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Hallo zusammen,
das ist die überarbeitete Version von Deep Fears. Heißt nun anders. Danke Katla.
Danke auch an alle weitere Kommentare, die ich versucht habe bestmöglich zu beherzigen und meinen Wünschen anzupassen. Ich denke es ist nun viel besser, noch lange nicht hervorragend oder so, aber ihr wisst ja, "small steps".. und so.Grüße
Fließende Schatten
Eine Stadt, die auf keiner Karte einen Namen hatte.
Tim erwachte schwerfällig, sein Geist folgte träge. Seine Augenlider klebten aneinander, der Blick trüb und grau. Die Welt war zur Seite gekippt. Er leckte zögerlich über seine rissigen Lippen und schmeckte etwas Metallisches. Er roch alte Erde, Beton und Rost und irgendwo in der Ferne rauschten Bäume leise im Wind. Tim bewegte vorsichtig seinen Kopf zur Seite, versuchte ihn dann zu heben, doch sein Nacken gab kreischend nach. Er ließ den Schmerz abebben, bevor er es nach wenigen Sekunden noch mal versuchte. Diesmal mit mehr Erfolg. Er befand sich anscheinend in einem winzigen Raum, etwa zwei Schritte breit und drei lang. Durch ein verdrecktes Fenster an der mintgrün abblätternden Wand fiel fahles Licht ein. Der Staub, der in der Luft hing, schimmerte eigenartig grün im Mondlicht und war dermaßen dicht, dass Tim zunächst dachte, es wäre Nebel. Er riss die Augen unwillkürlich auf, als er ein trübes Glas auf der Fensterbank sah. Er musste reflexartig schlucken. Dumpfer Schmerz pochte tief in seinem Rachen. Auf einem Tisch unter dem Fenster lagen sieben benutzte Spritzen, Einmalhandschuhe aus weißem Silikon und ein langer Gummischlauch, der überzogen war von einer trockenen, bräunlich glänzenden Schicht. Nur die Kacheln auf dem Boden schimmerten noch dunkler, schwarz wie Onyx.
Tim kannte Orte wie diesen. Das Ereignis war nur noch ein lückenhafter Nachklang, aber er konnte sich genau an das Zimmer erinnern, in dem er danach erwachte. In dem einzigen Krankenhaus in dem kleinen abgelegenen Nest, in dem er mit seinen Eltern lebte. Allerdings säuselte der Wind damals nicht durch leere Fenster, wie es heute der Fall war. Tim blickte an sich hinunter. Ihm wurde schlagartig kalt. Ein Beben kroch langsam seine Wirbelsäule hinauf. Er war durch Lederriemen über Brust und Oberschenkel auf eine Liege niedergezurrt, die nur aus Rahmen und Gitter zu bestehen schien. Ketten aus verwittertem Stahl umklammerten seine Hände und Füße. Wessen Blut daran klebte, konnte Tim nicht sagen. Der Ledergurt um seinen Hals kratzte fürchterlich und erlaubte nur minimale Kopfbewegungen. Klebriger Schweiß lief ihm die Schläfen hinunter.
Das Letzte voran er sich erinnern konnte, war die Waldhütte neben dem Spielplatz, wo er jeden Sonntag mit seinen Freunden verbrachte. Er schloss die Augen und durchsuchte seine Erinnerungen nach weiteren Einzelheiten. Er sah nur einen schwarzen Hut hinter einer Hecke. Ähnlich dem Lieblingshut seiner Mutter. Übelkeit überkam ihn wie eine Lawine. Er drehte den Kopf zur Seite und erbrach klebrigen grünen Schleim. Angewidert wandte er den Blick ab.
Der staubige Nebelschleier hatte sich mittlerweile gelegt, sodass Tim mehr von seiner düsteren Umgebung wahrnehmen konnte. Er reckte den Kopf, obwohl er eigentlich überhaupt nicht wissen wollte, was dort in der Dunkelheit lauerte. „Den Ping senden“, hatte sein Vater es genannt. Warum musste er ausgerechnet jetzt an seinen Vater denken, fragte sich Tim, aber es kam unwillkürlich und unaufhaltsam.
