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Serie Exodus: Die Augen des Waldes

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10.02.2000
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Exodus: Die Augen des Waldes

Erster Akt

Auf Fernando Villars Kleider zeigen sich große Schweißflecken. Dabei ist er mit seinem klimatisierten Subaru die fünfhundert Meter zum Mercador Supermarkt gefahren. Polo-Shirt und Hose, nichts ist mehr trocken. Der Deckenventilator verquirlt die feuchte Luft im Raum mit dem Schweißgeruch Villars. Gabriela atmet nur noch flach, um dem beißenden Geruch zu entkommen. Ächzend sinkt er auf einen der Stühle gegenüber Gabriela.
»Ich habe den Bürgermeister getroffen«, murmelt Fernando, stöhnt und reibt mit einem Tuch die Stirn trocken. »Ich verstehe nicht, wieso er dir seinen Wagen gibt. Diese Candoshi-Leute sind sowieso tot. Seit Tagen gibt es keinen Funkkontakt mehr zu den Dörfern. Nimm einfach die Mädchen und geh aufs Schiff, schließlich habe ich nur fünf Plätze reserviert für uns.«
Gabriela atmet tief ein, um nicht wütend zu werden, nimmt dafür den Gestank in Kauf. Sie schließt die Augen und zählt bis zehn.
»Vier weitere Menschen bringen das Boot nicht zum Kentern«, erwidert sie ruhig. »Bürgermeister Guzman hat mir zugesichert, diese vier mitzunehmen, wenn ich sie bis morgen früh in San Lorenzo habe. Außerdem habe ich mit den Eltern letzte Woche vereinbart, dass wir uns bei Puerto America treffen. Bis dahin brauchen sie drei Tage mit dem Boot. Ist also klar, dass wir sie nicht per Funk erreichen.«
Fernando steht auf, versucht das klebrige Polo-Shirt vom Rücken zu lösen, verdreht dabei die Augen. Aus der Tüte nimmt er beide USB-Sticks, den schwarzen Cafini Bluetooth-Lautsprecher, legt alles auf den Tisch.
»Die beiden letzten 64 Gigabyte-Sticks. Und zwar von SanDisk!«, betont er und wippt über die Fersen auf und ab. »Und den Lautsprecher habe ich selbst auch. Erstklassiger Sound!«

Gabriela greift nach den Verpackungen, kontrolliert, ob sie aufgerissen wurden und mustert die Bluetooth-Box von allen Seiten. Weder Kratzer noch Flecken. Fernando kommt einen Schritt näher. »Was ist? Traust du mir nicht?«
Sie sieht ihn von unten an.
»Hör auf mit dem dämlichen Gewippe, Fernando! Benimm dich ein einziges Mal wie ein erwachsener Mann!«
Mit einem Seufzer setzt er sich wieder, starrt auf die Box, zieht das Rückgeld aus der Hosentasche und legt es auf den Tisch. Die Scheine sind feucht. »Hier! 500 Sol minus 460 Sol macht 40 Sol.«
Sie klopft mit den Fingerknöcheln drei Mal auf die Tischplatte, heftet ihren Blick an seinen und macht jede seiner unruhigen Augenbewegungen mit. »Alle Achtung, du kannst ja rechnen …«, sagt sie. Fernando beugt sich ruckartig vor. Seine Hände zittern. Einen Atemzug lang zeigt sich Glanz in den Augen, dann bricht sein Blick seitlich weg.
»Du solltest nicht vergessen, dass ich der Rektor der Schule bin!«
Gabriela grinst, legt den Kopf schräg, schweigt, bis er nicht mehr anders kann, als die Augen wieder auf sie zu richten. »Dein verächtliches Grinsen kannst du dir sparen«, winkt er ab.
Gabriela zählt das Geld und ist zufrieden. Fernandos Bemerkung ignoriert sie. »Du bist Rektor, weil dein Schwager der Vize-Gouverneur von Loreto ist, nicht weil du etwas kannst«, kontert sie.

Fernando Villar lehnt sich zurück, verschränkt die Arme vor der Brust. »In der Tat«, bestätigt er mit hochgezogenen Augenbrauen, »und weil ich dich mag, habe ich bei Bürgermeister Guzman auch dafür gesorgt, dass die Mädchen einen Platz auf dem Schiff bekommen.«
Er schweigt und wippt mit dem Stuhl. Gabriela weiß, dass er noch etwas nachschieben wird und reißt eine der Verpackungen auf.
»Wenn ich mir das aber recht überlege, verlange ich für deine Unverschämtheiten jetzt einen kleinen Aufpreis …«, fährt er fort. »Dein schiefer Mund kümmert sich um meinen kleinen Freund da unten, heute Abend, in meinem …«
Gabriela schiebt mit Schwung den Schülertisch gegen Fernandos Knie, der das Gleichgewicht verliert und mitsamt Stuhl nach hinten kippt, unsanft mit dem Hinterkopf auf den Boden aufschlägt und wimmernd die Hände auf die schmerzende Stelle presst.
»Vergiss das Schiff!«, brüllt er. »Du und deine Indianer-Mädchen können hier verrecken!«
Gabriela steht ruckartig auf, packt alles auf dem Tisch in einen geflochtenen Korb und verlässt das Klassenzimmer.

Sie läuft den verglasten Flur entlang. Es ist heiß im Colegio San Lorenzo. Mehr als heiß. Dabei ist es noch nicht mal Mittag. Gabrielas Kleider kleben wie nasses Papier auf Glas. Nichts wird mehr trocken. Für einen Moment bleibt sie stehen und schaut aus dem Fenster, fokussiert die schwarzen Greifvogel-Aufkleber auf der Scheibe, dann die Calle Amazonas dahinter. Fast bis zur Plaza Mayor kann man schauen. Zumindest heute. Früher so gut wie jeden Tag. Seit einigen Monaten bläst der stetige Wind den Staub vom Marañón über die Stadt. Gabriela wendet sich ab und geht durch den Querbau zur Mensa. Kurz vor der offenen Doppeltür hört sie Stimmen. Ein kräftiger Wind strömt ihr aus dem Raum entgegen, alle Deckenventilatoren laufen. Sie lauscht. So still es im Colegio geworden ist in den letzten Wochen, so quicklebendig sind die Mädchen in der Mensa, zumindest Cayetana und Ainara. Sie reden durcheinander, eine weiß immer mehr als die andere und gelacht wird zusammen.

