Was ist neu

Serie Exodus: Fatou

Vorheriger Teil
Vorheriger Teil
Nächster Teil
Nächster Teil
Seniors
Beitritt
10.02.2000
Beiträge
2.682
Zuletzt bearbeitet:

Exodus: Fatou

Erster Akt

Malik Benaissa lockert mit dem Stock den Humus in der Kiste, setzt das Pilzgeflecht ein und legt ein nasses Tuch über die Stelle. Es ist gut für heute, denkt er, dreht sich, zählt die Kisten, die er heute geimpft hat, und ist zufrieden. Aus der Felsenhöhle strömt kühle Luft, voll der intensiven Pilzaromen. Malik hebt den Kaftan etwas an, schaltet das Licht aus, steigt die knarrenden Holzstufen empor und schließt die Bodenluke. Er geht ins Freie, hebt kurzentschlossen den Daumen gegen den Sandstrand unter der felsigen Anhöhe, auf der seine Hütte steht. Zwei Daumen breit bis zum Meer. Vor einem Jahr passten noch drei Daumen dazwischen. Das Wasser kommt. Zehn Meter sind es nach unten zum Sand der Bucht von Chréa. Zehn Meter über von Wind, Wasser und Zeit zermürbten Holzstufen. Er beugt sich über die Brüstung und sieht hinunter. Ein Sprachenwirrwarr kommt von dort. Helle Stimmen, Frauen und Mädchen offenbar. Sie müssen sich unterhalb der überhängenden Felskante aufhalten. Am östlichen Ende der halbmondförmigen Bucht macht sich eine Gruppe Menschen auf den Weg übers Meer. Sie schieben alte Schlauchboote ins dunkelgrüne Wasser, binden sie zusammen. Malik weiß, was sie erwartet.

Um die Landzunge von Taza kommt ein Schiff, nimmt Kurs auf den Strand. Es ist ein alter Trawler, dem Malik nicht einen seiner Pilze als Passagier anvertrauen würde. Nicht für eine halbe Stunde! Der in allen Farben und Richtungen gestrichene Bug des Schiffes hält auf die drei Gummiboote zu, die inzwischen mehr Menschen tragen, als gut sein kann. Kurz davor dreht es bei. Vom Heck fliegt ein Tau zum ersten Boot. Viele Hände halten es fest und der Kapitän beschleunigt, wendet Richtung Norden, Richtung Europa. Das Gewicht der Boote ist so außerordentlich, dass die Hände der Menschen alleine keine stabile Verbindung herstellen können, selbst so viele nicht. Einige gehen sofort über Bord, werden von der Kraft des schleppenden Schiffes und der Behäbigkeit der Masse weggerissen. Sie schreien, landen im Wasser. An einigen Stellen färbt es sich rot. Malik schüttelt den Kopf. Und doch greifen weitere Hände nach dem Tau, das sich unbarmherzig über die Köpfe der Menschen hinwegzieht, ins Wasser durchhängt, und endlich gibt es einen Ruck. An etwas oder jemand ist es hängen geblieben. Die, unter all den Körpern kaum sichtbaren Hoffnungen aus Gummi, bewegen sich aus der Bucht hinaus. Großer Jubel brandet herüber, Jauchzen, Freudenschreie, winkende Hände.
»Bis bald, ihr Narren«, murmelt Malik, geht in seine Hütte, stellt den Wasserkessel auf die Heizplatte, stopft einen Minzzweig in die Karaffe und setzt sich. Er wartet, lauscht dem Geräusch des warm werdenden Wassers, versucht die Stimmen dazwischen zu erkennen und hört plötzlich ein Knarzen. Malik zieht die Schrotflinte unter dem Tisch hervor und richtet sie auf die Tür. Das Wasser brodelt, er schaltet die Platte aus. Nichts ist zu hören auf der Veranda. Dann ein Klopfen.

»Hau ab!«, sagt er auf Arabisch und Französisch. Das muss reichen. Wieder klopft es. Das Pochen kommt vom unteren Teil der Tür. Es wirkt schwach und etwas daran erinnert ihn an die vielen Male, die er als Kind an die Tür seines Großvaters klopfte. Sehr ärgerlich, denkt er, ich muss meinen Tee aufgießen und darf die Flinte nicht loslassen. Es pocht erneut. Noch zaghafter dieses Mal.
»Wer ist da!?«, ruft er auf Französisch.
»Fatou …« Eine leise Mädchenstimme.
»Bist du allein?«
»Ja, mein Herr … wirklich!«
Malik überlegt und kommt zu keinem Entschluss. Ein Mädchen kann ja nicht gefährlich sein. Aber hinter ihr könnten andere stehen … allerdings, das Knarzen klang so schwach …
»Bist du krank? Hast du das Virus?«
»Nein, niemand von uns ist krank«, kommt es verzweifelt von der Veranda. »Der Doktor hat gesagt, ich bin eine Immune.«
»Ich habe eine Waffe. Mach ganz langsam die Tür auf!«
Der Holzriegel hebt sich, das Türblatt schwenkt auf. Malik sieht eine große Nase auf Riegelhöhe. Die Nasenflügel beben heftig. Eine rechte Hand schiebt sich durch den Spalt, winkt in den Raum hinein.
»Darf ich kommen?«
Den Lauf der Flinte gen Tür steht Malik auf und geht leise zur Anrichte.
»Komm rein! Mach sofort hinter dir zu und setz dich vor der Tür auf den Boden!«
»Mach ich, mein Herr …«

Im Nu schlüpft eine dunkle Gestalt in den Raum, schließt die Tür sachte, setzt sich, dreht den Kopf zum Stuhl, auf dem Malik noch vor einem Moment saß. Aus dem schwarzen Gesicht strahlen große, weiße Augen wie Scheinwerfer in das Halbdunkel. Das sind aber besonders schöne Augen, denkt Malik und räuspert sich. Die Kleine entdeckt ihn und rutscht beim Anblick der Schrotflinte entsetzt an die Tür zurück, zieht die Knie hoch. Sie schweigt und zittert. Keine anderen Geräusche sind zu hören, weder Stimmen noch ein die knarzende Treppe.
»Du bist also wirklich alleine, Fatou …«
»Ja, mein Herr«, krächzt sie mit trockener Kehle.
»Komm her und gieß auf. Dann werden wir zusammen einen Minztee trinken.«
Malik senkt den Lauf der Flinte und setzt sich wieder. Fatou tut, was er ihr aufgetragen hat. Beim Eingießen hebt und senkt sie den Wasserkessel mehrmals. Es sprudelt nur so in der Karaffe.
»Sieh an, du weißt, wie man guten Minztee zubereitet«, stellt er anerkennend fest. Fatou nickt eifrig, trägt den Kessel zurück und schiebt sich vorsichtig auf den zweiten Stuhl, als wollte sie mit der langsamen Bewegung seine Erlaubnis einholen.

