keine Linderung.


Hättest du das mal an den Anfang gestellt! Da fließt auch die Sprache plötzlich ganz anders, da wird es dann auch wirklich originell, wenn ich lese: Mir blieb nichts übrig, als das Alphabet zu lernen. Oder die vergewaltigte Leiche, muss man sich schon auch trauen, so was zu schreiben und es dann auch noch stehen zu lassen, aber genau das sind dann halt auch Sachen, die mir als Leser in Erinnerung bleiben: Weil sich da erst mal etwas in einem sträubt, weil man sich erst mal quer stellt.

Ja, also dann das Ende, das eigentliche erste Mal (ich dachte ja zuerst, es handelt sich um die erste "Einberufung"), das fand ich originell, besonders. Gleichzeitig fand ich es schade, dass das diesem Namen- und Gedankenlosen widerfährt, wie spannend wäre es gewesen, wenn das der junge Bauernlümmel gewesen wäre, der sonst ja schon die Augen niedergeschlagen hat, wenn die Gisela ihn nach den heutigen Marktpreisen gefragt hat ... Was hätte der da wohl gedacht: Dass er stirbt vielleicht, dass das die gerechte Strafe ist, und was würden seine Eltern wohl denken, denen er ja versprochen hat, guldenbeladen wieder heimzukehren, und stattdessen bringt er jetzt nur entengrünen Aufluss mit ... Na, ich träume schon wieder.

Also, mein abschließendes Fazit: Ich merke deiner Geschichte an, dass du dich gut in die Zeit hineingefühlt hast, auch Recherche betrieben hast (vielleicht auch einfach über ein gewissen Grundwissen verfügst), davon ist dann auch etwas auf mich übergeschwappt. Ich ahne aber auch, dass dir ein wenig die Schreibroutine fehlt und dafür hast du dir hier mit dem historischen Setting eine echt schwierige Aufgabe ausgesucht: Da lässt es sich ja nicht so unbeschwert locker daherreden, wie man das in der Gegenwart tut, das verlangt ja noch mal zusätzliches Umdenken, hemmt noch mal extra. (Gerade sehe ich, dass das nicht deine erste Geschichte hier ist, ich schau gleich mal noch interessehalber, wie du dich in "alltäglicheren" Gefilden schlägst.) Besonders Spaß hatte ich immer dann, wenn ich den Eindruck hatte, dass du dich aus dem historischen Krampf ein Stück weit "gelöst" hast, befreiter geschrieben hast. Deshalb halte ich auch die Augen nach deiner nächsten Story offen und bin gespannt, wie du dich dann in möglicherweise alltäglicheren Gefilden schlägst :)

Bas

 

Hallo Eraclito,
ich vermute, du hast dich in historische Texte vertieft und anschließend Sachverhalte mit eigenen Worten wiedergegeben. Nur so kann ich mir den "historischen Sprachductus" in deiner Schilderung erklären. Schade, dass du aus den beiden Schlüsselszenen "Waffenreinigung" und "Sexerlebnis" nicht mehr gemacht hast. Die erste Szene hast du einfach abgebrochen, die zweite ziemlich emotionslos runtererzählt, wie es schon zehn Million Mal geschehen ist. Mann, in einem solchen Stoff muss es doch vor Spannung knistern!
Gruß
Linedrop

 

Aber hallo,

Eraclito,

alles schon gesagt, dass ich mich kurz fassen kann, denn tatsächlich verwundert mich nur eins,dass meinen Vorrednern hier nichts auffiel

Der Schuss eines Vierpfünders riss den Knauf seines Sattels weg, an dem er seinen Rosenkranz hing, ohne ihn oder sein Pferd zu berühren.​

Es gibt im Deutschen zwo Arten von „hängen“ – einerseits als schwaches und andererseits als starkes Verb, die Du im Zitat verwechselst. Entweder

"Der Schuss eines Vierpfünders riss den Knauf seines Sattels weg, an dem [sein] Rosenkranz hing, ohne …"

oder

"Der Schuss eines Vierpfünders riss den Knauf seines Sattels weg, an dem er seinen Rosenkranz [gehängt hatte], ohne ihn oder sein Pferd zu berühren."

