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Geister in Ostberlin

Giu

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07.01.2022
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Geister in Ostberlin

Ich durfte nicht mit dem Mädchen sprechen.
Es war mir verboten.
Ich wollte zu ihr gehen. Ich sah, dass sie genauso alleine war wie ich. Ich wollte mit ihr sprechen, damit ich nicht zusehen musste, was ihr passierte. Ich wollte, dass sie einen Freund hatte und selber auch nicht alleine sein.
Sie kauerte auf dem Boden. Ihr Körper war verklebt mit der Ruine und mit ihrem eigenen Schicksal.
Sie war verloren, zurückgeblieben, so wie ich.
Ich wusste, dass sie mich nicht sehen konnte, trotzdem setzte ich mich stumm neben sie. Sie hörte auf zu zittern.
„Hallo“ sagte ich
Sie schaute auf. Sie schaute tatsächlich auf!
„Wer bist du?“ fragte sie
Wenn ich das nur wüsste.

Für das Mädchen blieb ich immer der Junge. Ich hatte keinen Namen weil ich ihn vergessen habe und wenn man seinen Namen vergisst, kann man sich nicht einfach einen neuen geben.
Mein Name war verloren, aber vielleicht war das auch nicht schlimm, denn ich war es ja auch. Und meine Freundin, das Mädchen, ebenfalls. Man ist doch immer etwas weniger verloren, wenn man es nicht alleine ist.
Das Mädchen aber hatte einen Namen. Sie verwendet ihn nur nicht gern. Sie fand ihn nicht zutreffend. Sie war nicht ihr Name und es war nicht ihr Name, nicht wirklich zumindest. Also nannte sie sich einfach anders, Ich nannte das Mädchen „Mädchen“, weil sie das einzige Mädchen war, was ich kannte. Aber sie nannte sich Lili.
Ein ungewöhnlicher Name aber ich mochte ihn. Das Mädchen war auch ungewöhnlich.
Andere nannten sie nicht so, aber Andere hatten auch keine Ahnung.

Lili wurde in einer Welt ohne Kinder geboren. Alle Kinder waren erwachsen und alle Erwachsenen langweilig. Außerdem waren sie hektisch und stumm. Sie konnten nicht hören oder sprechen, sie konnten auch nicht sehen so wie ich und das Mädchen sahen. Sie konnten nicht denken wie wir. Alles was sie konnten war murmeln und zählen und bauen und zählen, Listen machen und zählen, immer wieder zählen, jede Sekunde, Minute, Stunde.
Sie konnten das Mädchen manchmal hören, sie wirklich verstehen konnten sie aber nicht. Mich hörten sie erst gar nicht.
Ich war unsichtbar.
Ein Geist.
Die Wahrheit ist, das diese ganzen Erwachsenen selbst, vor vielen Jahren keine Kinder sein konnten. Die Bomben und die Masken und die Sirenen und die Disziplin raubte es ihnen.
Sie lebten verfrüht und starben schnell.
Doch weil sie so eine Disziplin hatten, konnten sie nicht einfach sterben so wie ich. Sie blieben auf der Erde, weil sie sich nie etwas anderes vorstellen konnten. Und sie arbeiteten und tranken und rannten und vergaßen. Manche tranken zumindest, die Meisten arbeiteten und alle verdrängten und vergaßen.
Vielleicht bin ich ja auch nur hier, weil ich mir nie etwas anderes vorstellen konnte. Immerhin hatte auch ich vergessen.
Ich weiß nicht, wieso das Mädchen anders war, Sie war das einzige Kind wie ich und die Einzige, die mich sehen konnte.
Ich weiß nicht, wieso sie das konnte oder wieso sie noch nicht erwachsen wurde. Vielleicht hatte sie nicht genug Erwachsene um sich herum.
Sie war zu einsam, um erwachsen zu werden. Sie hatte nur mich und ich war sicherlich kein Erwachsener.
Aber wenn ihre ewige Kindheit bedeutete, dass ich sie für immer als Freundin haben konnte, dann war ich froh darüber.