Zweiter Akt

»Du bist aber ganz schön schwarz. Woher kommst du?«
»Aus dem Senegal, mein Herr.«
»Senegal!?« Er kräuselt die Stirn, blickt durch sie hindurch. »Senegal … das sind mindestens 3.000 Kilometer bis hier … alle Achtung. Aber du bist sicher nicht allein gekommen, nicht wahr?«
»Nein.«
Fatou sieht auf ihre Finger, dreht die Handflächen und starrt dann auf den lindgrünen Tee. Ölige Schlieren ziehen von den Blättern in alle Richtungen. Es beginnt stark zu duften. Nein heißt nein, denkt Malik. Und wenn sie nichts mehr sagt, wird es ihr bestimmt gehen, wie den meisten, die hierher kommen: unterwegs stirbt die Hälfte. Irgendwo. In der West-Sahara, Mauretanien oder sonst wo in der Wüste.
»Von was leben Sie, mein Herr?«
»Ich brauche nicht viel«, weicht er misstrauisch aus. »Alte Männer wie ich essen kaum.«
»Ich esse auch kaum. Hab mich dran gewöhnt«, erklärt sie wie selbstverständlich. »Aber Durst hätte ich schon …«

Malik zieht den Duft des Tees in die Nase. Er riecht fertig. Aus dem Regal nimmt er zwei Tonschälchen, stellt eines vor Fatou auf den Tisch und schenkt ihr ein. Zieht die Karaffe hoch. Es sprudelt. Dann senkt er sie ab, tut dasselbe bei sich.
»Dann lass es dir schmecken, kleine Fatou.«
Sie grinst und leert laut schlürfend das Schälchen. Malik sieht verwundert zu, wartet sekündlich auf den Schrei. Das kann doch niemand so heiß trinken! Doch Fatou schließt lediglich die Augen und atmet deutlich sichtbar ein. Der kleine Körper wächst fast über sich hinaus.
»Mh … war das gut. Darf ich noch?«
Malik ist fasziniert von ihrem Augenweiß und schenkt nach.
»Willst du nach Europa?«
»Nein«, erwidert sie, schlürft wieder leer und blickt auf die Karaffe. Nein? Er wundert sich. Wo könnte man sonst hinwollen?
»Du kannst den ganzen Tee leer trinken.«
Fatou richtet sich auf, zeigt ein breites Grinsen und weiße Zähne.
»Danke, mein Herr.«
»Ich bin nicht dein Herr. Ich heiße Malik.«
»Ja, Herr Malik.«
Der seufzt und trinkt seinen Tee, darauf achtend, sich nicht die Lippen zu verbrühen. Im Hinterkopf entsteht der Gedanke, Fatou etwas zu essen anzubieten. Von seinem Essen, das er im Keller züchtet. Und von dem außer ihm niemand etwas weiß und das unbedingt so bleiben soll. Ein Dilemma.

»Die anderen Frauen und ich wollen auf eine dieser Inseln, Herr Malik. Dort werden sie uns brauchen. Ich zum Beispiel kann kochen, putzen und Männer befriedigen.«
Malik verschluckt sich und hustet lautstark. Er tut so, als hätte er das nicht gehört, räuspert sich einige Male und setzt sich aufrecht. Die Flinte auf dem Schoß wird zu schwer. Er steckt sie wieder unter den Tisch, entspannt den Hahn.
»Du bist alleine geflohen, hab ich recht?«
Fatou schlürft den Tee und nickt dabei, setzt dann ab und gießt nach.
»Mein Stiefbruder ist mit mir gegangen. Er war ein Idiot. Ein Skorpion hat ihn eines Nachts gestochen und er ist zwei Tage später gestorben.« Sie sieht sich um. »Haben Sie ein Kind, Herr Malik?«
Er presst die Lippen zusammen. Was er sieht, ist ein elf- oder zwölfjähriges Mädchen, das Dinge sagt, für die er als Kind windelweich geschlagen worden wäre.
»Ich konnte nie Kinder bekommen. Ein paar Jahre lang habe ich es versucht, aber eines Tages sagte ein Doktor, dass es … nun ja, dass es noch nie funktioniert hätte, also, mein, äh …«
»Ist ja auch egal, warum«, beendet Fatou Maliks Gestammel. »Aber bereuen Sie es?«
»Kein Kind bekommen zu haben?«
»Hm.«
Er atmet lautstark ein und denkt an den Strand, die Boote, die täglich angeschwemmten Toten, nicht wenige mit unzähligen Schusswunden. An die Dürre und das fischlose Meer.
»Nein. Ich bereue es nicht. Es ist gut so, wie es ist.«
Fatou sieht ihn auf rätselhafte Weise an. Er kann den Blick nicht deuten. Traurig vielleicht … was hatte sie gesagt: die Inseln?

»Ich habe von den Inseln gehört«, lenkt er ab, »aber noch keine gesehen. Die Menschen erzählen davon, zumindest kann ich es von hier oben hören, aber, wie du siehst, habe ich kein TV, kein Radio, nichts. Weißt du denn mehr?«
Sie wirkt plötzlich wie ausgewechselt und Malik sieht etwas, was er schon sehr lange vergessen hatte. Kleine Finger, die drehend ineinandergreifen – aus Freude oder Verlegenheit.
»Sie bauen die Inseln für junge Menschen wie mich!«, berichtet Fatou erregt. »Wir sind ja schließlich die Zukunft! Draußen auf dem Meer kann man Stürme und Dürren überleben, sagen sie!«
Es ist das, was Malik auch gehört hat, dem er aber keine Bedeutung beimisst. Schließlich erblicken allerlei verrückte Hoffnungen das Licht der Welt, wenn es den Menschen an den Kragen geht.
»Und wie kommst du darauf, dass sie ausgerechnet auf dich warten?«
Fatou lacht oder lacht ihn vielleicht sogar aus.
»Ich bin jung und sehr kräftig! Ich habe es bis hierher überlebt! Und wenn die Inseln so groß sind, wie ich gehört habe, viele Menschen auf ihnen wohnen, dann brauchen sie dort jemanden wie mich, denn auch dort muss man putzen und kochen! Genau das kann ich am allerbesten! Soll ich dir das zeigen, Herr Malik?«
Er hebt abwehrend die Hände und grinst über ihre Aufgeregtheit. Sogar ins Du ist sie gefallen, freut er sich und weiß nicht mal warum.
»Sieh mal, Fatou, alles ist sauber bei mir, nicht wahr?«
Fatou sieht sich um, feuchtet ihre Finger an und streicht über das Bord an der Wand. Lange kontrolliert sie die Fingerspitzen und riecht daran.
»Das stimmt, Herr Malik. Sie sind ein sauberer Mann. Ist sehr selten …«
Er kann nicht anders und lacht. Malik lacht, wie seit … er weiß es nicht genau.
»Sag mal, Fatou … hast du Hunger?«
Sie erstarrt sofort und beugt sich nach vorne.
»Wenn Sie mich so fragen, Herr Malik … ja, sogar einen Mordshunger.«
»Gut, dann komm mal mit.«