Der Gedanke an den Zustand der Welt vor dem Fenster quetscht sich zwischen Gabrielas Freude und die Zuneigung zu den Mädchen; legt sich als schwarzes Tuch über den Rest an Hoffnung, doch noch heil herauszukommen. Gabriela ignoriert die aufsteigenden Tränen und tritt in den Raum, geht schnell auf den Tisch zu, an dem die drei sitzen, kniet sich zwischen Cayetana und Ainara, legt die Arme um beider Schultern und zwinkert Kauany zu. Das älteste der drei Mädchen, dem Gabriela die Tränen nicht als Freude verkaufen kann. Kauany sieht sie an. Ihr Lachen ist verschwunden, der Mund zu einem dünnen Strich gepresst. Gabriela schüttelt die beiden anderen.
»So, Mädchen«, setzt sie mit heiterer Stimme an. »Gestern Abend hat mir der Bürgermeister zugesichert, dass wir das Fahrzeug der Gemeinde bekommen. Wir können damit eure Eltern hierher bringen. Wir haben Zeit bis morgen früh. Ist das was?!«
Cayetana und Ainara jauchzen, klammern sich um Gabrielas Hals, ein Stuhl kippt um, ein paar Sekunden später Gabriela mitsamt den Mädchen. Wie ein Käfer auf dem Rücken liegt sie auf dem Holzboden, die beiden auf ihr. Kauany steht auf und geht hinaus.

Zweiter Akt

Die Luft im Wohngebäude des Colegio steht. Cayetana und Ainara stopfen ihre wenigen Kleider in die gelbe Schultasche.
»Nehmt nur das Nötigste mit«, ermahnt Gabriela sie und verlässt fluchtartig das Gebäude, wischt den Schweiß von der Stirn und stellt sich neben Kauany, die mit fertig gepackter Tasche unter dem Vordach wartet. Gabriela weiß, wie es in dieser Tasche aussieht. Akkurat gefaltete T-Shirts, Hosen, die Schuluniform neben einem sauberen und nicht überladenen Waschbeutel. Über allem die wichtigen Dokumente in einer Plastiktüte.
»Furchtbare Luft da drin«, sagt Gabriela. Kauany nickt nur zwei Mal. »Freust du dich auf deine Mutter?«, setzt sie nach und mustert das Mädchen von der Seite. Im letzten Jahr hat sie alle anderen Mitschülerinnen an Größe übertroffen, ist schneller gewachsen als eine Mangrove. Obwohl erst sechzehn, wirkt Kauany so reif wie kaum jemand, den Gabriela kennt. Na ja, ich kenne ja gar nicht so viele, stellt sie insgeheim fest. In einer so kleinen Stadt wie San Lorenzo ist das auch kein Wunder.
»Kauany?« Gabriela stupst sie an. »Träumst du?«
»Nein, ich träume nicht.«
»‘Freust du dich auf deine Mutter?‘ war meine Frage.«
Sie schüttelt den Kopf.
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht glaube, dass wir noch irgendwo einen Platz finden werden. Es wäre besser, sie bliebe dort, wo sie jetzt ist.«
Gabriela verstummt und starrt durch die flirrende Luft auf die flachen Häuser von San Lorenzo.

Bürgermeister Guzman hat zugesichert, dass der Tank voll sein würde, und Wort gehalten. Gabriela empfindet das als gutes Zeichen und lenkt den großen Pajero schlafwandlerisch über die Piste nach Westen, entlang dem Marañón.
»Fernando hat gesagt, das Boot kommt morgen früh!«, ruft sie durch den Fahrtlärm. »Es bringt Arbeiter von PetroPeru nach Iquitos!«
Cayetana und Ainara drücken ihre Köpfe zwischen den Vordersitzen hindurch. Nur noch Ainara hat Mutter und Vater.
»Lasst uns Musik hören«, schlägt Cayetana vor. Gabriela schaltet das Radio ein, aber keine Station sendet etwas. Lediglich Rauschen. Nur auf dem offiziellen Kanal der Regierung kommt die sich wiederholende Nachricht, dass seit Wochen Sonderrechte gelten, eine Notstandsgesetzgebung den Präsidenten berechtigt, Pandemie und Klimanotstand zu bekämpfen … beachten Sie Lebensmittel- und Wasserrationierung! Ausgabe erfolgt durch die Armee an den benannten Orten. Wer plündert wird … Kauany schaltet wieder ab und starrt aus der Beifahrerscheibe.
»Alles hat sich verändert«, sagt sie zu niemand. Vielleicht zu sich selbst. Gabriela schaut in den Rückspiegel, trifft die Blicke der Mädchen. Die Köpfe verschwinden und Gabriela dreht sich kurz um. Beide pressen sich tief in die Rückbank, gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt, die Köpfe aneinandergepresst. Kauany ist wie eine große Schwester, ein Symbol. Was sie sagt, hat Bedeutung für alle Mitschülerinnen. Gabriela möchte weinen, so hilflos ist sie in diesem Moment.

»Bald sind wir da«, erklärt sie laut und grinst. »Morgen früh geht es auf das Schiff! Spätestens in drei Tagen haben wir Iquitos erreicht. Von dort starten wir mit dem Flugzeug nach Juliaca. Die Leitung des Colegio hat gesagt, es gäbe genug Plätze für alle!« Nur keine Angst, Mädchen!, will sie noch sagen, aber lässt es bleiben, konzentriert sich lieber auf die abgesteckte Lehmpiste. Kauany hat recht, hämmert es in Gabrielas Kopf. Vor fünf Jahren noch grenzte der Wald direkt an die Piste nach Puerto America und versuchte in jeder Minute die Schneise zurückzuerobern. Mit aller Kraft. Jetzt hat er aufgegeben. Ausgedehnte Brachen reichen in das wenige Grün hinein. Von Regenwald zu reden, wäre reiner Hohn. Am Rückspiegel baumelt ein silbernes Kreuz. Dann entdeckt sie am Rand der Piste zwei tote Faultiere, seltsam verrenkt und angefressen. Sie tritt das Gaspedal ein Stück nach unten.

