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Freier Fall
Schlaflos wälze ich mich in meinen Laken. Es ist zu warm, mein Rücken schmerzt und meine Augen wollen einfach nicht müde werden. Im Nebenzimmer ist es still, bis auf das leise Schnarchen meines Vaters, das ich durch die dünne Wand hören kann. Unruhig drehe ich mich auf die andere Seite.
Schließlich gebe ich den Kampf auf, klettere aus dem Bett und tapse zum Fenster, um es zu öffnen. Ich atme tief durch, in meinem Bauch kribbelt es und ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Die Nacht ist sternenklar, die Luft kühl und verbraucht, doch ich mag diesen Duft. Ich schließe die Augen. Es kribbelt noch immer, die Füße, die Knie, der Po, der Bauch, der Nacken, die Nase. Adrenalin. Ein Abenteuer. Ein Blick auf die Uhr - viertel nach eins. Ich überlege, was passieren würde, wenn ich jetzt, mitten in der Nacht, einen kleinen Ausflug machte. Ganz allein, mit dem Fahrrad durch die dunklen Straßen und durch die Nachtluft ... Ich weiß, wohin ich möchte. Wohin es mich schon seit Monaten verlangt, doch tagsüber hat mir stets der Mut gefehlt.
Ich schließe das Fenster und ziehe mich an. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich aus meinem Zimmer – alles schläft – und aus der Wohnung. So leise wie möglich gehe ich in den Keller um mein Fahrrad zu holen. Es ist alt und klapprig und der Dynamo ist laut, aber ich mag es. Meine Großmutter hat es mir vor einigen Jahren geschenkt, ein echtes Diamant-Fahrrad.
Die Tür fällt sanft hinter mir ins Schloss, ich schwinge mich auf den Sattel und fahre los.
Der Fahrtwind zerrt an meinen Haaren, meine Finger frieren, ich hätte Handschuhe anziehen sollen. Kein Gedanke währt länger als einige Sekunden in meinem Kopf, der Wind trägt ihn sogleich davon. Hätte ich nicht aufpassen müssen, wohin ich fahre, so wäre ich meinem Impuls gefolgt und hätte die Augen geschlossen.
Mein Weg führt mich durch kleine verwinkelte Gassen, über Kopfsteinpflaster, das mich und das klapprige alte Blech unter mir gehörig durchschüttelt. Wahrscheinlich werden alle im Umkreis von einhundert Metern geweckt. Bei dem Gedanken muss ich lachen.
Schließlich erreiche ich die Hauptstraße, die zum Domplatz führt. Verlassen liegt sie da, niemand, der jetzt noch unterwegs ist. Ich kann die Kathedrale sehen, dunkel und grau erhebt sie sich gegen den mit Sternen besprenkelten Nachthimmel. Vor dem Dom biege ich rechts ab und erhasche noch einen Blick auf einige Nachtschwärmer, die lachend über den großen Platz stolpern. Dann kann ich sie nicht mehr sehen, ich fahre die gewundene Straße entlang, die mich bergauf trägt. Ich keuche und stemme mich in die Pedale.
Wie genau ich in die Siedlung kommen soll, weiß ich nicht genau, deshalb folge ich einfach meinem Instinkt. Angst, mich zu verfahren, habe ich keine, obwohl mein Orientierungssinn nicht der beste ist. Die Nacht hat eine seltsame Wirkung auf mich. Niemand drängt mich, meine Zeit scheint mir unbegrenzt, ich bin unsterblich, unantastbar, frei.
Und tatsächlich. Nach einer Weile passiere ich die Bahngleise und sehe die kleine Dorfkirche, die mir sagt, dass ich mein Ziel nicht verfehlt habe.
Ich beschleunige mein Tempo. Ein Straßenname und eine Zahl geistern mir durch den Kopf, doch ich habe keine Ahnung, wo ich das Haus mit der Nummer fünfundzwanzig finden soll, also fahre ich einfach drauflos.
Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich im alten Ortskern nicht fündig werde und so fahre ich, bis ich in eine Gegend mit neuen Einfamilienhäusern komme. Ich lese die Straßenschilder. Magnolienweg, Ritterspornweg, Geißblattstraße, Fingerhutweg ... Nein, hier bin ich nicht richtig. Keine Pflanzennamen.
Schließlich stehe ich vor einem kleinen, gemütlich aussehenden Häuschen, welches die Nummer fünfundzwanzig neben der Haustür trägt. Es hat einen sonnengelben Anstrich, soweit ich das durch den Schein der Laterne beurteilen kann. In einem Zimmer im ersten Stock brennt Licht.
Ich zittere, wieder schießt Adrenalin durch meinen Körper und lässt mein Herz klopfen. Schließlich lehne ich mein Fahrrad an den Laternenpfahl hinter mir und setze mich auf den Bordstein. Meine Augen sind auf das Fenster fixiert.
Dort sitze ich, fröstelnd aber glücklich. Ich bin ihm nahe, spüre seine Anwesenheit und frage mich, ob auch er fühlt, dass jemand vor seinem Fenster sitzt und ihn liebt. Fühlt er sich geliebt? Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.
Dann sehe ich ihn. Sein Gesicht ist am Fenster erschienen, er sieht hinaus und mein Herz macht einen Hüpfer. Er blickt nach rechts, nach links, nicht zu mir, dann kippt er das Fenster an und verschwindet. Wenig später erlischt das Licht.
Tausend Gedanken schwirren mir dieses Mal durch den Kopf, der Fahrtwind vermag nicht, sie wegzublasen. Ich schmecke Bitterkeit, Enttäuschung. Doch dann frage ich mich, was ich erwartet habe. Dass er sich gefreut hätte, mich mitten in der Nacht vor seinem Fenster zu sehen? Zu mir hinausgekommen, sich mit mir unterhalten, mich hereingebeten hätte? Kopfschüttelnd beschleunige ich mein Tempo und halte verbissen die Tränen zurück. Das Bild vor mir verschwimmt und ich reiße die Augen weit auf, bis das Wasser verschwindet, doch der Kloß im Hals bleibt. Dann frage ich mich, was ich getan hätte, wenn er mich gesehen und genau so reagiert hätte. Ich stelle es mir vor. Wahrscheinlich wäre es mir peinlich gewesen. Wer bin ich schon? Stehe nachts vor seinem Fenster, feige, weil ich mich tagsüber nicht traue, ihn anzusprechen. Plötzlich schäme ich mich vor mir selbst. Unglaublich, dass ich vor wenigen Momenten noch so glücklich gewesen bin.
Auf dem Flur begegne ich meiner Mutter, im Nachthemd, mit weit aufgerissenen Augen und einem fragenden Ausdruck im Gesicht. Ich sehe sie an und lasse meinen Tränen freien Lauf.