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Federico

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04.10.2018
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Federico

Federico war ein wilder, hübscher Junge, dreizehn, vielleicht vierzehn Jahre alt damals. Für ein paar Tage war er zu Besuch bei uns in Deutschland. Braune Locken, schlank. Man merkte sofort, dass etwas los war mit diesem Jungen. Er hatte einen unsteten Blick. Seine Augen waren immer unterwegs. Er interessiert sich halt für alles um ihn herum, dachten wir. Ständig fragte er uns irgendwas. Es war anstrengend, erinnere ich mich. Nicht zu bändigen, ein wilder Junge halt. Immer wieder war er verschwunden. Dann war er allein unterwegs und stöberte durch die schmutzigen Ecken. Wo niemand wohnt, aber Zeug rumsteht. Den Keller, die Putzkammer, den Geräteschuppen, die Werkstatt. Als hätte er den fünfjährigen Jungen, der er mal gewesen ist, in sich eingesperrt und dieser poltert nun mit dem großen Körper durch eine Welt auf der Suche nach irgendwelchen im Dunklen verborgenen Geheimnissen. Doch dabei war er nicht albern oder kindisch. Er sprach nicht mit irgendwelchen imaginären Freunden oder Feinden. Es war kein Spiel, bei dem er ertappt wurde. Ach, hier bist du, was machst du denn da? Keine Antwort. Die Augen wandern, bleiben irgendwo kurz hängen, er fragt etwas, wir antworten und weiter geht es.

Nach ein paar Tagen fuhr er wieder zurück nach Rom zu seinen Eltern und seinen beiden jüngeren Brüdern. Meine Mutter, die ihn die ganze Zeit an der Backe hatte, atmete durch.

Ich war damals Student, wohnte aber in der Nähe, selber noch im Werden. Ich interessierte mich nicht die Bohne für irgendwelche weit entfernten Verwandtenbesuche. Für pubertäre Jungs schon gar nicht. Doch irgendetwas Eindrückliches hatte diese kurze Begegnung. Federico, ja, was aus dem wohl mal wird? Auch wenn ich mehr mit der Frage beschäftigt war, was aus mir wohl mal wird, weiß ich noch, dass ich mir vornahm, mich zu erinnern an diesen Besuch in, sagen wir mal, zehn Jahren.

Es vergingen ungefähr zwei Jahre, in denen ich keinen Gedanken an Federico und seinen kurzen Besuch bei uns verschwendet hatte. Keinen Gedanken. Doch dann erzählte meine Mutter mir von diesem schrecklichen Unfall.

Erinnerst du dich noch an Federico?
Klar! Was ist mit ihm?

Die Familie war irgendwo im Urlaub am Meer und Federico ist von einer Klippe gefallen. Man fand ihn abends nach einer langen Suche mit zerschmetterten Gliedern auf einem Felsvorsprung. Der arme Junge muss beim Klettern abgestürzt sein. Er liegt mit allerhand Knochenbrüchen für viele Wochen in Gips.

Ja, das war ein wilder Typ, gerne allein unterwegs, irgendwie furchtlos. Hoffentlich kommt er wieder auf die Beine, hoffentlich ist er nicht entstellt oder auf ewig ein Krüppel. Bei dem Bewegungsdrang! Dieser interessante, hübsche Junge. Welch ein Drama.

Ich hatte seine Mutter nur für Minuten kennengelernt, als sie ihn damals zu uns brachte für die paar Tage, den italienischen Vater hatte ich nie gesehen. Ich weiß nicht, was sie damals dachten bei Federicos Sturz von der Klippe. Ob sie eine Ahnung hatten, Befürchtungen, Angst. Angst um sich, um die Brüder. Sicher hatten sie Angst um Federico. Er war sowas wie ein Sorgenkind.

Die Eltern machen mit ihm schon seit Längerem gemeinsam eine Therapie.
Aha. Ja, das kann ich mir vorstellen, der ist nicht einfach für Eltern.

Und jetzt dieser üble Unfall, dachte ich mir. Vielleicht bringt ihn das zur Räson. Egal wie wild man ist, man wird ja schon vernünftiger mit der Zeit, mancher muss halt sehr hart fühlen, bevor er hört.

Es verging ein Jahr bis zu dem Tag, der eine ganze Familie im fernen Rom zerstörte. Eine Erschütterung, so stark, dass sie Raum und Zeit überwindet und fortan das dunkle Hintergrundleuchten meines Denkens ausmacht. Der Abgrund ist so tief, so finster, so alt und so weit entfernt von mir. Und dennoch. Es ist geschehen. Es ist tatsächlich geschehen am äußersten Rand meiner Welt.