Ich weiß nicht, wie sie mich sah, das Mädchen. Ob ich tot aussah oder lebendig, ob ich Farbe hatte oder ob ich durchsichtig war.
Ich weiß nur, dass ich nicht gruselig aussah, denn sie hatte keine Angst vor mir. Ich stellte mir sogar vor, dass sie in mir so viel Geborgenheit fand wie ich in ihr. Immerhin hatte ich niemanden anderen und ich glaube, sie auch nicht.

Wir wurden Freunde, als ich sie in den Trümmern ihres verbrannten Zuhauses fand.
Berlin war gerade in Aufruhr. Atomwaffen zeigten auf uns und Stein und Stahlkugeln in Stahlgewehren, zerhackten uns.
Die Luft hatte Augen und beobachtete uns. Schweigend urteilend.
So kannte ich Berlin am Besten. So war ich es gewohnt.
Erwachsen, gekritzelt und paranoid, so war Berlin.
Gekritzel, so viel Gekritzel. Auf den Straßen, im Himmel, in den Menschen.
Es war überall.
Ich glaube, alle waren ein bisschen verloren. Die Kinder und die Erwachsenen, die Geister und die Lebendigen, die Zombies und die Anderen
Ich habe schon einmal mit der Idee gespielt, dass alle Geister auf der Erde bleiben und dass sie sich gegenseitig nicht sehen. Genauso wenig wie sie von Anderen gesehen wurden, lebend oder tot.
Vielleicht war das ja die Hölle.
Letztlich bin ich ja auch in Deutschland gestorben.
Ich erzählte es dem Mädchen und ich sagte ihr, das es deshalb so besonders war, dass ich sie gefunden hatte.
Das Mädchen stimmte auch zu in dem, dass auch sie dachte Ostberlin sei die Hölle.
Vielleicht, sagte sie dann, war die andere Seite der Stadt, jenseits der Mauer, wo die Menschen frei waren, der Himmel und es war ein Teil der Hölle, dass der Himmel zwar so nah aber doch so unerreichbar bleibt.
„Vielleicht“ sagte ich.
Dem Mädchen ging es wie fast allen anderen im Osten. Sie hatte das Gefühl von einer Krise in die nächste gestürzt zu sein. Oder zumindest glaubte sie es, wenn die erwachsenen das sagten.
Lilis Mama ging es sehr schlecht deshalb. Ihre Familie war im Himmel gelandet und sie in der Hölle.
Aber die Leute sprachen nicht viel davon. Von ihren verwandten im Westen oder ihrem eigenen Land. Es waren paranoide Zeiten immerhin.
Manchmal glaubte ich, dass es so schlimm war weil sie nichts sagten.
Je tiefer das Schweigen desto mächtiger das Geheimnis. Vielleicht war es ja nur die Hölle, weil sich alle darauf einigten.
Aber was wusste ich schon vom Leben?

Unsere Freundschaft war auch wie fast alle Anderen in Deutschland. Sie bestand auf Himmel und Hölle auf der Straße, Gesprächen bis tief in die Nacht, baden im See und vielen Stunden alleine zuhause weil der Vater tot war und die Mutter arbeiten musste.
Gelegentlich spielten wir Flugzeug mit einer Kiste aus Pappe aber die Erwachsenen mochten dieses Spiel nicht. Sie hatten schlimme Erinnerungen an Flugzeugen.

