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Flucht in den Sonnenschein
Alora erkannte, dass Sari weinte. Ihre Flucht durch die wolkenlose Nacht ging zu Ende. Die Dunkelheit wich über der hügeldurchsetzten Wald- und Wiesenlandschaft. Nackte Füßchen hechteten im Laufschritt durch hohes Gras und die einfachen, ärmellosen Leinenkleider der beiden Mädchen waren stark verschmutzt. Sie hatten versucht, ihren menschlichen Verfolgern im Sumpf zu entkommen.
Doch diese hatten sie auf der anderen Seite schon erwartet.
Alora keuchte. Sie packte ihre jüngere Schwester Sari an der Hand und hielt sie zur Eile an.
„Die Sonne geht bald auf! Wir brauchen ein Versteck!“
Sie hörten die grölenden Soldaten und ihre gewaltige Kutsche näherkommen.
Die Leute waren ausgezogen, sie beide einzufangen.
In der heutigen Zeit zahlten die Monarchen viel für das unsterblich machende Wasser der Asrai.
Noch mehr für eine Lebendige.
Es schien den Königen der Menschen Spaß zu machen, den wunderschönen Asrai ihr Wasser eigenhändig auszusaugen.
Die Soldaten, die sie jagten, hatten Aloras Höhle erst am Abend entdeckt. Es war eine lange, hektische Nacht gewesen und sowohl die Beute als auch ihre Jäger schwächelten.
Aber das schlimmste waren nicht die Soldaten, sondern der nahende Sonnenaufgang. Man konnte sie einfangen, wenn man genügend ihnen Platz ließ. Darum jagten die Männer auch mit einer enorm riesigen Kutsche hinter ihnen her. Man konnte sie mit Waffen durchstoßen, ohne, dass sie Schaden nahmen. Denn ihr Körper bestand aus Wasser.
Nur sehr heißes Feuer konnte ihnen gefährlich werden.
Und die Sonne.
Als die ersten Strahlen am Horizont auftauchten, ließ Alora Saris Hand fahren.
Sie blickte sich um. Rechts von ihnen war der Eingang in eine Schlucht zwischen zwei Hügeln.
Die Hügel waren hoch genug, damit der Schatten sie beide noch ein Weilchen vor der Sonne schützen konnte. Und was dann?
Hinter den Asrai-Mädchen schrien die Soldaten über den nahenden Erfolg. Sie trugen Fackeln. Heiße Fackeln, vor denen es Alora fast so sehr grauste, wie vor dem Sonnenlicht. Heiß genug, um Asrai damit einzuschüchtern und einzukreisen.
Sonst waren sie unbewaffnet, um schneller voran zu kommen. Außerdem wussten die meisten Menschen, dass Hieb- und Stoßwaffen durch Asrai flutschen konnten, ohne Narben zurückzulassen.
Lediglich die Kleidung wurde dabei in Mitleidenschaft gezogen, welche die Asrai nur aus Scheu trugen.
Alora ergriff die Schultern ihrer Schwester und fragte: „Sari, hast du noch die Kirschkerne, die ich dir geschenkt habe?“
Sari nickte atemlos und reichte ihr den kleinen Beutel.
Ihre Schwester riss regelrecht daran, öffnete ihn und holte zwei Kerne hervor.
Erstaunt schaute Sari zu, als Alora die Kerne in den Boden steckte. Ihre mächtige Schwester legte die Hände rechts und links daneben. Sie murmelte einen Segen und opferte etwas von ihrem Körperwasser, welches in den Boden sickerte.
Alora stand auf. Sie zog Sari am Arm zum Eingang der Schlucht. Vor dem Eingang wuchsen zwei Kirschbäume, die diesen nun versperrten.
„So können sie die Kutsche nicht mitnehmen!“, erklärte sie.
„Denkst du, die werden uns weiter verfolgen?“
Alora nickte schnell und rannte weiter.
Sari folgte ihr.
"Verzeihst du mir?", fragte Sari schuldbewusst.
Alora antwortete: "Wenn du nie wieder ein Dorf der Menschen aufsuchst!"
Sie hörten die Pferde wiehern und die Männer fluchen. Das Hufgetrappel ließ nach.
Der lichte Wald auf den Hügeln fand sein Ende. Die Schlucht weitete sich.
In Saris Hals steckte plötzlich ein heißer Kloß und ihre Stirn erhitzte sich. Sonnenstrahlen würden ihnen die Flucht unmmöglich machen. Da erkannte sie eine kleine Holzhütte am Waldrand und zeigte darauf: „Alora! Die Scheune!“
Sie wollte hinrennen, doch Alora riss sie am Arm.
