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Frühlingsparabel

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20.01.2009
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Frühlingsparabel

Es war ein schöner Frühlingsmorgen, als sich die ersten Sonnenstrahlen dazu entschlossen hatten, den Boden mit ihrer Wärme wieder zum Leben zu erwecken. Es dauerte nicht lange, da reckte ein kleines, grünes Sprösslein den Kopf aus dem Boden und gähnte herzhaft, um die Müdigkeit zu vertreiben.

Es wand sich in den Frühlingsdüften der Nachbarsblumen, streckte sich dem warmen Sommerregen entgegen und wog sich mit den Herbststürmen, um es sich im Winter unter der Schneedecke gemütlich zu machen.

So verging Jahr für Jahr, bis sich daraus schließlich ein stattlicher Baum mit standfesten Stamm und feinen Verzweigungen gebildet hatte. Er stand allein auf einer weiten Wiese, ringsherum waren nur bunte Blumen und kräftige Büsche und ein kleiner Weg führte an ihm vorbei.

An einem schönen Frühlingsmorgen ging ein junges Mädchen den Weg entlang. Es sah den Baum und lief zu ihm hin.

"Du hast aber schöne Blüten", sagte sie, reckte ihre Arme empor und riss sich zwei davon von einem niedrigen Ast ab. Eine steckte sie sich ins Haar, die andere nahm sie mit nach Hause und schenkte sie ihrer Mutter.

Wenige Stunden später kam eine alte Frau an dem Baum vorbei. Sie erblickte ihn und begann zu strahlen: "Ein paar Kirschen davon nehme ich mir mit, damit kann ich zu Hause einen schönen Kuchen backen". Sie streckte ihre Arme und pflückte sich zwei Hände voll Kirschen, sammelte sie in einem Beutel und machte sich auf den Nachhauseweg. Da sie zwischendurch der Appetit überkam, probierte sie eine Kirsche, war begeistert von der Süße und dem Aroma der Frucht und spuckte den Kern an den Wegesrand.

Es dauerte nicht lange, bis abermals jemand den Weg benutzte. Ein junger Mann kam daher, erschöpft von der harten Arbeit, die er gerade hinter sich hatte. "Was für ein köstlicher Apfel, den muss ich haben!", dachte sich der Mann und kletterte geschickt in das Geäst. Er pflückte sich die Frucht, setzte sich auf einen stabilen Ast und genoss den saftigen, kostenlosen Bissen.

So ging es nun die ganze Zeit.

Jeder, der an dem Baum vorbeikam, sah an ihm genau das, wonach ihm gerade der Sinn am meisten stand. So bekam man dort verschiedenste Früchte, die wunderschönsten Blüten und kräftige Äste, ganz nach dem jeweiligen Bedürfnis. Der Baum selber konnte sich das auch nicht erklären.

So wusste er selber nicht, als was er auf die Welt gekommen war und konnte sich nur darüber freuen, dass so viele Menschen an ihm Gefallen fanden. Mit der Zeit sprach sich herum, dass dort am Wegesrand ein wunderlicher Baum stand, von dem man genau das pflücken konnte, was man gerade haben wollte. Und so kam es, dass immer mehr Menschen den Weg entlanggingen und nur darauf warteten, die prachtvolle Krone und die schönen Früchte zu sehen.

Bald gab es einen Auflauf, die Menschen drängelten sich um den Baum und jeder wollte seinen Apfel, seine Orange und seine Blütenpracht als erster haben. Der Baum war begeistert von der ganzen Aufmerksamkeit, die ihm zuteil kam und gab an dem einen Ast Zitronen, an dem anderen Kirschen, an einem dritten gab es Bananen, gleichzeitig prächtige Blüten und woran die Menschen sonst noch so dachten.

Aber die gierige Meute war ungeduldig und neidisch aufeinander, so wollte jeder die schönste und fetteste Frucht und die buntesten und größten Blüten so schnell wie möglich an sich reißen. Sie traten sich gegenseitig auf die Köpfe, um an die höchsten Äste zu kommen, kletterten auch in das unsicherste, dünnste Ästchen und rissen an den Zweigen, um sie zu sich runterzubiegen.

Und so kam es zu einem gewaltigen Radau und schließlich gaben die Äste und Zweige unter dem gewaltigen Ansturm nach. Der ganze Baum brach mitten in der Mitte auseinander, die Menschen, die sich in der Krone befanden purzelten übereinander und fanden sich auf dem Boden wieder. Der Baum war in zwei Hälften zerrissen, die Früchte und Blüten, die eben noch in aller Vielfalt an den Ästen hingen, lösten sich wie Nebel im Nichts auf. Auch was die verwunderten Menschen bereits in den Händen hielten, verging wie ein Hauch, als wäre es nie da gewesen.

Ein wenig verunsichert und verschämt, dass sie durch ihre Gier dieses Wunder vernichtet hatten, gingen die Menschen schweigend nach Hause und ließen die sterbenden Überreste des Baumes hinter sich.

So vergingen die nächsten Tage und Wochen, in denen die Geschichten um den wunderlichen Baum langsam verstummten und schon zum nächsten Winter dachte niemand mehr an den unrühmlichen Vorfall.

Aber als die ersten Sonnenstrahlen wieder ihre Arbeit begannen und den kalten Boden mit ihrer Wärme allmählich auftauten, regte sich an einer anderen Stelle des Weges etwas: der Kirschkern der alten Frau, der achtlos am Wegesrand lag, hatte neues Leben in sich geschaffen und entließ den drängenden Spross nun in die wohlig warme Erde.

Die Sonnenstrahlen achteten sehr genau auf die sprießende Pflanze, da sie neugierig waren, ob sich das Wunder ein zweites Mal wiederholen sollte. Jeden Tag beschienen sie, was sich da entwickelte und eines Sommers wurde klar, dass ein prachtvoller Kirschbaum daraus geworden war, ohne Äpfel und Zitronen, sondern einfach nur Kirschen.

Und die Moral von der Geschicht:

Wer die nicht sieht, dann weiß ich auch nicht.

 

Hallo Esther80,

eine feine Parabel auf was auch immer. Man, und auch ein wenig ich, möchte da wohl die typische oder übliche Gier des Menschen hineindenken.
Vielleicht ..., aber ich werde noch darüber nachdenken.
Hat mir Spass gemacht, auch habe ich lange keine Fehler gefunden.
Doch am Ende, ja, da wurde ich schließlich fündig:

dass sich ein prachtvoller Kirschbaum daraus geworden war,
dass sich ein ... geworden war?

Ansonsten, vielen Dank.

Grüße
Harri

 

Hallo Esther80,

schön. Einfach nur schön.

lieben Gruß
Dave

P.S.: Willkommen auf KG.de

 

@HarriG: Uups, da hat sich doch tatsächlich etwas eingeschlichen...

Ansonsten vielen Dank für das Lob, ist das allererste Mal, dass ich überhaupt etwas von mir mal der "Öffentlichkeit" präsentiere.

Der Interpretationsansatz mit der Gier der Menschen ist definitiv ein Aspekt, allerdings steckt für mich die zentrale Aussage über typisches Menschenverhalten und die Konsequenzen mit allem Negativen und Positiven in der Rolle des Baumes.

 

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