„Wäre es nicht toll, wenn dein Vater hier irgendwo wäre“ sagte ich zum Mädchen „wenn er hier in Berlin herumschleicht und dich sucht.“
Das Mädchen machte keinen beeindruckten Ausdruck.
„Vielleicht hat er dich ja auch schon gefunden und beobachtet dich jetzt, weil er sich nicht traut hallo zu sagen“ sagte ich
„Wieso sollte er mir das antun?“ fragte das Mädchen.
Der Junge war überrascht. Er hatte nicht vollkommen verstanden was sie gesagt hat. Aber wie sollte er auch, er erinnerte sich nicht daran jemals Eltern gehabt zu haben.
„Außerdem“ sagte das Mädchen „er ist nicht in Berlin gestorben“ Sie zögerte kurz dann: „Glaubst du, Geister können auch woanders sein, als wo sie sterben?“ fragte sie mich und ich wusste die Antwort nicht.
Ich war noch nie außerhalb von Berlin gewesen, noch nicht einmal jenseits der Bahnhofstraße. Also musste ich hier gestorben sein...?
„Vielleicht musst du darin zurück wo du gelebt hast“ sagte ich. Ich konnte mir vorstellen in Berlin gelebt zu haben.
„Vielleicht ist es wichtiger als wo du gestorben bist“ sagte ich und wurde unglaublich traurig, denn ich merkte, dass ich nur in Vielleichts redete.
Was tat ich meiner Freundin Gutes, wenn ich nur spekulieren konnte, raten. Aber ich wusste nichts. Sie war sicherlich enttäuscht. Ein Geister- Freund zu haben würde sicherlich so viele neue Erkenntnisse bringen, vor allem in einer Zeit wie dieser in der es von geistern wimmeln sollte. Doch ich konnte Lili nichts erzählen. Ich wusste nichts.
Das Gute daran, nichts zu wissen ist, dass die Welt von Vielleicht dir gehört. Doch wenn du in der Welt der Realität stehst und mit einem Menschen redest, dann merkst schnell, was dir fehlt.
Als ich Lili fragte, wie sie auf ihren Namen kam zuckte sie mit der Schulter „ich weiß es nicht“ sagte sie „ist nur eine Idee.“
Und das tröstete mich ein bisschen.

Am Verlorensten war ich nachts. Wenn das Mädchen schlief.
Tagsüber redeten wir nicht immer miteinander, aber ich war immer bei ihr.
Ich folgte ihr zur Schule und hörte der Lehrerin zu. Ich ging mit ihr nach Hause und sah traurig zu, wie gemeine Jungs sie fertig machten, ihre Sachen stahlen, sie in den Schnee warfen oder zerrissen, sie manchmal schubsten.
Ich war traurig, weil ich tatenlos zusehen musste und sie schutzlos war. Ich konnte die Jungen aber weder berühren noch hörten oder sahen sie mich.
Alles was ich immer tat war das Mädchen wieder aufmuntern, ihr dabei helfen ihre Sachen zu trocknen oder gelegentliche Kratzer zu säubern. Dann half ich ihr bei den Hausaufgaben.
Sie schwor dann immer, dass wenn sie erwachsen war, sie es allen heimzahlen würde. Dann müsste sie auch keine Hausaufgaben mehr machen. Und ich betete still, dass dieser Tag nie kommen würde.
Vielleicht war dies eine weitere Fassade der Hölle, dass ich warten und zusehen musste, wie sie mich langsam vergessen würde.
Denn keiner ist für immer ein Kind.
Keiner außer mir.
Die Nächte waren die schlimmsten, weil ich dann vollkommen alleine war. Weil ich dann Zeit hatte über so etwas nachzudenken und die Leere des Vergessens zu spüren.
Das Mädchen schlief dann und ich wanderte durch die Bahnhofstraße. Ich konnte zum Bahnhof gehen aber ich traute mich nicht, die vertraute Gegend zu verlassen. Außerdem dämmerte es schon bevor ich die ewige Straße verlassen hatte.
Eines Nachts war ich besonders einsam. Ich wollte nicht zurück in die kalte Zeit bevor ich das Mädchen kannte, und wenn es nur für ein paar Stunden war. Ich wollte nicht, dass sie in die Traumwelt reiste und mich zurück ließ. Also legte ich mich neben sie und schloss die Augen.
Ich tat was sie tat, jedoch ohne zu schlafen.
Ich lehnte mich an ihren Körper, der immer warm war.