Sie schüttelte ihren Kopf und zeigte auf eine Tanne in der Nähe.
„Da hoch! Und Pst!“
Verflixt schnell kletterte Alora am Stamm des Baumes hoch. Und Sari entdeckte, was Alora an dem Baum aufgefallen war: Einige, ganze Äste hingen auf eine Art herab, dass sie verfilzten und die Beiden sich oben nicht vor der Sonne fürchten mussten.
Sari war nicht ganz so schnell wie Alora, doch als sie die Männer wieder hörte, trieb die Angst sie nach oben. Sie setzte sich auf einen andern Ast, auf Aloras Höhe und lehnte sich an den Stamm.
Alora war am Ende ihrer Kräfte. Sie seufzte erleichtert, als Sari in Sicherheit war. Sie fühlte sich zwar noch nicht sicher, doch hier oben konnte sie wenigstens durchatmen.
Sie lehnte sich an den Stamm und erblickte einen funkelnden Sternenhimmel.
Sie wusste, dass es nicht sein konnte, denn sie saß sie unter den Ästen, und die Morgendämmerung war schon fortgeschritten.
Plötzlich ertappte sie sich dabei, dass sie beinahe eingeschlafen war. Schließlich war es ja nun bald Tag.
Sie öffnete die Augen. Die Dämmerung brachte aufsteigenden Nebel mit sich. Sonnenstrahlen, fielen durch die Zweige und brachen sich daran.
Die Hitze in ihrem Inneren steigerte sich. Viel zu spät erkannte Alora, dass sie auf der falschen Seite des Baumes saß. Sie war bereits bewegungsunfähig.
Etwas Wasserdampf stieg auch von ihrem Körper auf. Sie fühlte, wie sie leichter wurde und zerfloss...
Sari schaute die ganze Zeit nach unten. Sie konnte nur noch an die Männer denken. An die Gefahr die von ihren fürchterlichen Fackeln ausging. Als die Soldaten ankamen, hörte sie diese wieder schreien.
„Schaut mal, wir haben sie!“
„Wo?“
„Dort in der Scheune!“
„Anzünden!“, befahl der Anführer, „Aber behaltet mindestens acht von den Fackeln!“
Er lachte höhnisch.
„So! Ihr sitzt in der Falle!“
Sari konnte nicht sehen, was sie taten, doch sie spürte die Hitze der brennenden Scheune und roch den beißenden Rauch.
„Holt die Schwämme und die Krüge her! Aber dalli! Wenn wir sie schon nicht lebend fangen können, so sollten wir dennoch nicht mit leeren Händen zurückkehren!“
„Denkt daran, etwas aufzufangen, bevor sie im Boden versickern!“, befahl ein Zweiter.
„Ich möchte nicht, dass Vater Dreck trinken muss!“
Sari sah Wasser am Stamm herabfließen. Schnell schaute sie zu Alora.
Als sie das nasse Leinenkleid ohne ihre Schwester sah, wurde ihr klar: Alora war nicht mehr bei ihr.
„Meine Alora! Verfluchte Menschen!“, flüsterte sie.
Ein Gedanke, den Sari vor vierzig Jahren, bei einem Ausflug in ein Menschendorf aufgeschnappt hatte, gewann Macht in ihr und ihr Wasser brodelte vor Wut.
Rache für Alora!
Doch sie durfte das Gefühl nicht zu stark werden lassen und unterdrückte es wieder, um nicht so heiß zu werden, dass sie sich auflößte.
„Schaut mal! Da ist überhaupt niemand!“, schrie einer.
„Die Asrai-Nymphen sind weg!“
„Sucht sie!“
Sari versuchte sich etwas einfallen zu lassen, während sie zwischen den Zweigen hin und her schielte. Schnell fand sie eine Stelle, zu der sie herausschauen konnte, ohne von der Sonne getroffen zu werden. Vier Mann konnte sie sehen. Doch nach den Stimmen zu urteilen, waren es etwa doppelt so viele.
Zwei kamen mit ihren Fackeln der Tanne näher.
„Schau mal: Wasser!“, sagte einer.
Der andere, winkte nach hinten und pfiff seine Leute her. Diese versammelten sich hinter ihm.
Völlig verzweifelt erkannte Sari ihre hoffnungslose Lage. Sie war entdeckt.