Er erinnerte sich wie sehr er sie genoss, die sonnigen Tage auf der Jagd mit Vati, wie Tim ihn nannte. Wie alle Kinder im Dorf ihn nannten. Tim war noch sehr jung, aber Vati sagte immer, man kann nicht früh genug anfangen. Ein Mann alter Traditionen und Werte. Er war im Krieg groß geworden und hatte gelernt, dass man nie vorsichtig genug sein konnte. Vatis oberste Priorität war, seinen Sohn für die Heimtücken der Welt zu wappnen. Also brachte er Tim bei falsche Fährten und Fallen zu legen, Spuren zu lesen, Tiere zu erlegen, zu häuten und alles Weitere, was zur Jagd gehörte. Und auch das Pingen. Vati war von Geburt an blind und wurde von einem Meister trainiert, mit seinen Ohren zu sehen. Vögel stürmten von ihren Ästen und Getier floh ins Unterholz, wenn Vati einen Ping sendete. Dabei schnalzte er mit der Zunge und der resultierende markerschütternde Knall war das Ergebnis endloser Jahre harten Trainings. Es klang wie zwei Holzscheitel, die mit unmenschlicher Kraft gegeneinander geschlagen wurden. Der Ping hallte wieder an Wänden, Bäumen und allem, was den Schall reflektieren konnte. Vati konnte dadurch die Umgebung in seinem Geist zeichnen, jedes Objekt einzeln, in Sekundenschnelle. Er konnte sogar Dinge erkennen, die verdeckt oder versteckt waren, nicht sichtbar für das sehende Auge normaler Menschen. Vati sah alles, dachte Tim immer. Diese Fähigkeit brachte er schließlich auch seinem Sohn bei. Sonst redete Tims Vater nie über seine Vergangenheit. Er sagte immer, dass sein Leben erst begann, als er in dieses Land kam.
Tim versuchte einen Ping zu senden, doch stattdessen peitschte ein Schmerz durch seinen Rachen, als ob er Reißzwecken schlucken würde. Schlagartig badete er ihn seinem eigenen Schweiß, während er gleichzeitig mit der Ohnmacht tanzte. Woher der Schmerz kam, konnte Tim nicht sagen, er war nur froh, dass er so schnell abebbte, wie er gekommen war. Übrig blieb nur ein Pulsieren tief im Hals, wie ein Tier im Dunkel lauernd. Tim atmete langsam ein und noch langsamer aus, zitternd. Was zunächst aussah wie eine Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Fensters, stellte sich nun bei genauerem Blick als ein Paravent heraus, wie er üblicherweise in Krankenhäusern zur Unterteilung von Räumen verwendet wurde. Tim war von drei Seiten umgeben von diesen abgewetzten Trennwänden. Drei Stück, die im rechten Winkel zueinander aufgestellt wurden, wie bei einem U. Da sie aber nicht miteinander verbunden waren, konnte Tim durch die Lücken dazwischen tiefer in den Raum blicken. Etwa einen Meter dahinter konnte Tim ein rostiges Bett erkennen, auf dem eine Person lag, regungslos und gefesselt. Sie hatte etwa die gleiche Größe und Statur wie Tim selbst, war aber im Gegenteil zu ihm komplett in einen makellosen weißen Latexanzug gehüllt. Es erinnerte ihn an ein Bild in seinem Kinderbuch, ein Kokon einer Raupe. Er versuchte, seinen Kopf etwas höher zu heben. Doch der Riemen um seinen Hals erlaubte nicht viel Spielraum. Sein Blick flog durch den Raum, der weitaus größer war, als er zunächst angenommen hatte. Unzählige Reihen voller Liegen und auf jeder einzelnen lag ein Körper, keiner größer als Tim. Und alle komplett eingehüllt in weißen Latex.