Dritter Akt

Er steht auf, hebt seinen Stuhl auf die Seite, öffnet die Bodenklappe und arretiert sie mit dem Wandhaken. Fatou weicht mitsamt Stuhl zurück. Das Weiß ihrer Augen tritt umso deutlicher hervor, je weiter sie abrückt. Dann erreicht die Lehne die Wand. Es geht nicht weiter. Zum ersten Mal registriert Malik ein Flattern in ihrer Stimme. Angst.
»Sind Sie doch ein Verrückter, der kleine Kinder frisst?«
Er sieht sie ungläubig an.
»Wer sagt denn so was?«
»Die Frauen da unten …«
»Warte hier. Das Essen ist natürlich versteckt. Ich wäre schon lange tot, wüsste davon jemand …«, sagt es und steigt hinab. Über die knarzenden Stufen ins kühle Loch. Sein Kopf verschwindet und Fatou beugt sich vorsichtig über die Kante. Die Stiege endet in der Dunkelheit. Sie zählt bis zwanzig und nimmt sich vor, das drei Mal zu wiederholen und dann zu fliehen. Vielleicht zünde ich diese Hütte an, denkt sie. Es klappert dort unten. Sie hört Malik husten und ihr Blick fällt auf den Schaft der Schrotflinte. Ich könnte sie nehmen und dann … etwas Wulstiges kommt aus dem Loch, gehalten von der Hand des Alten. Der Kopf folgt, seine Brust, eine verbeulte Schüssel vor sich, dann der Rest.
»So, unser Essen«, schnauft er ein wenig aus der Puste. Ohne auf Fatou zu achten, stellt er alles auf dem Tisch ab, verschließt die Klappe, rückt den Stuhl mit einem kontrollierenden Blick zurecht und setzt sich. Dann fängt er Fatous skeptischen Blick auf und muss schon wieder lachen. Danke, meine Kleine, denkt er und holt aus der Schublade des Tischs drei Knoblauchzehen, ein Messer und vom Bord die kleine Flasche Arganöl.

»Was ist denn das alles?«
»Hast du noch nie Pilze gesehen?«
»Also …«, sie überlegt lange. Malik schält den Knoblauch und beginnt, ihn in feine Scheiben zu schneiden. »Das Wort kenne ich, aber ich wusste nicht, was es ist … das kann man essen?«
»Es gibt Menschen und Tiere, die gehören zusammen, es gibt Pflanzen, und dann gibt es noch eine Lebensform auf der Erde: das sind die Pilze.«
»Und die wachsen im Dunkeln?«
Vorsichtig bewegt sie den Zeigefinger auf einen der dicken Pilze zu, berührt dessen Schirm. »Der ist ja ganz fest«, wundert sie sich. Malik nimmt ihn aus der Schüssel und riecht daran. Er muss nicht mal Verzückung vortäuschen ob des Duftes. Langsam und tief zieht er das Aroma in sich hinein. »Hm, das ist wunderbar, Fatou.« Vorsichtig langt er über den Tisch, wedelt mit dem Pilz, stoppt direkt vor ihrer Nase. »Riech mal! Du wirst sehen, dass es nichts Vergleichbares mehr gibt.«
Fatou schnuppert vorsichtig. Dann packt sie Maliks Hand, nimmt den Pilz und drückt ihn sich direkt vor die Nasenlöcher, dreht ihn nach allen Seiten, schnüffelt und schnüffelt. Fast meint Malik, der ganze große Pilze verschwände demnächst in Fatous Nase.
»Lass noch was übrig von diesem guten Stück. Wir wollen ihn jetzt essen.«
Andächtig legt sie ihn zurück und beobachtet genau, was er tut. Die Pilze sehr dünn schneiden, auf einen großen Teller legen, Arganöl darauf träufeln und in die Scheiben einreiben, den Knoblauch verteilen. Zum Schluss gibt er eine Prise Salz darüber.
»Jetzt warten wir fünf Minuten, bis Öl, Knoblauch und Salz ihre Wirkung tun.«
»Was für eine Wirkung?«
»Den vollen Geschmack der Pilze für uns öffnen.«
Fatou zieht die Augenbrauen hoch.
»Vielleicht sind Sie ja doch so was wie ein Hexer, Herr Malik«
Darauf kann er nur lachen. Hoffentlich hört man ihn nicht unten am Strand.
»Was bin ich denn noch alles? Ich esse Kinder, kann hexen …«
»Die Frauen da unten haben Angst vor Ihnen, Herr Malik …«
Erstaunt hört er auf zu lachen. »Angst vor mir? Obwohl sie gar nichts über mich wissen? Naja, das ist keine schlechte Sache. Dann lassen sie mich auch in Ruhe.«
Fatous Hand wandert über den Teller. »Darf ich jetzt?«
»Meinetwegen, aber … du musst an zwei Dinge denken: ganz langsam essen, kleine Bisse und sehr gut kauen. Einverstanden?« Er nimmt eine Scheibe, steckt sie in den Mund und macht es vor.
»Warum?«
»Ganz einfach. Die Pilze haben alles, was ein Mensch braucht, aber es kommt besser raus, wenn du genügend kaust. Und langsam essen, weil sie ihre Zeit brauchen, bis sie verdaut werden. Das Öl hilft dir dabei.«
Fatou nickt, lässt im Nu eine Scheibe im Mund verschwinden, kaut drei oder vier Mal und nimmt die nächste. Malik seufzt.

