Was ist neu

fegen

Mitglied
Beitritt
08.03.2006
Beiträge
42
Zuletzt bearbeitet:

fegen

Fegen

Kubaner sind unpünktlich, sagt man. Aber eigentlich stimmt das so nicht, denn wenn man keine Uhr hat und man niemanden nach der Zeit fragen kann, kann man auch nicht pünktlich sein. In Kuba hat niemand eine Uhr, weil man Angst hat, dass sie gestohlen wird, und die wenigen öffentlichen Uhren, die es gibt, sind verstellt. Und kommt man zum Beispiel auf dem Bahnhof an, weiss man nie, wie spät der Zug abfahren wird.
Ich habe auf dem Bahnhof von La Habana sogar schon mal die Frage: "Wie spät kommt der Zug von 20 Uhr an?" gehört. Haben alle Züge wegen des Fehlens von Uhren Verspätung? Oder ist es vielmehr so, dass man keine Uhr braucht und die Zeit gar nicht genau wissen muss, weil der Zug ja doch nicht pünktlich kommt?
So oder so ist für die Kubaner das Warten nicht weiter schlimm und eine Beschäftigung an sich. Wenn sie dann hierherkommen, lernen sie, dass wir Europäer Pünktlichkeit schätzen, aber das Warten liegt ihnen ja so im Blut:
Ein kubanischer Freund kam mich besuchen. Eineinhalb Stunden bevor sein Zug ging, zog er seine Jacke an und wollte sich auf den Weg machen. Ich sagte ihm: "Du brauchst höchstens eine Viertelstunde bis zum Bahnhof, was machst du denn dann die ganze Zeit?"-"Ich warte auf den Zug!"
Kommt der Europäer hingegen nach Kuba, muss er sich erst mal an das Warten gewöhnen. Und mit Warten meine ich: Keine Zeitung, kein Buch, kein Fernsehen, keine Musik ... und so wartete ich auf meinen Zug. Da ich wirklich nichts zu tun hatte, observierte ich die Putzfrau beim Fegen der Bahnhofshalle. Die Halle war nach einer Seite zu den Zügen hin offen. Gegenüber war die Eingangsseite. Die Putzfrau begann an der Zugseite parallel zu dieser Seite zu fegen und arbeitete sich, kreuzend wie ein Pflug, in Richtung Eingangsseite.
Beim Fegen fiel ihr links vom Besen der Staub wieder herab, und so entstand in der Bahnhofshalle ein hübsches Muster, wie auf einem kleinen Acker.
War sie einmal bei den Eingangstüren angelangt, fegte sie ein bisschen Besenreststaub nach draussen, schulterte den Besen, lief zurück und fing noch mal von vorne an. Das Muster auf dem Boden wurde stets wieder von den Passanten zerstört, jedoch fegte die Frau unermüdlich weiter. Nach drei Stunden konnte ich endlich abreisen, ich sah sie noch aus dem fahrenden Zug fegen und dachte mir noch: Sicher hat sie einen strengen Vorgesetzten, der ihr genau vorgeschrieben hat, wie sie fegen muss. Oder sie hat Angst um ihren Arbeitsplatz, und macht sich auf diese Art und Weise unersetzlich. Oder es macht ihr einfach genauso wenig aus, den ganzen Tag zu fegen, wie den Kubanern das Warten etwas ausmacht.

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Leser, obiger Text ist eine Betrachtung, verpackt in eine kleine humorvolle Geschichte. Er hätte auch in einer anderen Rubrik stehen können als in Humor, z.b. Philosophisches, oder vielleicht auch Seltsam. Aber dann hätten eben andere Leser gefunden, dass der Text dort nicht hingehört.

 

Fehlerfrei genug, um vom Korrektur-Center wieder nach Humor geschubst zu werden.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom