Faszination: Krawattenträger
Faszination: Krawattenträger
Der kleine Barhocker ist unbequem, außerdem wackelt er. Aufzustehen, um ein Stück Papier darunter zu schieben, traue ich mich nicht – es könnte zu viel Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Also beobachte ich, ohne mich zu bewegen: Menschenmassen in dunklen Anzügen laufen geschäftig von A nach B und dann rüber zu C, immer mit einem Smartphone in der Hand oder am Ohr. Die richtig Coolen haben, mit Hilfe eines Bluetooth Ohrstöpsels, das Handy in der Hand und können so reden und tippen gleichzeitig.
Zwei Mal im Jahr bin ich hier, die Firma muss repräsentiert werden – Zeit um neue Kontakte zu knüpfen. Das bedeutet, alle sechs Monate werden die Vertreter der deutschen Energiebranche in eine große Halle gesperrt. Dann bekommt jeder seine passende Unterkunft für die nächsten drei Tage. Jede Zelle ist ca. 20qm groß und auf zwei, der vier Seiten, mit Pappwänden geschlossen. Wenn alle an ihrem Platz sind, werden die paar Quadratmeter mit Werbegeschenken und Anschauungsmaterial zugemüllt. In die Mitte wird der verängstigte Vertreter auf einen Stuhl gesetzt, der sich nun anglotzen lassen darf, wie in eine Freakshow im 19ten Jahrhundert. Heute, am zweiten Tag, sind die meisten von uns schon gebrochen. Sie sitzen verängstigt herum und beobachten die Menschen mit den bunten Krawatten. Die meisten Arrestanten beobachten das Geschehen aus einem selbstgebauten Fort aus Werbematerial.
Am Stand nebenan ist es soweit - Showtime: Ein dicklicher Krawattenträger hat sich auf den quietschenden Parkettboden getraut. Der Vertreter von hochmodernen Gasmessgeräten versteckt sich tief in seinen Unterschlupf. Ich sehe nur noch eine Ecke seines dunkelblauen Anzugs. Der dickliche Mann mit der hellblauen Krawatte und dem grauen Anzug putzt sich die Nase. Er wird schon leicht rot im Gesicht, vielleicht merkt er noch, was er angerichtet hat. Der Kragen des Hemdes klemmt den Hals ein und sein Kopf sieht aus wie ein riesiger rosa Ballon auf einem grauen Körper. Er betrachtet den kleinen Stand genauer, seine Glatze spiegelt mittlerweile das Neonlicht. Man vernimmt ein leises Rascheln aus dem Werbematerial-Fort. Der Vertreter gewinnt an Selbstvertrauen und lugt vorsichtig aus seinem Versteck.
Die rosa Glatze hat ihn bemerkt, sein Kopf verfärbt sich zu einem tiefen Pink. Er tupft sich mit einem Einstecktuch die Platte trocken. Jetzt müssen sie sich einigen was zu tun ist: Angreifen oder abwarten und ziehen lassen. Übersetzt: Entweder überrumpeln und mit Fragen bombardieren oder in einen Anstarr-Contest (inklusive peinlicher Stille) verwickeln.
Ich starre wie gebannt auf die beiden Kontrahenten. Die Spannung ist kaum auszuhalten. Ich rutsche auf meinem winzigen Hocker hin und her. Der Stuhl wackelt lautstark. Die Schnipsel, die mal mein Wasserflaschenetikett waren, fallen nach unten, wie das fallende Tuch zu Beginn eines Autorennen. Auf dieses Kommando hin schleichen die Kontrahenten los, beide halten ihren Kopf nach unten. Sie wollen um jeden Preis Blickkontakt vermeiden. Der Vertreter stellt sich zum ersten Mal in eine aufrechte Position – also soweit aufrecht, wie es seine gebückte Grund-Körperhaltung zulässt. Er hat noch Reste des Mittagsessens im Gesicht. Er scheint nicht gut vorbereitet auf diese Situation zu sein. Die dreckige Schnute geht rechts herum los, zum kleinen Bartisch und schüttet sich etwas Wasser ein. Er zittert so sehr, dass ein paar Tropfen auf dem Tisch landen. Die makellose Illusion ist zerstört. Im Affekt wischt er mit seinem Jackettärmel darüber. Nun muss er den Ärmel verstecken, in dem er seine Arme hinter dem Rücken kreuzt. Selbst von meinen Platz aus, mit sicherem Abstand, sehe ich ein paar Schweißtropen in seine Bartstoppeln laufen. Die pinke Glatze kämpft sich derweil weiter durch das Dickicht von Werbekatalogen und Anschauungsmaterial. Zu seiner rechten Seite stehen mehrere Werbebanner, welche die wunderbaren Eigenschaften von Gas anpreisen und wie schnell eine Reinheitsbewertung möglich ist, zu seiner linken stehen Kartons mit Prospekten, Broschüren und Zeitungen. Diese Berge von bedrucktem Papier muss er erst überwinden, bevor er sich zum Tisch vorarbeiten kann. Er pirscht sich langsam näher an den Tisch heran, aber er muss immer noch einige Hindernisse überwinden.
OH NEIN! Jetzt liegt die pinke Glatze am Boden, ein Messeaufsteller hat ihn zu Fall gebracht. Jetzt bleibt ihm nichts anderes übrig, als hochzuschauen. Anscheinend ist er vor dem Metallfuß des Aufstellers gelaufen. Da kriegt man ja Phantomschmerzen! Er murmelt irgendwas, ich gehe davon aus, dass es Schimpfwörter sind. DA! Er guckt hoch, er hat Kontakt aufgenommen. Von diesem Moment an ist ein Gespräch unausweichlich, sie müssen mindestens einen kurzen Smalltalk halten.
Durch den Krach mit dem Aufsteller versammeln sich einige Besucher um den Stand und schauen bei diesem faszinierenden Schauspiel zu – wie eine Fütterung im Zoo. Dabei haben beide Protagonisten ihre neu gewonnene Berühmtheit noch nicht bemerkt.
Die pinke Glatze schwitzt unaufhörlich weiter, es lassen sich deutliche Schweißränder erkennen. Die Knopfleiste seines Hemdes erkennt man nicht mehr als weiß, mittlerweile scheint sich eher seiner Hautfarbe anzunähern. Der Sturz hindert ihn nicht am weitermachen. Er rappelt sich wieder auf und setzt sich in Bewegung. Er humpelt ein wenig, ansonsten scheint er keine weiteren Verletzungen davon getragen zu haben. Die pinke Glatze ist nun ganz fixiert auf sein Opfer. Er hält seinen Kopf höher und die Schultern sind weiter zurück. Die dreckige Schnute ist verloren, sie ist die Maus und pinke Glatze ist die Schlange. Betäubt vor Angst steht er angewurzelt da und gräbt seine Finger in die Holzmaserung des Tisches. Er verfolgt den näher kommenden Räuber genaustens. Seine Knöchel werden immer weißer, aber er bleibt stark.
Die übrigen Türme von Prospekten und Broschüre, sowie einen Pappaufsteller, umschweift er graziös. In kürzester Zeit ist die pinke Glatze am Tisch angelangt. Prompt fängt auch er an den Tisch zu betasten. Langsam wandern seine Hände von der Tischkante zum akkurat angerichteten Wasser in der Mitte. Er gießt sich, noch etwas zitternd, ein bisschen Wasser ein und befeuchtet seine Kehle. Er ist nun der König am Wasserloch. Triumphierend hebt er den Kopf und beginnt sofort mit dem Smalltalk.
Leider verstehe ich nicht viel, außer Allgemeinplätze wie: „Oh, das ist aber höchst interessant“ und „Dann wird Sie dieses Produkt auch interessieren.“ Dazwischen ist immer wieder ein Gemurmel. „HAHAHA ach, das kenn' ich aus meiner alten Firma, aber 2003 hab ich mich Selbständig gemacht.“ Danach nichts mehr – peinliche Stille. Sie starren sich an, beide Lächeln betreten. Da ist der Anstarr-Contest.
Da passiert es! Die nicht mehr ganz so pinke Glatze hat geblinzelt. Die Fütterung ist beendet. Er sucht flink etwas in seiner Jackett Innentasche. Sie ist nass von innen, das graue Futter ist ganz schwarz. Er holt ein ledernes Etui heraus und zückt SIE – Seine Visitenkarte! Die dreckige Schnute hat es geschafft, er hat ihn niedergerungen und hat nun den Gral!
Sie verabschieden sich mit dem wahrscheinlich feuchtesten Händedruck auf dem Erdenrund. Sie lächeln verlegen, wie zwei Verliebte nach einem Date. Die rosa Glatze dreht sich beim gehen sogar noch mal um, er schaut der dreckigen Schnute direkt in die Augen. Danach wirft er lässig sein Jackett über die Schulter und verschwindet.
Die dreckige Schnute reißt sich augenblicklich sein durchnässtes Jackett vom Leib und beginnt auf der Stelle an zu tanzen. Er dreht sogar eine Siegerrunde um seine eine Achse. Was für ein Erfolg. Ich applaudiere leise und lächele in mich hinein.
Die anderen Vertreter wittern die Visitenkarte. Sie nähern sich aus allen Himmelsrichtungen der benachbarten Zelle an. von allen Seiten. Bevor seine Beute vor den anderen Raubtieren verteidigen muss, bleiben ihm nur noch einige Augenblicke in denen er sich freuen kann.