„Das gibt es doch gar nicht! Was soll ich denn jetzt machen?“
Alora würde sofort etwas einfallen.
„Denke jetzt an nichts mehr!“, flüsterte es durch die Tannenzweige, „erinnere dich daran, was ich dir beigebracht habe! Sei einfach du selbst! Tu was du tust! Lass dich nur von deinen Gefühlen leiten! Verzweifle nicht! Ich bin immer bei dir!“
Sari erkannte Aloras Stimme. Sie schloss die Augen und erblickte das lächelnde Gesicht ihrer großen Schwester.
„Du hast mal wieder Recht!“
Ohne nachzudenken griff Sari mit der einen Hand ihren Dolch, den Mutter einer jeden geschenkt hatte. Mit der anderen holte sie eine Handvoll Kirschkerne hervor.
Sie öffnete einen Zweig nach oben, warf die Kerne auf die Menschen und wartete einen Augenblick.
Einer fragte: „Was war das? Habt ihr das gehört?“
„Entschuldigung Mutter!“, sagte Sari, "Ich weiß, ich soll meine Kräfte nicht missbrauchen! Aber... Alora..."
Unter höchster Entschlossenheit trennte sie mit dem Dolch ihren linken Arm ab. Er verlor seine Farbe und fiel als Wasser zwischen den Zweigen zu Boden.
„Was soll das?“
„Bringen die sich jetzt schon selbst um?“
„Schnell die Schwämme!“
Sari wiederholte Aloras Wassersegen, der das Wasser ihres eigenen Armes mit dem Aloras vermischte. Zusammen fuhr es ins Grundwasser hinab, ließ den Erdboden erbeben und die Kirschbäume sprießen.
Die Männer, die ja zusammenstanden, wurden von den vielen Kirschbäumen in die Höhe getragen, die unter ihnen hervorschossen. Das war ein Geschrei, welches Sari gerne hörte. Obwohl es ihr Alora nicht wieder zurückzugeben vermochte.
„Verdammt!“
Drei stürzten wieder herab. Und einer von ihnen brach sich unter schauerlichem Krachen das Genick.
Sari nahm zwei Kirschkerne in die Hand und sprang zu Boden, wo die Soldaten lagen. Im Schatten der Kirschbäume schützte sie sich vor den Sonnenstrahlen. Die Männer erschraken, als das kleine Mädchen seine Kerne nach ihnen warf. Einer, der einen schwarzen Umhang trug, stand auf. Er besaß noch seine Fackel und trieb sie an den Schattenrand.
Er merkte nicht, dass Sari ihn angelockt hatte. Als er über dem Kirschkern stand, stampfte sie in den Boden und rezitierte nochmals den Wassersegen.
Sonnenstrahlen, die durch die Zweige hindurchfielen, brannten auf ihrer Haut.
Der Kirschbaum schoss aus dem Boden und brachte den Mann schwer zu Fall.
„Hexenweib!“, schrie er und stürzte unglücklich auf den Kopf.
Sari ließ unter enormem Kraftaufwand ihren Arm nachwachsen. Es dauerte etwas, bis die Wasserstruktur wieder die Form und Farbe einer menschlichen Hand angenommen hatte.
Sie ging auf den Gestürzten zu und schnitt seinen Umhang mit dem Dolch ab. Dann lief sie, den Umhang in der Hand, unter dem Schatten hervor.
Am Schattenrand nahm ihr die Hitze der Sonnenstrahlen etwas vom Schmerz durch den Verlust ihrer Alora.
Als sanfter Wasserdampf aufstieg, umhüllte sie ihren Leib vollständig mit dem schwarzen Umhang.
Starr blickte sie auf den letzten Mann zu ihren Füßen.
„Eine... Asrai... bei Tageslicht!“, stammelte der Soldat, „Unmöglich!“
Sari sah, dass sein Bein verbogen war. Er konnte ihr nicht folgen.
Bevor sie ihn verließ, kniete sie sich zu ihm und sprach: „Unterschätze niemals die Kräfte der Asrai! Bei mir bist du mindestens achtzig Jahre zu früh daran! Güte wird mit Güte belohnt! Böses mit dem Tod bestraft! Das ist die Gerechtigkeit der Asrai! Sag das deinem Volk! Lebewohl!“
Sari lächelte, als sie sich zum ersten Mal in die Sonne wagte. Nun brauchte sie dringend eine neue Grotte mit viel Wasser. Alora und Mutter würden immer bei ihr sein. Das wusste sie ja.