Cayetana und Ainara sind eingenickt. Kauanys Kopf lehnt an der Scheibe. Gabriela nimmt die rechte Hand vom Lenkrad und legt sie auf Kauanys Hinterkopf, streicht einige Male über ihre schwarzen Haare, lässt den gebunden Zopf durch die Finger gleiten und zieht die Hand zurück. Kauany dreht den Kopf, sieht Gabriela an, dann an ihr vorbei. Der Blick auf den Marañón ist seit einigen Kilometern völlig frei. Nicht mal ein Strauch behindert die Sicht. Seitdem Gabriela die Stelle im Colegio San Lorenzo angetreten hat, war der Strom zwischen Puerto Limon und San Lorenzo niemals weniger als 350 oder 400 Meter breit. An vielen Stellen maß er einen Kilometer oder noch mehr.
»Bald ist der Marañón verschwunden«, sagt Kauany. »Er ist ja kaum noch hundert Meter breit.«
Gabriela folgt nicht ihrem Blick. Weiter vorne entdeckt sie den Funkmast von Puerto America. »Sieh doch, Kauany, wir sind da!« Inständig hofft sie darauf, dass dort bereits jemand wartet, sie ungeduldig erwartet werden. Drei Mütter und Ainaras Vater. Dann wären sie in zwei Stunden wieder in San Lorenzo. Kauanys Augen heften sich an das Silberkreuz, sie nimmt es zwischen ihre Finger, reißt es dann mit einem Ruck ab und wirft es aus dem Fenster, noch bevor Gabriela reagieren kann.
»Kauany! Was tust du?! Das gehört dem Bürgermeister!«
»Du kannst sagen, wir hätten es auf der Fahrt verloren …«
Gabriela bremst ab, fährt vorsichtig am ersten Haus vorbei. Es ist vernagelt. Ebenso die kleine Tankstelle und das Anlegehaus am Rio Morona. »Das war falsch, Kauany«, sagt sie und lenkt auf den Platz vor der kleinen Missionskirche. Alles wirkt wie ausgestorben. Gabriela hält an. Mit Blick auf den Fluss, der ein paar hundert Meter weiter in den Marañón mündet. Kauany steigt sofort aus und läuft die wenigen Meter zum Anleger, dessen Stelzen im trockenen, aufgerissenen Sediment stecken. Mit dem Zuschlagen der Tür werden Cayetana und Ainara wach, sehen sich um und rutschen nach vorne, klopfen Gabriela auf die Schulter.
»Sind wir da?«
»Ja«, bestätigt sie. »Wir steigen aus und sehen uns um.«

Ein kleiner Freudenschrei und beide sind draußen. Gabriela folgt ihnen, streckt sich, schließt die hinteren Autotüren und sucht unwillkürlich nach einem schattigen Platz. Am ehesten kommt das Häuschen am Anleger infrage, das auch als Bar dient, zumindest bis vor einigen Wochen. Jetzt ist alles still. Keine Menschenseele. Kauany versucht einen Stock in die Reste des Rio Morona zu werfen, kommt aber nicht so weit.
»Das Wasser reicht nicht mal für einen flachen Einbaum!«, ruft sie vom Steg. »Wie sollen unsere Eltern jemals mit einem Boot hierher kommen?«
Gabriela kratzt sich am Hinterkopf, winkt dann Kauany zu sich. »Komm her! Wir warten erst mal ab! Noch haben wir Zeit!« Cayetana und Ainara kommen angelaufen.
»Hier ist absolut niemand! Was machen wir jetzt?«
»Holt bitte vier Campingstühle aus dem Wagen. Wir setzen uns hier in den Schatten und warten.«

Dritter Akt

Es ist die Stille. Die Mädchen dösen und Gabriela spürt die bedrohliche Stille, wie sie eine gewaltige Faust formt, fast materialisiert und alles Leben wissen lässt, dass es bald zu enden hat. Dabei war sie wegen der Geräusche des Waldes nach San Lorenzo gekommen. Hier begegnete sie dem Meer aus Tierstimmen, dem Knarren und Knarzen alter Bäume, einem Kanon aus summenden und sirrenden Insekten. So üppig war das Leben hier, dass die wenigen Menschen kaum auffielen. Gabriela wanderte jeden Abend unter dem Blätterdach der Bäume, verfolgt vom Keckern der Vögel, lachenden Papageien, dem Rascheln der Nager, dem behäbigen Kratzen der Faultiere, um dann bei Nacht überzugehen in die Augen des Waldes. Glänzende, lauernde Augen eines Jaguars oder Ozelots, die ovalen Schlitze der Anakondas auf den Bäumen. Gabriela war gefangen in einem Labyrinth aus Sinnlichkeit und Gefahr. Und gleichzeitig war sie die Lehrerin der Mädchen, deren Eltern noch in diesem Mysterium aus Leben und Tod aufgewachsen waren, noch kaum die Sprache der Zivilisation beherrschten, aber ihre Kinder in eine Schule entsandten, denn ihr Refugium wurde kleiner und kleiner, hielt dem Druck der Restwelt nicht mehr stand. Jetzt gibt es diesen Regenwald kaum noch. Er ist still geworden.

Gabriela lauscht den gleichmäßigen Atemzügen der Mädchen und schaut auf die Uhr. Schon kurz nach sechs Uhr abends und nichts durchbricht die Stille. Kein Boot, keine anderen Menschen. Als hätte alles Leben den Planeten verlassen. Noch nicht mal ein springender Fisch im Rio Morona. Einfach nichts. Gabriela steht leise auf, tupft mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn der Mädchen. Kauany schlägt die Augen auf, ihr Blick wandert konzentriert hin und her, fixiert wieder Gabriela, die den Kopf schüttelt.
»Noch nichts, Kauany. Leider. Warten wir noch bis Mitternacht, dann fahren wir zurück und probieren mit dem Funkgerät im Rathaus Kontakt aufzunehmen …«
»Was bringt uns das?« Sie richtet sich auf. »Nichts. Mit dem Boot braucht man vier Stunden. Im flachen Wasser kann man Boote vergessen. Eine durchgehende Straße gibt es nicht. Warum sollten wir also noch einmal herkommen?« Kauany steht auf und geht zum Steg. Gabriela wirft einen Blick auf Cayetana und Ainara, dann folgt sie Kauany. Das Holz des Stegs ist trocken, gewölbt, hier und da zeigen sich Risse. Wir sind beide gleich groß, stellt sie fest und ist sicher, dass Kauany noch größer werden wird. Zögerlich suchen Kauanys Finger die Gabrielas, tasten sich voran, dann greift sie fest zu, umklammert die Hand.

»Mutter wird nicht kommen«, flüstert Kauany. »Und die anderen auch nicht. Etwas ist passiert. Ich weiß es.«
Gabriela tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. Nein, das darf nicht sein, fleht sie innerlich. »Wie kommst du darauf?«, will sie wissen. Kauany sieht ihr in die Augen. Unwillkürlich denkt Gabriela an die Augen des Waldes. Sie wissen alles. Kennen das Zurückliegende ebenso wie das Kommende, und bemitleiden uns Menschen. Mit einem Sprung hüpft Kauany auf den ausgetrockneten Flussgrund, folgt dem leichten Gefälle langsam zur Mitte. Kurz vor dem spärlich fließenden Wasser stoppt sie. Gabriela geht ihr nach. Der Boden fühlt sich hart an, wie Teer oder Beton. Kurz hinter Kauany bleibt sie stehen und rümpft die Nase. Ein Duft wie der eines Kadavers in der Hitze auf der Straße.
»Schau, Gabriela!« Kauanys ausgestrecktem Arm folgend geht sie ein paar Schritte näher an die schlammige Brühe und sieht die schillernden Leiber. Fische! Dutzende tote Fische treiben langsam auf die Mündung des Rio Morona zu, wechseln dort in den großen Bruder Marañón. Flussabwärts und flussaufwärts dasselbe Bild. »Warum sind alle tot?«
»Sie sind erstickt«, erklärt Gabriela. »Das Wasser wird zu warm, kann keinen Sauerstoff mehr aufnehmen. Das Leben stirbt.«
Kauanys Arm sinkt herab. Sie dreht sich um und lässt Gabriela stehen. »Es wird niemand kommen«, sagt sie im Vorbeigehen.

