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Frosch und Raupe
Es war einmal eine kleine Raupe, die wohnte in einem prächtigen Apfelbaum.
Süß schmeckten die Äpfel, herrlich glänzten sie in der Sonne, rot und grün und gelb. Doch das schöne Leben dort währte nicht lange, denn der Baum wurde von einem Ameisenstaat besetzt. Die Ameisen waren sehr angriffslustig und gestatteten der kleinen Raupe nicht, von den Äpfeln zu naschen und an den Blättern zu knabbern. stattdessen spritzten sie ihre Säure aus und vergifteten den ganzen Baum damit.
Betrübt zog die kleine Raupe davon, um anderswo Nahrung zu finden. Sie gelangte zu einem Birnbaum mit dunkel schimmerndem Blattwerk, der voller gelber, duftender Früchte hing. Doch der Baum wurde umschwirrt von Wespen, die die kleine Raupe bedrohten, sobald sie sich näherte. Traurig kroch sie weiter. Sie fühlte sich schon ganz schwach vor lauter Hunger.
Schließlich kam sie zu einem Teich. Dort sah sie einen Frosch auf einem dicken leckeren Blatt sitzen. Die kleine Raupe hatte große Angst vor dem Wasser, denn sie hatte nicht Schwimmen gelernt. Auch der Frosch war ihr unheimlich. Doch zu ihrer großen Überraschung lächelte der sie mit strahlenden Augen an und lud sie ein, zu ihm zu kommen und von seinem Blatt zu kosten. Die kleine Raupe war nun schon fast ohnmächtig vor Hunger, deshalb überwand sie ihre Angst vor dem Wasser und kletterte zu dem Frosch auf das Blatt.
Wie gut ihr das tat, endlich gab es Nahrung im Überfluss. der Frosch behandelte sie interessiert und freundlich und die kleine Raupe wurde immer mutiger. Sie wagte sich bis an den Rand des Blattes vor, schielte ins Wasser und freute sich über das Lichtspiel auf der Wasseroberfläche. Da war ständig etwas los, bunte Bilder leuchteten je nach Tageszeit in hellen und dunklen Tönen, bei Wind vibrierte alles und geriet ganz aufregend durcheinander. Durch die vielen neuen Eindrücke und das gute Essen wurde die Raupe richtig übermütig. Sie wollte den Frosch zum Lachen bringen und fing an, ihn an seinen empfindlichsten Stellen zu kitzeln. Der Frosch war zunächst verwirrt, dann bereitete ihm das Spiel zunehmend Vergnügen, doch schließlich wurde es ihm doch zu bunt! Die kleine Raupe schien jeden Respekt verloren zu haben und das konnte er sich nun nicht länger bieten lassen. Blitzschnell schoss er seine klebrige Zunge heraus, zog die Raupe wie mit einem Lasso ein und fraß sie auf.
Hmmm, jetzt herrschte endlich einmal wieder Ruhe!
Doch kurze Zeit später bemerkte der Frosch ein unangenehmes Magendrücken. Es wurde immer schlimmer, er begann am ganzen Leib zu zittern, bekam schwere Krämpfe, schüttelte sich heftig und spie sodann in einem großen Schwall das Raupenmahl weit von sich ans Ufer.
Jetzt ging es ihm etwas besser. Er erholte sich nach und nach, machte es sich auf seinem Blatt gemütlich und betrachtete sein Spiegelbild im Wasser. Was für ein schöner, prachtvoller Frosch er doch war! Er genoss den Anblick sehr.
Gelegentlich wurde er von ein paar vorbeiflatternden Schmetterlingen abgelenkt. Es gelang ihm allerdings nie, einen zu fangen, da sie sich so unvorhersehbar bewegten, dass seine Zunge immer daneben geriet.
Eines Nachts träumte er von einem weißen Hühnchen, oder was war es sonst? Ein seltsames Flügelwesen. Das flog heran, kam immer dichter. Dann spürte er den Moment der Berührung nahen, dem Frosch wurde es merkwürdig warm um's Herz, voll gespannter Erwartung hob er einen Arm. Doch - leider - genau in diesem Augenblick erwachte er.
Und die Raupe? Nach dem ersten Schrecken sah sie sich nach ihren 14 Gliedern um, suchte eins mit dem nächsten zu verbinden. Doch voller Entsetzen machte sie die Entdeckung, dass eines fehlte, es waren nur noch 13 übrig. Und weil die 14 eine grün-weiße Zahl ist und die 13 eine orangerot-weiße hatte sie auch eine andere Farbe angenommen. Was sollte sie nun tun?
Die Raupe fühlte sich sehr einsam, fremd in der neuen Farbe und unvollständig ohne ihr vierzehntes Glied. Traurig versuchte sie ein wenig zu kriechen. Das ging noch. Sie fand einen Pfad, dem sie folgte. In einiger Entfernung sah sie etwas Leuchten. Beim Näherkrauchen erkannte sie eine andere Raupe, die ebenso orangerot-weiß war wie sie. Erfreut begrüßte sie das Tier.
"Wie geht es Dir? Fühlst Du dich auch so fremd wie ich?"
"Woher weißt Du das denn, sieht man mir das an?", wunderte sich die andere Raupe.
"Ja, natürlich sieht man das. Du hast eine fremde Farbe und - lass mich zählen - ja, Du hast ja auch nur dreizehn Glieder, so wie ich."
Verdutzt zählte die Raupe nach. Tatsächlich, es waren nur dreizehn, das war ihr noch gar nicht aufgefallen. Dabei wusste doch jeder, dass zu einer Raupe vierzehn Glieder gehörten. Besorgt runzelte sie die Stirn.
"Bist Du schon einmal einem Frosch begegnet?", fragte unsere Raupe.
"Ich kann mich nicht erinnern", grübelte die andere...
"Mach Dir nichts draus, du siehst so, wie du bist, auch sehr schön aus", versuchte die erste zu trösten und kroch langsam weiter. Da hatte sie nun wieder etwas angerichtet und die fremde Raupe bekümmert.
Nach einiger Zeit wurde die Raupe müde. Sie suchte sich ein geschütztes Plätzchen unter einem weißen Stein und schlief ein. Im Traum war sie umgeben von einem Eismeer, überall um sie herum waren Eisschollen, die sich zusammenschoben, auftürmten und ihre scharfen Kanten der kleinen Raupe entgegenstreckten. Von der Kälte wurde die Raupe wach. Sie sah über sich den kalten, weißen Stein pulsieren. Voller Grausen erkannte sie die Form eines Herzens. Sie nahm all ihren Mut und ihre Kraft zusammen, um von diesem Ort zu fliehen. Allerdings waren ihre Glieder schon so angefroren, dass sie sich kaum mehr bewegen konnte. Deshalb blieb sie in der Nähe des Steins sitzen und hoffte, dass die Sonne sie wärmen würde. Doch war es schon spät und die Nacht brach herein. Der Stein leuchtete geheimnisvoll im Mondlicht und schien zu atmen. Die kleine Raupe glaubte nun, dass durch die Bewegung etwas Wärme entstehen könne, denn sie hielt die Kälte schon nicht mehr aus. Nach einiger Zeit spürte sie ihre Glieder nicht mehr. Im ersten Morgenlicht sah sie in dem Stein rote Fäden schimmern wie Adern unter einer Haut. Auch schien der Stein jetzt nicht mehr so kalt zu sein. Doch für die kleine Raupe war es zu spät. Die Wärme und das Sonnenlicht erreichten sie nicht mehr.