Vierter Akt

»Wann wirst du diesen Ort verlassen?«
Fatou hebt den Kopf. Sie hält sich den Bauch. Malik ist sicher, dass sie mindestens schwaches Bauchweh hat und keine Lust die Frage zu beantworten. Er wiederholt sie.
»Gehst du morgen oder übermorgen?«
»Ich glaube, du hast mich vergiftet«, antwortet sie stattdessen.
»Dann habe ich mich ja selbst auch vergiftet.«
»Du bist ja der Hexer. Der kann sich nicht vergiften.«
»Pilze sind schwer verdaulich, deswegen riet ich dir, langsam zu essen und lange zu kauen, nicht wahr? Und? Hast du meinen Rat befolgt?«
Er steht auf, stellt Wasser für Schwarztee auf und reicht Fatou eine kleine Flasche mit transparenter Flüssigkeit.
»Was ist das?«
»Fenchelschnaps. Zwei, drei Schluck und es geht dir wieder besser.«
Fatou schüttelt den Kopf, verzieht dabei schmerzhaft das Gesicht, stöhnt und hält sich den Bauch. Sie greift ruckartig nach der Flasche und setzt sie an. Ohne mit der Wimper zu zucken, trinkt sie.
»Zwei, drei Schluck. Denk an meine Worte.«
Dieses Mal hört Fatou und setzt ab.
»Mit Alkohol kennst du dich offenbar gut aus. Das Gebräu hat gute 45%.«
Sie rülpst und wirkt enorm erleichtert. Malik gießt den Schwarztee auf.
»Ich werde morgen früh abgeholt, zusammen mit den anderen Frauen.«
»Nur Frauen? Wie habt ihr bezahlt? Wie hast du bezahlt?«
Sie sieht ihn schweigend an.

»Ich will es gar nicht wissen«, winkt er ab und weiß nicht, was er tun oder sagen soll. Plötzlich kommt es ihm vor, als wäre es falsch, sie wegzulassen. Mit beiden Händen fährt er sich übers Gesicht und atmet schwer.
»Ist Ihnen nicht gut, Herr Malik?«
»Doch, alles in Ordnung. Ich dachte nur … meinst du, diese Idee mit den Inseln ist ein guter Plan?« Fatou richtet sich auf und Malik stellt ihr eine Tasse Schwarztee hin. »Trink das. Ist gut für die Verdauung.«
Sie nippt am Tee, fixiert die dunkel schimmernde Oberfläche. Vielleicht denkt sie ja nach, mutmaßt er. Vielleicht gefällt es ihr ja bei mir … sei kein Narr, schilt er sich dann. Als sie den Kopf hebt und ihn verwundert anschaut, fast mitleidig, wie er meint, weiß er die Antwort schon.
»Herr Malik … sehen Sie nicht, dass ich weg muss? Hier werde ich sterben. Früher oder später. Es gibt immer mehr kranke Menschen. Dieses Virus holt uns alle ein. Ich habe es im Senegal gesehen, in Mauretanien, Marokko, es ist überall. Bleiben die Menschen liegen, deckt sie der Sand zu. Sie verdursten. Wasser gibt es nur von Männern, denen ich Gutes tun muss. Fische gibt es keine mehr vor den Küsten, Herr Malik! Wissen Sie, was die Menschen unterwegs essen!?« Ihre Stimme überschlägt sich. »Soll ich es Ihnen sagen!?«
Fatou steht auf, es reißt sie förmlich vom Stuhl. Dann fängt sie an zu schluchzen, leise, aber nur einen Moment später ist es wie die Sintflut. Nichts hält mehr die Tränen. Kraftlos sinkt sie zu Boden. Das Mädchen wird durchgeschüttelt von 3.000 Kilometern Flucht, Hunger, Durst und Tod. Was soll ich tun? Malik setzt sich neben das Häufchen Elend und drückt es an sich. Es dauert, doch dann krault seine Hand ihren Kopf und er spricht etwas, was er schon lange verloren glaubte. Ein Gebet. Eine Botschaft für diesen Einen, an den er sich nicht mehr erinnern wollte. Er bittet ihn, dieses Mädchen zu beschützen, über sie zu wachen. Dann sitzen beide nur noch da und schweigen.

»Glauben Sie etwa an einen Gott, Herr Malik?«, fragt Fatou nach einer Weile. Der Holzboden ist angenehm kühl. Durch die Fugen dringt ein kaum wahrnehmbarer Duft von prächtigen Pilzen.
»Ich habe es mal, Fatou. Er ist mir irgendwie abhanden gekommen.«
Sie dreht sich seitlich weg, legt den Kopf auf seinen Schoß und blickt ihn von unten an. Im Halbdunkel sind Boden, Kaftan und ihr ebenholzschwarzes Gesicht kaum zu unterscheiden. Ihre Augen hingegen liegen da wie die weißesten aller weißen Perlen auf dem Meeresgrund. So rein wie nichts, was Malik kennt.
»Manche der Frauen da unten sagen, dass Gott nun die Menschen bestraft, weil sie alles kaputt gemacht haben.«
Malik seufzt. Das sind die Fragen und Einsichten, die den Kindern eigen sind, denkt er und überlegt, was er als Kind alles gefragt hat. Er musste an Gott glauben, sonst hätte es was gesetzt.
»Gibt es nicht auch gute Menschen, Herr Malik?«
Die Frage überrascht ihn. »Also … doch, es gibt natürlich auch gute Menschen.«
»Dann kann es keinen Gott geben«, folgert Fatou. »Denn auch die guten Menschen werden jetzt sterben. Das kann kein Gott wollen. Ich jedenfalls würde das nicht tun, als Göttin. Das wäre dumm. Erst mache ich die Welt und die Menschen und wenn einige Mist machen, bringe ich alle um … so ein Blödsinn.«
Malik starrt sie an. Dann schüttelt er sich vor Heiterkeit. Ihr Kopf wackelt hin und her auf seinem Schoß. Fatou steht auf, setzt sich an den Tisch und trinkt den Schwarztee leer.
»Darf ich die Pilze sehen, Herr Malik?«