Noch zwei Stunden bis Mitternacht.
»Stopp«, ruft Cayetana.
»Buchstabe ‚M‘«, sagt Ainara.
Die Mädchen und Gabriela notieren auf ein Blatt, was ihnen dazu einfällt. Ainara zeigt Gabriela ihres. »Ich weiß nicht, ob das eine Stadt ist …«
»He! Das gilt nicht!«, beschwert sich Cayetana. »Wenn du fragst, darf ich das auch!«
Kauany legt ihr Papier auf die Konsole. »Fertig!«, stellt sie fest und lehnt sich zurück. Sie nimmt Ainara das Blatt aus der Hand.
»He!«
»Mississippi ist ein Fluss, keine Stadt«, sagt Kauany und grinst.
»Mississippi ist auch ein Bundesstaat der USA. In diesem Fall musst du es aber als Fluss eintragen«, erklärt Gabriela. »Von einer Stadt namens Mississippi habe ich noch nicht gehört«, setzt sie nach.
»Ich aber«, kontert Ainara, wirft das Blatt in den Fußraum und steigt aus.
Kauany sieht Gabriela an. »Es wird niemand kommen. Lass uns fahren«, sagt sie eindringlich und geht Ainara hinterher. Gabriela atmet tief ein und aus. Cayetana beugt sich weit vor, fast Nasenspitze an Nasenspitze zu Gabriela, sieht ihr direkt in die Augen.
»Was meint Kauany damit?«
Gabriela schweigt. Sie spürt das Blut aus ihrem Gesicht weichen. Ihr fehlen jegliche Worte. Die Tür knallt. Draußen beginnt ein Geschrei das langsam übergeht in Weinen, heftiges Schluchzen. Kauanys Rufe dazwischen. Sie ruft nach Gabriela. Wieder und wieder. Jemand reißt die Fahrertür auf, rüttelt an Gabriela.
»Verdammt! Hilf mir!«
Die Stimme entfernt sich. Weit mehr als es möglich ist in so kurzer Zeit. Als würde jemand ein dickes Tuch über alles legen. Gabriela steigt aus und sieht sich um. Niemand da. Keine Eltern. Keine Tiere. Kein Wasser. Nur dieser weiße Pajero, dessen Scheinwerfer die staubige Straße ausleuchten. Dann rennt jemand gegen sie, wirft sie fast um, umklammert ihre Hüfte und sagt Worte in einer Sprache, die sie nur ansatzweise versteht. Der Dialekt der Candoshi-Leute. So etwas wie ‚Lebensmutter‘! Gabriela zerrt an der Umklammerung, bekommt die Hände zu fassen und setzt sich. Es ist Cayetana. Im Hintergrund sieht sie Kauany herankommen, Ainara auf dem Arm. Mit Cayetana auf dem Schoss rückt sie an den Pajero und lehnt sich gegen ihn. Kauany tut es ihr nach. Ununterbrochen reden sie auf die beiden Mädchen ein und sehen sich dabei an.
»Lass uns fahren, Gabriela«, formt Kauany mit den Lippen. Gabriela versteht und nickt.

Vierter Akt

»Sie schlafen tief und fest«, überzeugt sich Kauany, nimmt eine Flasche Wasser aus der Kühltasche, schraubt den Verschluss ab und hält sie Gabriela vor die Nase.
»Danke«, flüstert die und trinkt einen großen Schluck.
»Können wir anhalten? Ich muss mal.«
»Klar, kein Problem.«
Gabriela tritt die Kupplung und lässt den Pajero ausrollen, hält ganz sanft, stellt den Motor ab und steigt ebenfalls aus. Das langsame Fahren macht ihr zu schaffen. Mehr als vierzig oder fünfzig Stundenkilometer wären unverantwortlich im Dunkeln auf dieser Piste. Kauany verschwindet hinter dem Wagen und Gabrielas Blick geht hinauf zum Himmel. Die Wucht des Anblicks, der Milchstraße und all ihrer Sterne darin, bringt sie augenblicklich zum Zittern. Instinktiv greift sie zum Gepäckträger, klammert sich daran fest. Eine Hand legt sich auf ihre Schulter.
»Was ist los, Gabriela?«
»Ich weiß nicht«, flüstert sie. »Als ich nach dort oben sah, war es, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Als bräche der ganze Planet unter mir weg.«
Kauany lehnt sich an Gabriela, löst deren Hand vom Gepäckträger und hält sie fest.
»Ich glaube, ich weiß, was das war. Ich habe das auch schon gespürt. Die Einsamkeit. Mir wurde zum ersten Mal voll bewusst, was Einsamkeit ist. Wie klein ich bin. Dass dein kurzes Leben nicht bedeutender ist als das des Regenwurmes oder Flussdelphins. Dass Menschsein nichts bedeutet. Oder wie meine Urmutter sagte: ‚Wir sind Schlamm im Schlamm‘
Gabriela schweigt. Sie traut sich nicht mehr nach oben zu sehen, obwohl die massive Schönheit der Sterneninsel sie immer in den Bann gezogen hat. Langsam legt sie den Kopf auf Kauanys Schulter. Die Erde dreht sich unaufhaltsam weiter unter dem Band aus Licht.