Mehr morgen vom

Friedel​

 

Hallo@Bas

Vielen Dank für das Lesen meines Textes. Deine Bemerkungen sind sehr wertvoll. Ich habe deine Korrekturen meiner Textfehlern sofort übernommen: hatte/war; Erzählerperspektive; Comic-Denkblase; ich überlegte mich.

Ähnlich verhält es sich für meinen Geschmack auch mit den vielen Ausrufezeichen, die sich durch den ganzen Text ziehen,
In Ordnung. Ich muss darauf achten, dass sie nicht übertrieben wirken. Ich verwende sie absichtlich als Stilmittel, ebenso wie Ausrufezeichen, Semikolons, Klammern und Gedankenstriche, damit sie nicht vergessen werden. Mein Kampf für die Erhaltung der "Typovielfalt"!

Ich bin doch unbefriedigt, irgendwo muss er doch mal kurz innehalten, selbst versuchen zu begreifen, was er da gerade erlebt:
Sorry! Auf dem Schlachtfeld haben heute (wie wahrscheinlich auch damals) selbst Menschen mit narzisstischer Veranlagung keine Zeit für Introspektion. Deine Bemerkung hat mich dazu veranlasst, diesen Punkt zu präzisieren:
Alle meine Glieder zitterten. Unversehrt! Nichts! Der Rausch des Überlebens löschte alle anderen Gefühle aus.
Ich war durchnässt. Die Sache war zu brenzlig, um meine Empfindungen weiter zu erforschen.

Du lässt die auftretenden Menschen eher blass bleiben, das sind eher namenlose Figuren auf dem Schlachtfeld.
Sollen sie auch! In einer Kurzgeschichte, die ca. 2000 Wörter beinhaltet, gibt es m. E. kein Platz für mehrere Protagonisten.

Das Schlachtfeld selbst ist mir persönlich auch zu blass, meistens zeigst du Bilder, die ich in ähnlichen Varianten schon oft gelesen habe
Wir sind übersättigt von Schlachtfeldbildern. Solche Beschreibungen wirken oft wie Klischees (wie du sagst) und sind für viele Leser/-innen schnell langweilig.

Trotz aller Widrigkeiten, vielleicht auch, weil ich wirklich wollte :D, konnte ich mich auf das Setting einlassen,
Ich glaube es dir. Danke.

wie spannend wäre es gewesen, wenn das der junge Bauernlümmel gewesen wäre, der sonst ja schon die Augen niedergeschlagen hat, wenn die Gisela ihn nach den heutigen Marktpreisen gefragt hat ... Was hätte der da wohl gedacht: Dass er stirbt vielleicht, dass das die gerechte Strafe ist, und was würden seine Eltern wohl denken, denen er ja versprochen hat, guldenbeladen wieder heimzukehren, und stattdessen bringt er jetzt nur entengrünen Aufluss mit ... Na, ich träume schon wieder.
Es wäre eine andere Geschichte ... schreibe sie!

davon ist dann auch etwas auf mich übergeschwappt
Du darfst: Das Setting, die Daten, die Ereignisse, sogar das Pinkeln in den Lauf, um ein Gewehr zu reinigen, sind historisch belegt.
Mein Credo: der Verfasser einer historischen Fiktion trägt eine Verantwortung gegenüber seinen Lektoren, die ihn zum "wahr-lügen" zwingt. Die große Geschichte ist geschrieben und es ist verboten, sie zu manipulieren.

Deshalb halte ich auch die Augen nach deiner nächsten Story offen und bin gespannt, wie du dich dann in möglicherweise alltäglicheren Gefilden schlägst
Nett von dir! Ich werde deine Texte auch lesen.

Danke nochmals.
Liebe Grüße aus Baden

Eraclito

 

Hallo@linedrop

Danke für die Zeit, die du mich gewidmet hast.

ich vermute, du hast dich in historische Texte vertieft und anschließend Sachverhalte mit eigenen Worten wiedergegeben. Nur so kann ich mir den "historischen Sprachductus" in deiner Schilderung erklären.
Der Erzähler dieser Geschichte bringt sie kurz nach dem Geschehen am Ende des Jahres 1792 zu Papier. Wenn ich den damaligen Sprachduktus verwendet hätte, wäre die Lektüre für den heutigen Leser/-innen sehr beschwerlich gewesen. Ich habe ein etwas höheres Sprachniveau gewählt, weil man damals nicht einfach drauflos schrieb, und ich habe die entsprechende Semantik verwendet, um meinem Text die Patina zu verleihen, die den Charme alter Dinge ausmacht.