Fünfter Akt

»Das ist ja wie eine Höhle«, wundert sich Fatou und schreitet langsam die Gestelle ab, auf denen die Kisten mit den Pilzen stehen.
»Nun, es ist eine Höhle. Die algerische Küste ist zwischen Algier und Annaba voller großer und kleiner Höhlen. Sie sind meist sehr feucht. In manchen sammelt sich das Wasser zu kleinen Bächen. Und die Temperaturen schwanken nur wenig. Immer um die 13 Grad. Das mögen die Pilze.«
Fatou nähert sich einer Kolonie mit der Nase, atmet tief ein.
»Mh, riechen die gut. Wie heißen die?«
»Das sind braune Champignons und da drüben steht der weiße Champignon.«
»Woher wissen Sie das alles?«
Malik blickt zur felsigen Decke, nimmt mit dem Finger einen Wassertropfen vom Stein und steckt ihn in den Mund. Er schmeckt wunderbar nach Erde und Fels. Fatou bleibt vor einem leicht gelblichen Wust aus vielen kleinen und großen Pilzen stehen, beugt sich ganz nah heran, schließt die Augen und riecht.
»Limonenpilze. Auf die bin ich stolz. Ohne Tageslicht werden sie nicht so gelb. Aber sie sind sehr gesund.« Er legt die Hand auf das Nest, tätschelt die schwachgelben Schirme. »Ich habe früher eine Pilzgärtnerei gehabt, oben auf dem Plateau. In Annaba habe ich jeden Samstag Pilze verkauft. Deswegen weiß ich, wie das funktioniert.«
Fatou sieht sich noch einmal um, blickt jedes Gestell an.
»Wenn Sie das den Menschen beibringen und es hier so viele Höhlen gibt, dann verstehe ich nicht, warum Sie nicht helfen? Tun Sie doch etwas gegen Hunger und Durst!«
Malik schiebt sie langsam zur Stiege.
»Bist du der Meinung, die paar Pilze können all die Millionen versorgen, die kommen? Von Tanger bis Tunis sind viele Strände voller Menschen aus halb Afrika. Wir haben hier Glück, weil der Abhang so steil ist. Was würden die Menschen tun, wenn sie sähen, dass es irgendwo Essen gibt, das aber niemals für alle reicht?«
Fatou steigt hinauf. Es knarzt kaum, so leicht ist sie. »Sie würden töten, Herr Malik. Ich verstehe schon. Alles essen, was erreichbar ist. So wie auf dem Weg vom Senegal hierher …«

Als sie oben ist, dreht sie sich um und blickt Malik in die Augen. Das Weiß wird feucht, glasig und schimmert.
»Hast du …« Malik traut sich nicht die Frage zu beenden, aber Fatou hat verstanden.
»Ja, habe ich«, erwidert sie tonlos. »Ich habe es getan. Und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Jeder Bissen steckt heute noch wie eine Dorne in meinem Hals.« Sie verschwindet. Malik steigt nach oben, verschließt den Boden, stellt einen Stuhl darüber und kontrolliert die Fugen. Die Stimmen vom Strand sind lauter. Als er sich umdreht, sieht er die offene Tür. Der Atem stockt ihm.
»Fatou …«
Sie sitzt auf der Veranda, die Füße auf das Geländer gelegt. Malik nimmt neben ihr Platz. Fatou lässt den Oberkörper gegen Maliks Seite rutschen, packt seinen Arm und legt ihn um sich. Es ist dunkel geworden und in der Ferne sind ab und zu Positionslichter zu sehen. Grüne, rote und weiß blinkende.
»Fatou, siehst du die Lichter auf dem Meer?«
Er spürt ihren nickenden Kopf auf dem Kaftan.
»Das sind die Schiffe der Europäer. Frontex, so heißt die Grenzpolizei. Es sind viele, sehr viele. Sobald ihr Radar ein Boot entdeckt, eröffnen sie das Feuer. Niemand kommt nach Europa. Jeden Tag bringt die Strömung die Leichen zurück, die sich ein paar Tage zuvor auf den Weg gemacht haben.«

Fatou steht auf und beugt sich über das Geländer. Die Stimmen der Frauen unten am Strand sind versiegt. Sicher müde und ausgehungert in den Schlaf gefallen, vermutet Malik und überlegt, wie er ihr das Vorhaben ausreden kann.
»Ich will gar nicht nach Europa«, sagt sie leise Richtung Horizont. »Nur irgendwie nach Gibraltar. Dort bauen sie die Inseln, hat eine der Frauen gesagt. Wir können alles für die Menschen auf den Inseln tun, alles. Sogar Kinder für sie bekommen. Egal was, Herr Malik … ich will nur leben.«
Sie dreht sich unerwartet zügig um und starrt ihn an. Nein, diese weißen Augen starren ihn an. Selbst die schwärzeste Nacht wäre nicht imstande, dieses Weiß zu brechen.
»Ich gehe jetzt nach unten, Herr Malik. Machen Sie es gut und … vielen Dank.«
Aus ihm kommt kein Wort, kein Atemzug, nicht der Hauch einer Reaktion, so gelähmt ist er von ihren Worten. Dann umarmt sie Malik mit kräftigem Druck und verschwindet fast lautlos zwischen den Felsen. Noch nicht mal die morschen Holzstufen knarzen.

 

Guten Abend @Rob F,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Hab noch mal be- und überarbeitet anhand deiner Hinweise. Vorweg deine Frage ...

Und wer sind die Strippenzieher hinter dem Entstehen der Inseln?
Bei diesen Geschichten - ich denke, es werden so zehn bis zwölf - ist zwar ganz klar das Thema "Inseln" der eine von beiden Hauptaspekten, aber ich bin mir noch unschlüssig, OB ich in einer letzten Geschichte MEHR dazu sagen werde. Ein Gedanke war, in jedem Text ein Stück preiszugeben. Den werde ich auch verfolgen, gefällt mir momentan am besten. Der andere Hauptaspekt sind die vielen unterschiedlichen Menschen in Situationen, die schon durch Extreme bestimmt werden. Da gibt es schweigsame Menschen, welche die plappern, Defätisten, Hoffende, Wütende, all so was eben. Es gibt Geschichten mit mehr tell, wie die #3, vielleicht auch eine ganz ohne Dialog. Die hier hatte ich gleich mit viel Dialog ... geplant würde ich nicht sagen ... es lief so raus und in die Tastatur.

Ich hab hier bei diesen Texten ganz anders angefangen als sonst. Ich such mir a) einen Ort auf Google Maps (Kontinent > Land > Stadt/Dorf/Gegend, dann b) was machen die Menschen dort Beruf oder so), gehören sie c) zu einer speziellen Gruppe (Inuit, Aborigines, Reiche, Arme, Flüchtende > so in der Art). Dann alles in einen Becher und schütteln. Trotz allem verbinde ich alles mit Erinnerungen, mit Erlebtem aus meinem Leben, so dass einmal viel geredet wird, dann wenig, je nachdem, wer auf wen trifft.

Aber alles muss unter den Sternen Klima und Pandemie stehen. Und es läuft eben auf eine weltumspannende Aktion im Hintergrund hinaus. Die Inseln. Der Exodus einiger Weniger auf das Meer.

Um den Dreh zum Roman "Insel 64" zu bekommen, plane ich - wie schon erwähnt - als letzten Text ein bisschen mehr Erklärung. Im Prinzip sind alle Texte zusammen dann so was wie ein Prequel.

Grundsätzlich aber macht es erst mal viel Spaß und es sind auch Dinge, die mich stark bewegen.

Griasle
Morphin

 

Moin @Blaukehlchen,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Klar, es heißt Bissen. Das mit dem Freuen hab ich auch mal geändert.