»Müssten wir nicht schon längst wieder die Lichter von San Lorenzo sehen?«
Kauany beugt sich nach vorne und kneift die Augen zusammen. Gabriela schaltet das Fernlicht ein. Die Rechtskurve vor der Stadt liegt direkt vor ihnen, aber alles ist dunkel. Nach der Kurve biegt sie ab, fährt hinunter zur Kirche der Adventisten, umfährt das Carré und landet wieder auf der Hauptstraße. Keine der wenigen Straßenlaternen ist eingeschaltet. Gabriela kommt ein furchtbarer Verdacht. Entlang des alten Flughafens brennt kein einziges Licht in den Häusern. Sie biegt rechts ab zum Colegio, vorbei am Minimarket.
»Fahr zu Javiers Motorradgeschäft. Da ist immer jemand«, schlägt Kauany vor. Als sie auf die Jirón Marañón einbiegen, sehen sie das dunkle Motorradgeschäft. Nichts und niemand. Gabriela stoppt.
»Und jetzt?«
»Jetzt fahren wir zur Plaza. Im Rathaus oder dem Hotel sollte jemand sein«, sagt Kauany grimmig. Gabriela weiß, dass es nicht so sein wird, legt den Gang ein und fährt los. Vorbei am Gebäude der Staatsanwaltschaft, der Polizeistation. Mitten auf dem Platz bleibt sie stehen, schaltet Motor und Licht aus. Die Stille beginnt sofort auf sie einzustürmen. Gabriela reißt am Türöffner, springt hinaus und rennt über die Plaza zur Statue der Ureinwohner, folgt dem Weg zur Platzmitte, bis sie vor dem aus großen Buchstaben zusammengesetzten Stadtnamen stehenbleibt, sich ein paar Mal um die eigene Achse dreht und schließlich zu einer überdachten Bank stolpert. Kraftlos legt sie sich drauf, schließt die Augen. Tief in ihr wächst Angst, aber bevor sie zu mächtig wird, schläft Gabriela ein.

Die Luft des Morgens ist heiß und stickig. Überall. Es gibt kein Entkommen. Gabriela sieht ein Dach über sich, hört Stimmen von der Seite und spürt einen weichen Schoss unter dem Hinterkopf. Dann beugt sich Kauany vor und schaut in Gabrielas Augen.
»Guten Morgen, Langschläferin.«
»Wo sind wir?«
Kauany lacht verächtlich. Ihr Oberkörper bebt.
»Immer noch in San Lorenzo. Wir könnten die Stadt niederbrennen, niemanden würde es interessieren.«
Stück für Stück tauchen Puzzleteile des gestrigen Tages aus den Überresten von Gabrielas Schlaf auf, und warten darauf zusammengesetzt zu werden.
»Ich habe Cayetana und Ainara gesagt, unsere Eltern würden in Juliaca warten. Jemand hätte sie bereits vorher abgeholt. Leider hat die Leitung des Colegio das nicht an den Bürgermeister weitergegeben.«
Kauanys Zopf liegt auf der linken Schulter. Seine Spitze berührt fast Gabrielas Brust.
»Du hast gelogen. Das war nicht richtig …«, murmelt Gabriela. Kauany lacht herzlich. Weiße Zahnreihen unter schwarzen Pupillen, die trotz ihrer Heiterkeit mit einem ernsten, bohrenden Blick das Gesicht ihrer Lehrerin mustern.
»Vielleicht ist der Schlaf noch zu stark in dir, Gabriela … wir sind alleine hier! Sie haben uns zurückgelassen! Die Uhr im Rathaus ist eine Stunde vor Mitternacht stehengeblieben. Genau dann wurde der Strom abgeschaltet. Sie haben uns das Auto gegeben und gewusst, dass niemand dort draußen auf uns wartet, keine Eltern. Nur um alle Plätze auf dem Schiff für sich zu haben …« Kauany blickt über den Platz. »Vielleicht brauchten sie noch ein paar Plätze für Familienmitglieder, die sie unterwegs einzusammeln hatten«, setzt sie leise nach.
Gabriela kommt mit einem Ruck hoch. Ihr wird kurz schwindelig, sie muss sich anlehnen, nach Luft schnappen. Nach kühler Luft, die es nicht gibt. Cayetana und Ainara jauchzen, lachen, plappern dies und das. Sie folgt den Geräuschen und entdeckt sie auf der Schaukel mit wehenden Haaren. Vor und zurück. Dann knickt sie ein und sieht eine Träne auf ihren Unterarm fallen. Kauany fängt sie mit dem Oberkörper auf, rutscht nach rechts und richtet Gabriela wieder auf.
»Es gibt genug Diesel in der Stadt. Wir machen alle Kanister voll, die wir finden, setzen uns ins Auto und fahren im Flussbett des Marañón nach Osten bis nach Nauta. Dort nehmen wir die Route 103 nach Iquitos. Das sind nicht mehr als 500 Kilometer. Und auf dem ausgetrockneten Sediment lässt es sich hoffentlich gut fahren.«
Gabriela runzelt die Stirn. Wann hatte sich Kauany in eine derart reife junge Frau verwandelt? Noch nicht lange her war es, da saß sie ebenso wie die beiden anderen Mädchen auf der Schaukel und dachte an Spiel, Musik und was die Welt ihr wohl bieten könnte. Sie nickt.
»Du hast recht, Kauany. Das ist ein guter Plan.«

Fünfter Akt

»Klemm das Funkgerät an die 12-Volt-Buchse und stell die Magnetantenne auf die Motorhaube«, sagt Gabriela und hievt den letzten Kanister auf den Gepäckträger, klettert die Leiter vollends empor und sichert alles mit Spanngurten, die sie im Javiers Motorradgeschäft gefunden hat. Sie entschuldigt sich im Stillen für die nicht bezahlte Ware.
»Und was noch?«, will Kauany wissen.
»Mach die Schnallen des Luftfilters weg, nimm ihn raus und klopf den Staub ab, danach wäschst du ihn aus mit klarem Wasser, bis es nicht mehr trüb ist.«
Kauany nickt. »Ist gut.«
»Er muss trocken sein, bevor wir ihn wieder einsetzen. Nimm also den Ersatzfilter und leg den ausgewaschenen vorne in die Ablage.«
»Mach ich.«
Gabriela packt die Kisten mit den Wasserflaschen in den Kofferraum, legt eine Hitzefolie darüber und lässt den Blick über alles wandern, schaut auf die Liste, hakt ab, was sie sieht. Cayetana und Ainara kommen angerannt, schwer beladen mit allerlei Keksen und Dosenfrüchten.
»Das müssen wir auch noch mitnehmen, Gabriela!«
»Wir haben genug! Ein bisschen Platz brauchen wir auch noch für uns …«
»Bitte!«
»Na gut … jetzt steigt ein und baut euch den Platz so, dass ihr gemütlich sitzen und auch mal ein wenig schlafen könnt.«
»Machen wir!«
Gabriela schüttelt unmerklich den Kopf und beneidet die beiden Mädchen um ihr unbeschwertes Gemüt. All das ist wohl mehr ein Abenteuer. Sie geht zum Beifahrersitz und aktiviert das Funkgerät, wechselt zur Notfrequenz. Es rauscht. Sogar eine zweite Batterie haben sie aus der hiesigen Werkstatt entwendet, in den vorgesehenen Rahmen eingebaut und angeschlossen. Kauany kommt aus dem Rathaus, wedelt mit dem Luftfilter. Nichts kann mehr schiefgehen, hofft Gabriela und winkt.
»Alles einsteigen! Es geht los!«