Schade, dass du aus den beiden Schlüsselszenen "Waffenreinigung" und "Sexerlebnis" nicht mehr gemacht hast.
Aus meiner Sicht handelt es sich um Szenen, die den Ton auflockern sollen. Sie sind Teil eines Ganzen. Und dieses Ganze hat nur einen Zweck: die Vorbereitung der Pointe. Ich will sie nicht ausdehnen, denn ich glaube, dass jeder Verfasser von Kurzgeschichten ständig von der Länge seines Textes besessen sein sollte.

Dies ist meine Art, die Dinge zu sehen. Du bist nicht gezwungen, sie zu teilen.;)

Liebe Grüße
Eraclito

 

Wehe denen, die uns zum Kampf zwingen!​
Zunächst mal ein seltsam' Gefühl, nach Kosovo und nunmehr Ukrainischem Zwischenfall von kriegerischer Auseinandersetzung eines anderen zwergwüchsigen Größenwahnsinn zu lesen und den Titel kann ich zwomal verwenden, einmal für den Erzähler, in den Du dich hineinversetzt - einen gerade rekrutierten Mainzer am Ende der Republik, der vom aktuellen Geschehen erzählt bzw. genauer, von dem berichtet, was er gerade erlebt hat, womit m. E. der gelegentlich leiernde und umso realistischere Tonfall zu erklären ist

Es war der … Am Vorabend war die … Der Kurfürst war dem … ...​
Welcher „Rekrut“ könnte selbst heutigentags behaupten, ein guter Erzähler in literarischen Kategorien zu sein?,

lieber Eraclito,

(selbst das kann ich nicht garantieren, bin ich doch durch wundersame Fügung zwar als Pfadfinder in einer vormilitärischen Ausbildung nicht unglücklich gewesen, aber aufgrund einer Tatsache, die meine Ältern ironisch „schlecht hören kann er gut“ benannten, herumgekommen (wobei zwo Ausbildungen nebst Studium sich auch als nützlich erwiesen), aber was ich mit Sicherheit weiß ist, dass Paris zwei Wochen Fußmarsch – und wer war schon beritten außer der Elite - von Mainz entfernt liegt.

Ein paar Anmerkungen nebst Flusenlese​

Nach vier Tage waren wir in Speyer angekommen.​
Ist „angekommen“ nicht eher entbehrlich, wenn „ihr“ nach vier Tagen in Speyer gewesen seid?

Für eine halbe Sekunde war es mir, als sähe ich einen dunklen Punkt, der sich in der weißen Wolke abzeichnete.​
Warum ein (sächliches) Satzsubjekt, wenn „mir war, als ob …“ doch genügt ...

Gegen drei Uhr kamen zwei dichtgeschlossene[...] Heersäulen mit wehenden Trikoloren aus dem Wald.​

Ich grübelte darüber, wie viel von uns am Abend noch leben würden, als das Rückzugsignal gepfiffen wurde.​
Konj. eigentlich entbehrlich bei der Frage. (Genauso schlecht hätte auch ein Futur gewirkt – und Dein Erzähler ist ja kein Grammatikus … oder doch?)

Hier allerdings​
Bei unserer Ankunft am 14. Oktober hat der Dolmetscher uns erklärt, dass unser Tagessold nicht in klingender Münze, sondern in Assignaten ausgezahlt werden würde.​
klingts schon gequirlt, wenn Futur oder Konj. genügten

Ein besonderes Problem im Deutschen sind gleichklingende Buchstabenfolgen wie hier​

Soweit ich sehen konnte, …​
der Konjunktion "soweit", die von der realen Differenz im „so weit“ in dem Fall wohl eingeholt wird (soweit ich weiß oder doch immerhin ahn)

Wie dem auch wird,

gern gelesen vom

Friedel

 

Hallo @Friedrichard

Vielen Dank für deine wertvollen Hinweise. Ich bewundere die Großzügigkeit, mit der du deine Kommentare verteilst.
Es gibt nichts hinzuzufügen, außer dass ich meinen Text selbstverständlich nach deinen Vorgaben korrigiert habe.
Liebe Grüße
Eraclito

 

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