Du hast mich überrascht mit der gefundenen Hoffnung. Wirklich. Obwohl ich bislang immer Optimist war, schwindet das doch so langsam, muss ich zugeben. Einzelhoffnungen wie hier bei Fatou generieren sich doch eher aus der Abwesenheit von Informationen. Das war aber gar nicht meine Intention bei Beginn der Serie. Es sind die Inseln. Um die herum will ich das aufbauen, obwohl sie mehr oder weniger nur im Hintergrund schweben. Ich habe so an zehn oder zwölf Episoden gedacht, in der letzten vielleicht mehr zu den Inseln, mal sehen.

Jedenfalls hattes du eine gute Lesezeit. Das ist das eine. Und zugegebenermaßen muss ich sagen, dass es doch ein bisschen darum geht, die Menschen wachzurütteln, denn eigenes Verhalten kann immer und jederzeit überdacht und verändert werden. Das ist vielleicht der Funken Hoffnung in den Texten, was ja manchmal belehrend rüberkommen kann oder so empfunden wird.

Noch einen schönen Sonntag wünscht

Morphin

 

Moin, moin, ha, früh aus dem Bett gefallen, da reicht die zeit neben der Socialmedia-Komunikation mit meinen Kunden auch endlich für einen Kommentar hier. Und den bekommt diese geschichte, weil sie mir Mut macht. Doch, ich empfinde diese Geschichte als positiv, ermunternd, denn da ist soviel zwischenmenschliches und Hoffen. Vielleicht schaffen wir es ja doch!

Ich hadere mit dem Einstieg, da bin ich ständig hängen geblieben, aber ab dem zweiten Absatz bin ich voll drin, konnte mitfühlen, wartetet voll Spannung, in welche Richtung Du mich führst , was passiert. Ja, und irgendwie warte ich noch, so ein ganz bisschen unzufrieden, denn ich bin immer noch am überlegen, waum Fatou ihn aufsucht. Aber das nur am Rande.

Ich bin nicht gut im großen Zusammenfassen, hangle mich lieber an einigen zitaten entlang ...

Malik Benaissa lockert mit dem Stock den Humus in der Kiste, setzt das unförmige Geflecht ein und legt ein nasses Tuch über die Stelle.
Ne, mit dem ersten Satz kriegst Du mich nicht. Auch jetzt, nachdem ich die Geschichte ja mehrfach gelesen habe, ist es kein Bild, dafür ist es zu speziell.

dreht sich einmal um die Achse,
Sagt man das wirklich. Um welche Achse, steht die da im Raum? Um seine wäre doch eindeutiger oder?

die er heute geimpft hat und ist zufrieden.
ab hier weiß ich zumindest, was er dort tut.

Aus dem hinteren Raum strömt kühle Luft, voller Aromen der unterschiedlichen Pilzarten.
Im nachhinein finde ich Raum hier zu sehr an Haus erinnernd, es ist ja eine Höhle. Und riechen Pilze in dem Zustand wirklich auf Entfernung unterschiedlich. Ich war noch nie in einer Pilzzucht, aber am Marktstand riecht man nur EIN Pilzaroma, im Wald ist es auch ein typischer Geruch. Aber ich bin auch kein Trüffelschweinchen.

schließt die Bodenluke.
Das mag regional sein. Auf alle Fälle nicht falsch, aber für mich wäre es eine Falltür. Boden ist oben :-) (Ja, ich höre den Fehler)

Zehn Meter sind es nach unten zum Sand der Bucht von Chréa. Zehn Meter über von Wind, Wasser und Zeit zermürbten Holzstufen. Er beugt sich über die Brüstung und sieht nach unten.
Poppelig, aber ich bin früh aufgestanden - villeicht einmal "runter"

kaum seetaugliche Boote aus Gummi
Ich würde das "kaum" weglassen oder noch besser gleich Schlauchboote, vielleicht alte drausmachen. Den Rets erschließe ich mir selbst.
ein alter Trawler, dem Malik nicht einen seiner Pilze als Passagier anvertrauen würde.

Es ist ein alter Trawler, dem Malik nicht einen seiner Pilze als Passagier anvertrauen würde. Nicht für eine halbe Stunde.
Solche Sätze hast Du viel und ich finde sie toll. Unverbraucht und zu deinem Prot passend.

Sie schreien, landen im Wasser.
Kleinkram, aber wo ich doch schonmal hier bin: landen ist mir zu brav, vielleicht aufschlagen, klatschen, stürzen, ...

Es wirkt schwach und etwas daran erinnert ihn an die vielen Male die er als Kind an die Tür seines Großvaters klopfte.
Du führst hie rmeine Gedanken wunderbar, ich kann ihn voll verstehen. Mag ich sehr!

Das sind aber besonders schöne Augen,
Man, was ist man schon verroht. Ich habe kurzfristig echt überlegt, ob das jetzt Richtung missbrauch abdriftet. Aber nein, er mag Menschen und bewundert ihre Augen - schön!

»Ich esse auch kaum. Hab mich dran gewöhnt«, erklärt sie wie selbstverständlich. »Aber Durst hätte ich schon …«
Die ist so süß! Auch wenn mir wirklich ein Satz fehlt, warum sie ihn besucht, aber ihr Denken ist herrlich. Eine Protagonistin, der ich gerne länger folgen würde!

Im Hinterkopf entsteht der Gedanke, Fatou etwas zu essen anzubieten. Von seinem Essen, das er im Keller züchtet. Und von dem außer ihm niemand etwas weiß und das unbedingt so bleiben soll. Ein Dilemma.
Klasse. Ich hatte auch gerade gedacht, die hat doch bestimmt Hunger, gib Ihr doch bitte etwas. Aber ... Und schon steht es da, die Geschichte erschleißt sich auf so angenehme Weise, also nicht im Sinne von Platt oder vorhersehbar, sondern schlüssig und nachfühlbar.

Ich zum Beispiel kann kochen, putzen und Männer befriedigen.«
Malik verschluckt sich und hustet lautstark.
Ja, genau das war meien reaktion auf diesen abgeklärt herausgehauenen Satz.

»Ich konnte nie Kinder bekommen. Ein paar Jahre lang habe ich es versucht, aber eines Tages sagte ein Doktor, dass es … nun ja, dass es noch nie funktioniert hätte, also, mein, äh …«
Und hier lässt er sich von ihrer offenen, direkten Art anstecken. Denn das erzählt "Mann" ja auch nicht jedem, einfach mal so.

An die Dürre und das fischlose Meer.
»Nein. Ich bereue es nicht. Es ist gut so, wie es ist.«
Ja, hier schaffst Du es, mir die Aussichtslosigkeit und damit vielleicht Ungerechtigkeit vom "Kinder in diese Welt setzen" zu verdeutlichen. Dennoch will ich Optimist bleiben, muss es einfach.