Gabriela startet den Motor, es knackt im Lautsprecher des Funkgerätes. Ein letzter Blick zum Colegio am Eck, dann legt sie den ersten Gang ein.
„OB-1841 auf der Notfrequenz. Momentane Position ist südlich Maipuco in westlicher Richtung. Falls mich jemand hört, bitte antworten!“ Gabriela und Kauany starren auf den Lautsprecher, sehen sich an. „OB-1841 auf der Notfrequenz. Momentane Position ist südlich Maipuco in westlicher Richtung. Falls mich jemand hört, bitte antworten!“ Gabriela greift zum Mikrofon, drückt die Sprechtaste.
»Gabriela Montes in San Lorenzo kann Sie hören, OB-1841!«
Es bleibt einige Sekunden still. Gabrielas Herz pocht heftig.
»Hier OB-1841! Hallo, Gabriela Montes. Sie sind in San Lorenzo?«
»Ja! Ich und drei Mädchen des Colegio San Lorenzo. Man hat uns zurückgelassen!«
»Moment«, antwortet die Stimme. Cayetana und Ainara drücken sich zwischen den Sitzen nach vorne.
»Was ist das, Gabriela?«
»Eine Flugzeugkennung. Wenn er bei Maipuco in westlicher Richtung unterwegs ist, kommt er hier vorbei!«
»Wirklich?!«, rufen beide wie aus einem Mund. »Wird er uns mitnehmen?!«
Gabriela sagt nichts. Welche Antwort könnte sie geben? Sie sieht zu Kauany.
»Hier OB-1841! Hallo Gabriela Montes! Es gibt eine alte Piste in San Lorenzo, nicht wahr?«
»Ja, mitten im Ort!«
»Haben Sie eine Signalpistole?!«
Kauany nickt heftig.
»Ja, OB-1841, wir haben eine Signalpistole!«
»Gut, Gabriela Montes! In zwanzig Minuten feuern sie eine rote Leuchtrakete am Ostende der Piste ab!«
Gabriela ballt die linke Hand zur Faust, drückt die Sprechtaste.
»In zwanzig Minuten eine rote Leuchtrakete am Ostende der Piste! Verstanden, OB-1841!«
Es ist wieder still für einen Moment.
»Gabriela Montes?! Ich möchte sie warnen! Mehr als zwei Personen kann ich nicht mitnehmen! Bereiten Sie sich darauf vor!«
Gabriela schluckt trocken. »Verstanden, OB-1841 …«, krächzt sie ins Mikrofon, hängt es ans Gerät und blickt zu Kauany, die aus dem Fenster sieht. Dann dreht sie den Kopf nach hinten. Cayetana und Ainara starren sie mit großen Augen an.

Cayetana hört das Brummen als erste, hebt laut rufend die Hand. Kauany lauscht und nickt. Gabriela feuert die Leuchtrakete in den staubverhangenen Himmel. Nach wenigen Minuten überfliegt eine zweimotorige Propellermaschine die alte Piste von Ost nach West, macht eine Kehre und landet am westlichen Ende, wird langsamer, rollt auf Gabriela und die Mädchen zu. Kurz davor dreht der Pilot die Maschine und schaltet die beiden Motoren aus. Die Stille kehrt zurück. Nichts passiert, die Mädchen und Gabriela sehen sich fragend an. Endlich öffnet sich der hintere Einstieg und eine Hand klappt die Stufen aus. Ein junger Mann steigt aus und kommt mit ausgestreckter Hand auf Gabriela und die Mädchen zu. Er grinst, bleibt stehen und zieht die Sonnenbrille ab.
»Laurent Cordier ist mein Name«, sagt er. »Bin Franzose, aber macht ja nichts. Wer ist Gabriela Montes?«
Gabriela hebt die Hand. »Ich! Und das sind Kauany, Cayetana und Ainara. Wir sind vom hiesigen Colegio San Lorenzo.«
Laurent Cordier sieht alle der Reihe nach an und nickt. Eine Frau tritt aus der Einstiegsluke auf die Treppe, steigt die Stufen herab und kommt auf die Gruppe zu. Sie mustert die Mädchen, dann Gabriela.
»Sie haben verstanden, dass wir nur zwei Personen mitnehmen können?«, fragt sie und der Klang ihrer Stimme lässt Gabriela frösteln. »Ich schlage vor, wir nehmen die beiden kleinen Mädchen mit«, fährt die Frau zum Piloten gewandt fort. Gabriela ballt die Hände zur Faust. Kauany stellt sich neben sie und drückt ihren Oberarm.
»Ja, darauf haben wir uns geeinigt«, kommt sie Gabriela zuvor.
»Nein!«, brüllt Cayetana. Ainara fängt an zu weinen und klammert sich an Gabrielas Bein. Cayetana stürmt auf die Frau zu. »Nein! Sie sollen alle mit!«, bettelt sie. Ein weiterer Mann kommt die Stufen herab. Gabriela fragt sich, wie viele Menschen in diesem Flugzeug sind und was sie wohl berechtigt, gerettet zu werden? Der Mann legt eine Hand auf Cayetanas Kopf, lächelt, nickt ihr zu und nimmt sie auf den Arm. Dann dreht er sich zu der Frau.
»Wir lassen drei oder vier der Kisten hier, dann können wir die Mädchen mitnehmen«, sagt er mit fester Stimme und blickt Gabriela an. Die Frau nickt mit zusammengepressten Lippen und geht wieder ins Flugzeug. Gabriela atmet tief ein und aus. Kurz darauf tragen zwei weitere Männer vier Aluminiumkisten nach draußen. Gabriela staunt und Kauany klammert sich um ihren Hals.
»Geh zum Wagen, Kauany! Hol eure Sachen! Schnell!«

Einer der jungen Männer hilft Kauany beim Hineintragen der wenigen Habseligkeiten. Cayetana wird von dem Mann ins Flugzeug gebracht, Gabriela trägt Ainara hinein. Es ist kühl, voller am Boden festgezurrter Kisten, links und rechts je eine Sitzreihe. Sie zählt nicht die Menschen, setzt Ainara auf einen der freien Plätze und nimmt den kleinen Kopf zwischen die Hände.
»Ich komme nach! Keine Angst! Mit dem Wagen dauert es eben etwas länger, aber wir sehen uns wieder … und immerhin: du darfst fliegen! Wenn du das deinen Eltern erzählst, werden sie es kaum glauben!«
»Aber wo sind denn Mama und Papa?«
»Bestimmt schon in Juliaca! Da mache ich jede Wette!«
Ainara nickt und Gabriela steht auf, steigt über eine der Kisten. Kauany sitzt schon, hat Cayetana auf dem Schoß.
»Darf man hier auf dem Schoß sitzen? Ist das nicht gefährlich?«, will sie von dem Mann wissen.
»Sie sind Gabriela, nicht? Ich glaube, so ist es besser. Hilft beim Abschied«, sagt er und nimmt sie an die Hand, beugt sich zu Cayetana. »Ich werde Gabriela noch sagen, wohin wir fliegen, dann kann sie nachkommen mit dem Fahrzeug. Das ist kein Abschied, nur ein anderer Weg. Sei also nicht besorgt.«
Er lächelt, richtet sich auf und zieht Gabriela aus dem Flugzeug. Kauany wirft ihr einen flehenden Blick zu, muss aber Cayetana streicheln, auf sie einreden, Ainara einen freundlichen Blick zuwerfen. Laurent, den Piloten, sieht sie beim Hinausgehen mit Getränken und Keksen kommen.
»Was sind das für Menschen die hier gerettet werden?«, will sie draußen wissen und beißt sich auf die Unterlippe. Ihr Ton war vielleicht zu vorwurfsvoll. Der Mann sieht sich um.
»Wir sind alle Wissenschaftler …«, er hält kurz inne. »Nein, auch zwei Elektro-Ingenieure sind dabei. Unser Ziel ist Talara. Von dort aus geht es für uns weiter auf eine der neuen Inseln …«
»Inseln?«
Er nickt. »Sie haben noch nichts davon gehört?«
Gabriela überlegt. Inseln? Vielleicht diese Metallinseln, über die man vor ein paar Monaten in den Nachrichten berichtet hat …
»Wie gut sind die Mädchen in der Schule?«
»Es sind meine Einser-Schülerinnen. Sehr begabt, vor allem in Mathematik …«
»Haben sie noch irgendwo Eltern?«
Gabriela kneift ein Auge zu, will nicht, dass dieser Mann ihre Tränen sieht.
»Verstehe«, murmelt er.
»Was machen Sie in Talara mit den Mädchen? Sie müssen nach Juliaca ins Zentrum des Colegio …« Sie zieht die Nase hoch und versucht an ihm vorbeizusehen, auf das Fenster hinter dem Kauany sitzt. Der Pilot lässt den linken Motor an, dann den rechten.
»Wir werden sie mitnehmen auf eine der Inseln! In Juliaca ist nichts mehr!«, brüllt er in den Motorenlärm hinein. Seine Hand landet auf Gabrielas Schulter. Er drückt leicht.
»Sie werden es gut haben, die Mädchen!«, hört Gabriela ihn sagen, dann verschwindet er in der Luke. Eine Hand klappt die Stufen ein, schließt die Tür. Sie rennt auf die Seite, um nicht vom starken Wind umgeworfen zu werden. Die Maschine beschleunigt. Kein Gesicht mehr an den Fenstern. Ein paar Atemzüge später hebt sie ab und ist bald nur noch ein kleiner Punkt. Gabriela steht wie zur Säule erstarrt. Die Stille greift nach ihr und sie beschließt, die Augen des Waldes zu suchen.

 

Moin @Rob F,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren.

du schreibst schneller, als ich lese, glaube ich ...
Du liest ja auch noch andere Texte und schreibst und lebst dein Leben ... so wie ich auch. Für jede dieser Geschichten sammle ich zwei Tage lang Daten von allen möglichen Enden der Welt - sozusagen. Zunächst suche ich den Ort des Geschehens, leg mich abends ins Bett und denke drüber nach, ob ich mich dort wiedererkenne. Wache ich mit gutem Gefühl auf, ist es der Ort. Dann werden die Details recherchiert. Habe ich aber alles, geht das Schreiben recht zügig.
Die Teile dieser Serie stehen trotz dem Gesamtkontext ja eher für sich.
Ja, das ist halt die Bedingung für Serien/Serienteile hier. Müssen für sich alleine stehen können. Gemeinsamkeiten sind nur die Inseln und die beiden Gründe für den Exodus.
Also ggf. eine frühere Verortung?
Werde ich überlegen ...
Was hat der Wagen mit den Candoshi-Leuten zu tun? Müsste ich diesen Zusammenhang verstehen? Und wer sind diese Candoshis ... ?
So nennen sie sich selbst. Ein im Aussterben stehendes Volk der Regenwald-Indianer im peruanischen Amazonasgebiet. Mir geht es in diesem Text um die Ureinwohner des Amazonas bzw. dessen Quellflüsse. Also habe ich nach einem Volk gesucht, das in der Nähe dieses Gebietes um San Lorenzo lebt. Die Mädchen sind Candoshi und der Rektor interessiert sich einen Scheiß für sie. Ich habe mit Absicht nicht zu Beginn etwas zum Ort geschrieben, lieber die Candoshi erwähnt. Aber es fällt ja auch San Lorenzo, Puerto America und bald auch das Colegio.
Ist er so technikbegeistert, oder warum sagt er das?
Er produziert sich einfach, als schlichter Mann.

So hab noch ein paar Dinge geändert und deine Vorschläge eingebaut.

Bei der exakten Verortung in den ersten paar Sätzen überlege ich noch. Genau das wollte ich hier nicht, also 'In einem Klassenzimmer des Colegio San Lorenzo, am Maranon, mitten im peruanischen Regenwald ...". Am Ende des ersten Aktes weiß man auf jeden Fall, wo das Ganze spielt.

Jetzt brauch ich schnell den ersten Kaffee. Schönen Tag ins Rheinland wünscht

Morphin

 

»Du und deine Indianer-Mädchen können hier verrecken!«

Ja, das war schon beim ollen Noah so, wen darf man mitnehmen (da kommt einem das hierarchische Denken mit Gott oder einem - buchstäblichen - menschlichen Vorgesetzten an der Spitze als Entlastung daher ... Und schon gehts weiter rund um den Globus – und wir stranden in Südamerika und gleich mit einem Geheimnis,

lieber Morphin,

Gabriela muss tief einatmen, um nicht wütend zu werden; und dafür den Gestank in Kauf nehmen.

Ein kräftiger Wind strömt ihr aus dem Raum entgegen; alle Deckenventilatoren laufen.
...
So still es im Colegio geworden ist in den letzten Wochen, so quicklebendig sind die Mädchen in der Mensa; zumindest Cayetana und Ainara.

Am ehesten kommt das Häuschen am Anleger infrage, das auch als Bar dient; zumindest bis vor einigen Wochen.
Warum ein Punkt auf den Kommas, wenn schon beim ersten Zitat nicht einmal ein Komma dank des „und“ (innerhalb einer schlichten Aufzählung) verwendet werden braucht ...