Tim hörte ein Rascheln. Er starrte in die Dunkelheit. Stille. Dann ein weiteres Geräusch, diesmal näher. Die Wesen auf den Liegen rührten sich. Plötzlich schoss ein Kopf in die Höhe, gefolgt von einem schrillen Klirren, bevor der Halsriemen ihn brutal wieder zurückriss. Eine Reihe davor schnellte ein weiterer Kopf hoch. Dasselbe Peitschen. Dasselbe Aufprallen auf der Eisenstange an der Bettkante. Nach und nach erwachten alle Latexanzüge zum Leben. Tim zerrte hastig an den Fesseln, obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Er wollte weinen, schreien, beißen, kratzen, irgendetwas. Einen Herzschlag später spannten sich alle Muskeln in seinem Körper wie Seilwinden, als ihm bewusst wurde, was gerade passierte. Die Anzüge waren komplett verschlossen, kein Kopf war frei, kein Loch über Mund oder Nase, kein Reißverschluss. Tim wusste, er würde nun dem Tod beim Verrichten seines grausamen Werkes zuschauen müssen. Er konnte sogar den genauen Moment erkennen, in welchem den Kreaturen in den Anzügen bewusst wurde, dass sie elendig ersticken würden. Kurz darauf begann ein groteskes Spiel aus Beißen, Kratzen, Hecheln, Keuchen. Und doch waren keinerlei Schreie zu hören. Manche versuchten die Fesseln zu zerstören, rüttelten daran wie im Wahn, konnten aber ihre Ausweglosigkeit nicht erkennen. Andere brachten ihre Liege zum schwanken, bis sie umkippten und auf den harten Kacheln aufschlugen. Das scharfe Knirschen brechender Kieferknochen, das Splittern von Zähnen, gefolgt von dem Röcheln, das vom eigenen Blut kam, als die Latexmaske sich füllte, war unerträglich. Glücklich waren diejenigen, die beim Aufprall etwas Scharfes oder Spitzes erwischten. Sie starben vergleichsweise schnell. Tim merkte in dem Moment, wie sehr seine Muskeln vor Anspannung brannten. Stahl schmetterte plötzlich auf Stahl, übertönte alles mit einem eisigen Klang, der durch jeden Hohlraum seines Körpers hallte. Die Kreaturen erstarrten. Er nahm den tiefsten Atemzug seines jungen Lebens, bevor er die Luft anhielt und die Augen schloss.
In seinem Geist hallte es weiter, den Knall der Türverriegelung nutzte er für den Ping. Vor seinem geistigen Auge nahm die Umgebung immer mehr Gestalt an. Das Bild fügte sich zusammen, Stück für Stück, in Sekundenschnelle. Er sah nun die tatsächliche Größe der Halle, den Kampf zahlloser Kreaturen, den Gang am Ende, den winzigen Lüftungsschacht dahinter. Wie von etwas fremden bestimmt, lenkte sich sein Fokus auf die nähere Umgebung, auf den fehlenden Sicherungsstift am Bolzen der rechten Handfessel. Mit bloßem Auge nicht zu erkennen.
„Was?“, stutzte Tim gedanklich. Kurz fragte er sich, wer das so gelassen hatte und vor allem warum. „Jemand wollte, dass ich fliehe“, schoss ihm durch den Kopf.
Aber diese Gedanken musste er für den Moment beiseite schupsen. Die Zeit drängte, Tim konnte nun Schritte hören, die stetig näher kamen. Dessen heller Klang bohrte sich in sein Trommelfell. Er riss sich los, erst der eine Arm, dann der andere. Danach der Halsriemen. Dabei fuhren seine Finger über einen Verband um seinen Hals.
„Keine Zeit!“, dachte er und öffnete die restlichen Fesseln.