»Sie bauen die Inseln für junge Menschen wie mich!«, berichtet Fatou erregt. »Wir sind ja schließlich die Zukunft!
Ich nehme ihr dieses Schanken zwischen sehr kindlich oder hier sehr reif wirklich ab, gut angelegt.

»Das stimmt, Herr Malik. Sie sind ein sauberer Mann. Ist sehr selten …«
Er kann nicht anders und lacht. Malik lacht, wie seit … er weiß es nicht genau.
Ich habe solidarisch mitgelacht.

öffnet die Bodenklappe
Ja, ich bin immer noch für Falltür.

»Es gibt Menschen und Tiere, die gehören zusammen, es gibt Pflanzen, und dann gibt es noch eine Lebensform auf der Erde: das sind die Pilze.«
Gut erklärt, gefällt mir!

Fatou schnuppert vorsichtig. Dann packt sie Maliks Hand, nimmt den Pilz und drückt ihn sich direkt vor die Nasenlöcher, dreht ihn nach allen Seiten, schnüffelt und schnüffelt. Fast meint Malik, der ganze große Pilze verschwände demnächst in Fatous Nase.
Ich glaube, dies ist meine Lieblingsstelle!

»Du bist ja der Hexer. Der kann sich nicht vergiften.«
Genau, deshalb kriegen Hexen auch keine Hexenschuß, man schießt nicht auf sein eigenes Personal.

»Nur Frauen? Wie habt ihr bezahlt? Wie hast du bezahlt?«
Sie sieht ihn schweigend an.
Alles klar! Ich kann mir bei Dir wirklich etwas abschauen, hinsichtlich nicht übererklären, das finde ich richtig gut gemacht.

Das Mädchen wird durchgeschüttelt von 3.000 Kilometer Flucht, Hunger, Durst und Tod. Was soll ich tun? Malik setzt sich neben das Häufchen Elend und drückt es an sich. Es dauert, doch dann krault seine Hand ihren Kopf und er spricht etwas, was er schon lange verloren glaubte. Ein Gebet. Eine Botschaft für diesen Einen, an den er sich nicht mehr erinnern wollte. Er bittet ihn, dieses Mädchen zu beschützen, über sie zu wachen.
Und das ist für mich der Mittelpunkt der Geschichte, rein menschlich betrachtet. Man muss sie umarmen und ich bin froh, das Malik das hinbekommt.

Die Frage überrascht ihn. »Also … doch, es gibt natürlich auch gute Menschen.«
»Dann kann es keinen Gott geben«, folgert Fatou. »Denn auch die guten Menschen werden jetzt sterben. Das kann kein Gott wollen. Ich jedenfalls würde das nicht tun, als Göttin. Das wäre dumm. Erst mache ich die Welt und die Menschen und wenn einige Mist machen, bringe ich alle um … so ein Blödsinn.«
Ja, Kinder an die Macht!

»Sie würden töten, Herr Malik. Ich verstehe schon. Und sich dann selbst essen. So wie auf dem Weg vom Senegal hierher …«
Dies ist für mich die einzige Stelle, wo aus meiner Sicht noch Erklärung reduziert werden könnte, es war vorher klar und wird später noch verdeutlicht.
Ich meine das mit dem Kannibalismus.

»Hast du …« Malik traut sich nicht die Frage zu beenden, aber Fatou hat verstanden.
»Ja, habe ich«, erwidert sie tonlos. »Ich habe es getan. Und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Jeder Bissen steckt heute noch wie eine Dorne in meinem Hals.«
Hier finde ich es toll, so nachvollziehbar, beim Lesen steigt der Ekel in mir auf.

»Ich will gar nicht nach Europa«, sagt sie leise Richtung Horizont. »Nur irgendwie nach Gibraltar. Dort bauen sie die Inseln, hat eine der Frauen gesagt. Wir können alles für die Menschen auf den Inseln tun, alles. Sogar Kinder für sie bekommen. Egal was, Herr Malik … ich will nur leben.«
Hier erscheint sie wirklich sehr abgeklärt, da fehlt mir ein kleiner kindlicher Riß, irgendwie, um die Differenz zu zeigen, aber es ist ja kein Wunschkonzert. Und natürlich hast Du Recht, nach 3000 Kilometern Flucht ist sie kein Kind mehr.

Ich gehe jetzt nach unten, Herr Malik. Machen Sie es gut und … vielen Dank.«
Und hier bleibe ich dann etwas ratlos sitzen und denke über Deine Geschichte nach. Warum hat sie ihn aufgesucht? Aber es war gut, das sie es getan hat. Und ja, mir gibt diese Geschichte Hoffnung, Hoffnung für die in uns steckende Menschlichkeit.

Liebe Grüße
witch

 

Salut @greenwitch,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Und was für ein langer Kommentar. Muss mich sammeln ... erst aufgewacht. Ja, das hat mich überrascht, dass du den Text als positiv siehst. Mit Hoffnung drin. Ist aber in Ordnung.

Anfang hab ich was geändert, bisschen kürzer, paar Wörter ersetzt. Falltür/Bodenluke ... Falltür kann ebenfalls in Boden oder Decke eingelassen sein, weil es sich auf die Funktion bezieht (zufallen). Luke allein steht für alle Örtlichkeiten (Boden, Decke, Wände) und wird dann mit dem Vorsatz versehen, je nachdem wo sie sich befindet. Hier im Süden sagen wir auch "ich geh mal hoch auf den Boden", aber auch "da ist ne Bodenluke" und meinen den Fußboden. Hm ...

Dies ist für mich die einzige Stelle, wo aus meiner Sicht noch Erklärung reduziert werden könnte, es war vorher klar und wird später noch verdeutlicht.
Ich meine das mit dem Kannibalismus.
Habsch noch was geändert.

Ja, warum hat sie ihn aufgesucht? Bleibt für mich nur die Neugier. Es gibt wohl Dinge, die muss man sich fragen, auch als Leser:in. Ich als Autor - kann ja nur von mir berichten - gehe durch die Gegend, knipse mit meiner geistigen Kamera ein Bild und schau es mir dann an. Man kann viel herausfinden zu einem Bild, aus den Details was zusammensetzen, aber alle Antworten wird es nicht geben. Es werden Fragen offen bleiben.

Die Hoffnung allerdings habe ich bewusst gesetzt, wenn auch nur als Staub, der schnell verweht.

Die Abgeklärtheit stammt von zwei jungen Frauen hier in Maikammer, aus Eritrea und Somalia. Sie sind durch die Sahara nach Libyen. Da schreib ich keine Details auf, aber Fatou zeigt Eigenschaften und Erlebnisse der beiden. Das berichteten die einfach so wie ich vom Einkauf berichte. Dazu wollte ich schon lange mal was schreiben, aber ich habe einfach keine Distanz zu dem Erzählten gefunden.

Also noch mal besten Dank.

Grüße in den Norden!

Morphin

 

Das Mädchen wird durchgeschüttelt von 3.000 Kilometer Flucht, Hunger, Durst und Tod.

Ja, da rollt etwas auf uns alle zu, was in Kriegszeiten zur Waffe werden kann, und was der Mittelmeerraum mehr als einmal erlebt hat, aber aus entgegensetzter Richtung, als zunächst Kimbern und Teutonen eine neue, sichere Heimat suchten und ein halbes Jahrtausend später aus Hunngarn immer wieder Lawinen besonders gotisch-sprechender Völkerschaften (wie etwa Burgunder und Wandalen) ins Römische Reich vorstießen und wie nebenbei rechts- wie linksrheinische Veränderung bewirkten.

Aber auch ganze Völkerschaften bestehen zunächst mal aus Einzelnen, von denen jeder für sich erst einmal klar kommen muss, wie hier „Malik“ und „Fatou“ und der kurze Abriss nach dem Sinn eines Gottes

»Denn auch die guten Menschen werden jetzt sterben. Das kann kein Gott wollen. Ich jedenfalls würde das nicht tun, als Göttin. Das wäre dumm. Erst mache ich die Welt und die Menschen und wenn einige Mist machen, bringe ich alle um … so ein Blödsinn.«
heißt mich, (meinen Lieblings-)Theoderich-Text zitieren
»Theoderich, überzeugter Arianer, denn was - so fragt sich ein Barbar! - nützt dem Menschen auf Erden die Auferstehung eines Gottessohnes, der kommen und gehen kann gleich einer Jahreszeit wie schon die alten Götter!
Denn käme von den Göttern einer zu Tode, hieße er nun Baldr, der Einfältige, oder Ziu, der Vielfältige - der Gläubige schnitzte einen neuen Gott oder bräche geschickt einen Ast mit sich gabelnden Zweigen, die wahlweise die Arme wie zum Gebet dem Himmel entgegen weiteten oder zum Gähnen streckten oder umgekehrt als Beine auf dem festen Boden der Wirklichkeit zu stehen vorgaukeln.
(https://www.wortkrieger.de/threads/raben-und-die-iden-des-märz’-1246-a-u-c.67335/)

Flusenlese

Es ist gut für heute, denkt er, dreht sich, zählt die Kisten, die er heute geimpft hatKOMMA und ist zufrieden.
Relativsatz zu Ende, das und setzt den Satz der Kistenzählung fort ...

Er beugt sich über die Brüstung und sieht nach hinunter.
Wie kommt „nach“ hinein?
Weg mit ihm!

Es ist ein alter Trawler, dem Malik nicht einen seiner Pilze als Passagier anvertrauen würde. Nicht für eine halbe Stunde.
Ist die Ellipse nicht mehr als eine Aussage!

Das Gewicht der Boote ist so immens, dass die Hände der Menschen alleine keine stabile Verbindung herstellen können, selbst so viele nicht.
An sich nix gegen das Adjektiv, aber allein schon wegen der Gefahr falscher Betonung beim Vor-Leser besser „außerordentlich“ - zB.

Und hier

Das erste Boot bewegt sich, zieht das zweite und dann das dritte der unter all den Körpern kaum sichtbaren Hoffnungen aus Gummi hinfort.
warum die Vorsilbe und somit ein „hinfort“ = „von nun an/künftig“ produzierend

Es wirkt schwach und etwas daran erinnert ihn an die vielen MaleKOMMA die er als Kind an die Tür seines Großvaters klopfte.
Du hast es mit schlichten Relativsätzen ...

Den Lauf der Flinte gen Tür, steht Malik auf und geht leise zur Anrichte.
Komma weg!

Sie schweigt und zittert. Kein anderes Geräusch ist zu hören, weder Stimmen noch ein Atmen.
Warum „Stimme“ im Plural bei nur einem Atem? Das ist doch die bürokratische Frage, ob ich „Kinder“ habe und wahrheitsgemäß mit „nein“ antworte, denn sonst müsst ich Enkel darunter zusammenfassen – ähnlich hier, da konnt ichs noch nicht ahnen, daddet kütt

»Haben Sie Kinder, Herr Malik?«
und hier
»Keine Kinder bekommen zu haben?«
(wobei ich frz. hinsichtlich der Kinderzahl-FRage nicht parat hab ...)

Fatou nickt eifrig, trägt den Kessel zurück und schiebt sich vorsichtig auf den zweiten Stuhl, als wolle sie mit der langsamen Bewegung seine Erlaubnis einholen.
Typische als-ob-Situation, also besser Konj. irrealis/potentialis „als wollte sie“ xy

Er tut soKOMMA als hätte er das nicht gehört, …

Kleine Finger, die drehend ineinandergreifen, aus Freude oder Verlegenheit.
Komma weg!, wenn Atempause angezeigt werden soll, besser Gedankenstrich

Malik ist sich sicher, dass sie mindestens schwaches Bauchweh hat und keine Lust die Frage zu beantworten.
Warum das Reflexivpronomen und somit die Klangwiederholung, „Malik ist sicher“ ist deutlich genug, wer da „sich“ sicher ist

»Ich will es gar nicht wissen«, winkt er ab und weiß nicht, was er tun oder sagen soll. Plötzlich kommt es ihm vorKOMMA als wäre es falsch, sie wegzulassen.

Sie dreht sich seitlich weg, legt den Kopf auf seinen Schoß und blickt ihn von unten an. Im Halbdunkel sind Boden, Kaftan und ihr ebenschwarzes Gesicht kaum zu unterscheiden.
Da fehlt was – mutmaßlich ein holz

Wie dem auch wird & bis bald

FRiedel

 

Salut @Friedrichard,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren/Korrigieren. Ich habe während des Änderns sogar noch zwei Dinge entdeckt (Vergangenheitsform), die mir selbst nach zehn Mal durchlesen nicht aufgefallen sind. :hmm:

*seufz*

Na ja, ich sollte nicht so viel in der Nacht schreiben, da sinkt die Konzentration doch erheblich. Und ja, dieser Tsunami baut sich auf. Noch hat er genug Meerestiefe unter sich und die Welle schaut nicht so schlimm aus, aber das Wasser zieht sich langsam vom Strand zurück. Er kommt.

Aber Fatou will ja auf eine der Inseln. Leider ...

Ich wünsche dir ein schönes Wochenende, trotz allem ...

Griasle
Morphin

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom