Fünf Minuten
Seine fünf Minuten hatte er. Der Applaus war vor zehn Jahren verklungen, doch das Echo blieb in seinem Kopf. Hätte er die fünf Minuten nicht gehabt – vielleicht hätte er ein zufriedenes Leben geführt. So aber blieb der Hunger nach mehr. Mehr Applaus. Mehr Konzerte. Mehr Fernsehinterviews. Mehr Geld. Nun war er 29 und innerlich völlig zerfressen. War das alles? Seit er vor zehn Jahren zum Superstar in einer Fernsehsendung gewählt wurde hatte sich sein Leben stark verändert. Er hatte damals seine Lehre abgebrochen und alles gegeben, daß er Karriere als Musiker machen würde. Doch schon einige Monate nach der letzten Sendung fing sein Traum zu zerbröseln an. Die geplante Tour wurde abgesagt, nachdem die Tickets einfach keine Käufer fanden. Das geplante Album erschien nicht, da der Plattenlabel in Konkurs ging. Einzig seine Single blieb als Zeuge seines Siegs. Die paar zehntausend Euro, die er mit seiner Musik verdiente, waren schon nach kurzer Zeit verbraucht. Aber er gab die Hoffnung auf den ganz großen Durchbruch jahrelang nicht auf. Dann starb seine Mutter an Brustkrebs. Sein Vater zerbrach. Er zerbrach.
Er liebte Rock'n'Roll der härteren Gangart. In seinem Kinderzimmer hingen Poster von Motörhead und Guns'n'Roses, auch von den Scorpions. Seine Familie lebte auf dem Dorf, die Schule war in der Nachbargemeinde. Sein Schulweg führte zwei Kilometer durch menschenleeres Ackerland. Hier sang er jeden Morgen die Stücke seiner Lieblingsbands. Später gründete er mit Schulfreunden eine AC/DC-Coverband. Nach der mittleren Reife begann er eine Lehre als Gitarrenbauer. Er meldete sich bei dieser bekannten Fernsehsendung an, er kam Runde um Runde weiter. Sein großen Widersacher besiegte er im Finale mit einer atemberaubenden Interpretation von Bob Dylans „Knockin on Heavens Door“. Die Auswertung – er schaffte es. Er war der neue Superstar. Sein Leben war Musik geworden.
Zehn Jahre vergingen, die Erinnerungen verblaßten. Das Leben schlug ihn. Sein Geist wurde krank. Die Welt war ach so ungerecht zu ihm. Hinter der Glastür regte sich etwas. Zwei Männer kamen und schlossen die Eingangstür auf. Er strich mit der Hand über den Pollover, vergewisserte sich, daß die Pistole noch an Ihrem Platz war. Die vierzehnte Staffel, die Finalsendung. Mit Liveübertragung. Er hatte einen Platz in der dritten Reihe. Dieser Schwarzhaarige vor ihm kam ihm irgendwie bekannt vor. Die Zuschauer strömten in den Sendesaal. Das Vorprogramm war schnell vorbei. Die Jury kam, er haßte diesen einen. Vor drei Wochen hatte er ihm geschrieben. Vor zwei Wochen hatte er versucht, ihn anzurufen. Letzte Woche hatte er ihn am Eingang zum Sender abgepaßt. Dieser Typ konnte sich überhaupt nicht mehr an ihn erinnern. Dabei war er doch damals Staffelsieger. Er wollte ihn doch nur um Hilfe bitten, sein neues Demo geben. Aber dieser arrogante Sack ließ ihn einfach stehen.
Die heiße Phase des Finales begann. Unruhig überprüfte er nochmal, ob die Pistole noch da war. Die Finalisten waren durch, die Stimmauszählung begann. Er machte sich bereit. Das Arschloch würde gleich auf die Bühne gehen und den Sieger ausrufen. Der Spot erhellte die Tür. Jede Sekunde war es soweit. Jetzt ging sie auf, Arschloch kam auf die Bühne. Ein Schuß fiel. Noch einer. Tumult. In der fünften Reihe links hinter ihm streckten Wachmänner diesen schwarzhaarigen nieder, den er schon am Eingang gesehen hatte.
„Die Nachrichten: Heute wurde in der vierzehnten Staffel von Superstar auf den Juror geschossen. Der Täter war ein Geisteskranker, der vor zehn Jahren zweiter in der Sendung wurde.“