Er sprang von der Liege, doch die Muskeln in seinen Beinen versagten in dem Moment, in dem sie den Boden berührten. Er fiel zusammen wie ein nasses Handtuch. Ein weiterer glühender Schmerz fuhr durch seinen Körper, aber er durfte jetzt keinen Laut von sich geben. Er konnte keine Schritte mehr hören, dafür ein langes Quietschen rostigen Stahls. Ein Tor wurde geöffnet. Der Feind stand nun auf der Türschwelle. Tim zog sich mit den Armen über den Boden, seine Beine waren totes Gewicht, dass er hinter sich her zog. Aber zumindest spürte er sie noch, darüber war er erleichtert. Dann sah er eine Nische im Schatten einer Ecke, da würde er sich verstecken können. Der Ausgang befand sich in derselben Richtung. Er konnte hören, dass die Trennwände, die sein Bett umschlossen, gerückt wurden. Tim verschmolz mit dem Schatten, als er zum zweiten Mal an seinen Vater denken musste.
Tims Vater war ein jähzorniger Mann voller unterdrückter Wut und unerfüllter Träume. Eine gefährliche Mischung, die er an seiner Familie ausließ. Unzählige Lektionen, die Tim nie vergessen würde. Er lernte die Launen seines Herrn Vaters, wie er dann genannt werden musste, zu erkennen und sich entsprechend zu benehmen, sich anzupassen. In diesen Phasen existierte er als Geist, eine Art Hülle ohne Masse oder Bestimmung. Dadurch lernte er mit den Schatten zu verschmelzen, sich unbemerkt durchs Haus zu stehlen.
Diese Fähigkeit würde ihm heute vielleicht das Leben retten. Er war nun unter seinesgleichen, im Schutz der Dunkelheit. Er begann langsam seine Beine zu strecken und wieder zusammenzuziehen, bis der Sand in den Gelenken verrieben war. Sein Verstand war nun messerscharf, der Nebel in seinem Kopf hatte sich gelichtet. Er fühlte noch mal den feuchten Verband um seinen Hals. Das hatte oberste Priorität, wenn er erst mal in Sicherheit war. Blitzschnell floss er durch die Schatten von einer Ecke zu nächsten, von einem Versteck zum anderen. Bis er an einem Flur ankam, an dem seine Ping-Kartographie endete. Tim atmete ruhig, starrte an die Wand wenige Meter vor ihm. Tim zuckte zusammen, als ein kurzer dumpfer Knall durch den Raum schoss, sein Verfolger schien etwas Massives umgeworfen zu haben. Er beschleunigte seinen Gang, er suchte nach Tim. Liegen wurden umgeworfen, Gegenstände zur Seite getreten. Sein Verfolger wurde ungeduldig, das war Tims Moment. Mit dem nächsten lauten Geräusch würde er seinen Ping tarnen können. Es kam schneller als gedacht. Er schnalzte mit der Zunge, derselbe Schmerz wie zuvor durchfuhr ihn, doch diesmal war er vorbereitet. Nichtsdestotrotz brachte er nur eine lächerliche Version seiner Fähigkeit heraus. Aber immerhin reichte es für die Einsicht der nächsten Meter. Er atmete tief ein und noch tiefer aus, konzentrierte sich auf den Gang, den er überqueren musste, der ihn von seiner Erlösung trennte. Dort, am Ende des kurzen Flurs, befand sich der Schacht, die Freiheit. Er stürmte mit dem nächsten Geräusch los. Und erstarrte mitten im Gang.
„TIM!!!“ Sein Verfolger zerriss die Luft mit nur einem simplen Wort. Tim drehte sich um, zitternd, weiß wie Kalksand. Er sah einen schwarzen Hut und die Silhouette einer Frau. Die Stimme kannte er auch.
Er bewegte die Lippen, formte sie zu einem einzigen Wort und doch verlies kein Laut seinen Rachen. Und doch war klar um welches Wort es sich handelte.
„Mama.“