Federico war mit seinen Eltern und den beiden Brüdern zu Hause. Es muss ein herrschaftliches Stadthaus mitten in Rom gewesen sein. Er kam irgendwie an die Pistole seines Vaters und hat auf ihn geschossen bis er tot war. Seine Mutter verfolgte ihn auf die Dachterrasse, wohl um ihn davon abzubringen, sich selbst zu töten. Sie redete auf ihn ein. Er schoss auch auf sie. Sie redete weiter auf ihn ein. Als die Polizei eintraf, war sie verblutet. Tötet mich! Bitte, tötet mich! hat er ihnen zugerufen, als sie ihn überwältigten.

Die beiden Brüder kamen zu den Großeltern. In der Psychiatrie habe er mehrere Male versucht, sich selbst umzubringen, erfuhr ich. Allein in seiner Zelle ohne Schnürsenkel und Stifte. Es gibt nicht mal Plastikknöpfe, weil man die schärfen könnte.

Es verging wieder etwa ein Jahr, bis ich hörte, dass er es geschafft hat. Er hat sich für eine Sekunde losreißen können von den Wärtern und ist durch ein Fenster in den Tod gesprungen. Er muss etwa 18 Jahre alt gewesen sein.

Wenn ich an Federico denke, denke ich an den Jungen auf der Klippe, der wusste, was passieren wird. Er wusste es und wollte es verhindern. Federico ist nicht abgestürzt, denke ich bei mir. Er hielt den Dämon fest umklammert und ist gesprungen. Als er wieder zu sich kam in seiner menschlichen Hülle voller Schmerzen, hat der ihn verspottet. Wochen lang im Krankenhaus unter der Fürsorge der Ärzte und den sorgenvollen und liebenden Augen seiner Familie liegt er da und ringt mit der Düsternis in ihm. Der Schmerz ist nichts als die Strafe für seinen Frevel, an der Macht zu zweifeln, die in ihm kauert. Dein Körper gehört mir, sagt der Dämon und blickt herab auf den Jungen.

Ich denke an den jungen Menschen und die Ausmaße seiner Einsamkeit. Schon immer war Federico allein. Er war nie bei den Menschen um ihn herum. Aber er wusste, dass dies die eigentliche Welt ist, die Welt der Menschen und all der Dinge, die sie tun und der Dinge, die sie empfinden. Die Welt, die ihn eingeladen hat. Komm zu uns! Doch es geht nicht, er kann nicht. Er hat keine Beine zum Gehen. Ein Fehler, eine seltene Laune der Natur.

Jetzt ist er allein in der Zelle. All die wachen Nächte, wenn sein matter Körper von Müdigkeit übermannt kurz dem Schlaf nachgibt und er sofort wieder aus finsteren Träumen, die voller Entsetzen und Furcht sind, erwacht, nur um in eine noch finsterere Kälte zu tauchen. Ich denke an seine wachen Tage mit Sonnenlicht und Geräuschen einer Welt, die unendlich weit weg ist von ihm. Die Ärzte, die sich mit ihm beschäftigen, ihn studieren, die Wärter, sie stammen aus dieser Welt. Ich denke an einen nackten Körper, allein in totaler Finsternis und Kälte. Keine Decke, kein Feuer, keine Sonne kann diesen Körper jemals wärmen.

Eine Weile noch büßen muss er, eine Weile noch. Federico hat all das getan, er hat zwei Menschen, seine Eltern, umgebracht und damit das Leben seiner Brüder und Großeltern zerstört. Er hat nichts als Leid und Verzweiflung zurückgelassen. Wer soll ihn trösten? Bei wem sollte er Trost suchen? Da ist niemand, kein Mensch und kein Gott. Nur er selbst, ein weiterer Mensch, dem er Gewalt antun muss, um all dem ein Ende zu bereiten.

Federico, der Entdecker, der Junge mit dem großen Bewegungsdrang, der Junge ohne Beine, der Junge mit den unsteten Augen, er hatte den Mut gehabt. Damals am Meer, als er alleine davon ging zu der Klippe um sich hinunter zu stürzen. Er hatte den Mut, alles zu verhindern und seine Eltern, seine Brüder, sich selbst zu retten. Er hätte alle mit dem schrecklichen Verlust und vielleicht auch mit Zweifel zurückgelassen.

Federico! Es war nur nicht tief genug! Nicht tief genug. Das ist alles.

 

Hallo @Prof. Dr. Tobias ,

da sind noch ganz schön viele Leerzeilen in deinem Text. Magst du ein bisschen aufräumen? Sieht doch direkt einladender aus, für potentielle Leser :)

Liebe Grüße,
Nichtgeburtstagskind

 

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