»Vier weitere Menschen bringen das Boot nicht zum Kentern«, erwidert sie ruhig. »Bürgermeister Guzman hat mir zugesichert, diese Vier mitzunehmen, wenn ich sie bis morgen früh in San Lorenzo habe.
Warum die Substantivierung der „vier“, wo doch „diese vier“ zugleich adjektivistisch und attributiv den „weiteren Menschen“ zuzuschlagen sind. Besser also „diese vier ...“

Gabriela weiß, dass er noch etwas nachschieben wirdKOMMA und reißt eine der Verpackungen auf.
Das „und“ verbindet m. E. weniger den Nebensatz als das Satzobjekt mit Subjekt (G.) und Prädikat (wissen)

Cayetana und Ainara jauchzen, klammern sich um Gabrielas Hals, ein Stuhl kippt um, ein paar Sekunden später Gabriela mitsamt der Mädchen.
„… mitsamt den Mädchen.

Bürgermeister Guzman hat zugesichert, dass der Tank voll sein würdeKOMMA und Wort gehalten.

Gabriela empfindet das als gutes Zeichen und lenkt den großen Pajero schlafwandlerisch über die Piste nach Westen, entlang des Marañón.
BESSER Dativ; dem M. entlang (die Umstellung verführt aber tatsächlich zum Genitiv, der es aber nun mal nicht ist ...)

Seitdem Gabriela die Stelle im Colegio San Lorenzo angetreten hat, war der Strom zwischen Puerto Limon und San Lorenzo niemals weniger als 350 oder 400 Meter breit gewesen.
Nicht falsch, aber es geht auch ohne Gewese

»Was brächte uns das?« Sie richtet sich auf. »Nichts. …
Warum der („zweifelnde“) Konjunktiv, wenn der Indikativ „was bringt uns das?“ kein anderes Ergebnis bringen wird?

Kennen das Zurückliegende ebenso wie das Kommende; und bemitleiden uns Menschen.

Die Mädchen und Gabriela notieren auf ein BlattKOMMA was ihnen dazu einfällt.

Stück für Stück tauchen Puzzleteile des gestrigen Tages aus den Überresten von Gabrielas Schlaf auf und warten daraufKOMMA zusammengesetzt zu werden.

»Es gibt genug Diesel in der Stadt. Wir machen alle Kanister vollKOMMA die wir finden, setzen uns ins Auto und fahren im Flussbett des Marañón nach Osten bis nach Nauta.

Hier haben zwo Formulierungen miteinander gekämpft und die unterlegene („stellt“?) ihre Spur hinterlassen
Sie geht zum Beifahrersitz und aktiviert das Funkgerät ein, wechselt zur Notfrequenz.

Ainara nickt und Gabriela steht auf, steigt über eine der Kisten. Kauany sitzt schon, hat Cayetana auf dem Schoss.
...
»Darf man hier auf dem Schoss sitzen? Ist das nicht gefährlich?«, will sie von dem Mann wissen.
»Sie sind Gabriela, nicht? Ich glaube, auf dem Schoss ist es besser.
Was ist das für ein Geschiss?
Schau mal hier, was Du so alles hast
»Was sind das für Menschen die hier gerettet werden?«, will sie draußen wissen und beißt sich auf die Unterlippe.

Wie dem auch wird,

bin gespannt auf die nächste Runde ...

Friedel

 

… und alles Leben wissen lässt, dass es bald zu enden hat. Dabei war sie wegen der Geräusche des Waldes nach San Lorenzo gekommen. Hier begegnete sie dem Meer aus Tierstimmen, dem Knarren und Knarzen alter Bäume, einem Kanon aus summenden und sirrenden Insekten. So üppig war das Leben hier, dass die wenigen Menschen kaum auffielen. Gabriela wanderte jeden Abend unter dem Blätterdach der Bäume, verfolgt vom Keckern der Vögel, lachenden Papageien, dem Rascheln der Nager, dem behäbigen Kratzen der Faultiere, um dann bei Nacht überzugehen in die Augen des Waldes.

Klar, kommuniziert der Wald für die meisten von uns durch sein tierisches Leben und seine Geräusche, die ja vielfältiger sind als nur ein Rauschen, Heulen des Windes, Knistern und Knacken,

lieber Morphin.

Das „buchstäbliche“ Netzwerk aber ist unterirdisch über Geflechte der Wurzeln, worüber nebst Signalen vor allem Wasser, Zucker nebst Nährstoffen und Baumsäften, ausgetauscht werden. Dabei kann's zu einer Art „Gesundheitspflege“ kommen, wenn Baumstümpfe von den gesunden Nachbarn mitversorgt werden.

In meiner Heimatstadt wird gern von offizieller Seite über die zunehmende "Versiegelung" des Bodens gejammert und zugleich über jedes neue Einfamilienhaus (mit potentiellem "Stein"garten und jede Mietskaserne gejubelt und gleichzeitig bleiben Ruinen wegen der Eigentumsordnung unberührt ...

Am schlimmsten ist es allerdings hinsichtlich des Neubaus eines Autobahnkreuzes mitten in einem noch einigermaßen intakten Waldgebiete des nördlichen Ruhrgebietes ... Der Wald ist vor allem ein Hindernis für den Individualverkehr ...

Lass Dir aber durch mich nicht den Sonntag (hier ist trübe) verderben,

Friedel

 

Guten Morgen @Friedrichard,

besten und besonderen Dank fürs Lesen und zweimal Kommentieren. Deine Anmerkungen habe ich gerade eingearbeitet und dabei noch zusätzliche Stolpersteine entdeckt und ausgebessert. Auf ARTE gibt es momentan eine Doku über den Widerstand einiger Regenwald-Völker gegen die Landnahme. Sehr sehenswert. Man möchte fast an Hoffnung glauben, allerdings ... ja, ich persönlich tue das nicht. Diese Geschichten schreiben ist wohl meine Art, damit umzugehen. Eine lächerliche Art, angesichts des Problems.

Wenn du zufällig Netflix hast, dort gibt es eine sehr gute Doku über das Leben der Pilze, die fast so was sind wie die Macht der Jedi :D ... zumindest aber sehr gute Freunde allen Lebens. Leider ignoriert der Mensch diese Freundeshand beständig und stößt sie vor den Kopf.

Bei uns im Dorf stehen knapp dreißig alte Häuser, Weingüter, Höfe leer. Niemand will sie, stattdessen gibt es Neubaugebiete. Teils sind diese Höfe vierhundert Jahre alt und tragen viele Geschichten in ihren Mauern. Aber es muss halt nun mal neu sein, auf der grünen Wiese. Um unsere Verbandsgemeinde herum wird immer mehr das Wasser rationiert, und doch kommen schöne Pools in die Neubauten. So muss das sein.

Tja, ich geh jetzt Kaffee trinken. Bis dann. Genieß die Zeit.

Beste Grüße
Morphin

 

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