Nur noch 8 Stunden.
Als ich meine Augen eine Weile geschlossen hatte geschah plötzlich etwas seltsames.
Ich wurde in der Zeit zurückgeschleudert.
Ich war wieder fest und ich war wieder wach.
Um mich herum stand Berlin in Flammen. Es lag in Trümmern.
Bomben zurrten, Menschen rannten, Gewehre luden und entluden sich. In den Straßen hingen Menschen und Menschen lagen auf dem Boden. Sie schwammen in ihrem Blut wie Wasserleichen.
Sie klebten am Boden und taumelten an Schnüren.
Die an den Schnüren waren Deserteure, die auf dem Boden Zivilisten.
Ich hielt auch ein Gewehr in der Hand.
Ich lag mit meinen Freunden im Graben.
War das alles ein Traum gewesen? Hatte ich meine Zukunft gesehen? Oder passierte beides gleichzeitig an verschiedenen Stellen der Zeit?
Aber ich hatte keine Zeit lange darüber nachzudenken.
Ich dachte gar nicht. Ich schoss einfach. Schoss meine Erinnerung an ein Geisterleben davon. Ich schoss auf alles, was nicht deutsch war.
Ich wusste nicht, aus welchem Land sie waren. Es schien als wäre es die ganze Welt.
Es war wir gegen die Welt.
So musste es immer kommen.
Und wir verloren kläglich.
Wir hatten keinen Hauptmann mehr, keinen Erwachsenen. Es war nur eine Bande von Kindern, die mit Stahlkugeln und Gewehren versuchten, dass zu tun, was man ihnen gesagt hatte. Was man uns gesagt hatte.
Wir waren die Zukunft Deutschlands deshalb konnten wir es nicht aufgeben. Wir wussten, wenn Deutschland verliert, würde es untergehen. Das wäre das Ende.
Das Ende der Welt für uns.
Kurz darauf starb ich in einem Graben.
Einem dreckigen Graben mitten auf der Straße.
Ich wurde eins mit dem See aus Leichen und Eins mit dem Fluss aus Blut.
Es war eine Kugel in den Kopf. In die Stirn, zwischen die Augen.
Ich war sofort weg.
Ich litt nicht.
Wenige Stunden später würde unsere Anführer, der für den wir das alles taten, der Mann der es uns sagt, der Mann für den ich starb – kurz darauf würde er mir das Eisenkreuz überreichen. Für meinen Mut und meine Loyalität.
Wenig später würde mein Tod als Barberei beschrieben.
Ich war plötzlich der Böse.
Und mein Anführer war es auch.
Der Heldentum war mit genommen und die Scham verdeckte ihn.
Vielleicht war Deutschland ja gestorben.
Vielleicht wurde es dann zu Himmel und Hölle, ein Heim für die Toten und die Fast.
Vielleicht war es aber auch wie ein Phönix und wurde wieder geboren. Als ich starb wusste ich nichts davon.
Und als ich wieder tot war, neben meiner Freundin, dem Mädchen, lag, in der Bahnhofstraße, wusste ich nichts davon. Wie ein Traum vergaß ich was geschehen war und kehrte zurück in die Welt von Vielleicht.
Die Leere machte sich wieder breit.
Ein Tropfen Blut rannte von meiner Stirn auf das weiße Betttuch des Mädchens, ohne einen Fleck zu hinterlassen.

Bald bekam ich den Eindruck, ich war nicht der einzige Geist in Berlin.
Berlin war voller Geister.
Dinge, die noch lungerten.
Ich konnte keinen der Geister sehen. Ich wusste nicht, wie viele davon mal menschlich waren. Aber sie waren da. Ich konnte sie spüren.
Das Mädchen auch.
Manchmal redete sie davon.
„Manchmal glaube ich, alles auf der Welt was passieren kann, ist schon mal in Berlin passiert“ sagte sie. Dann wünschte sie sich, Berlin könnte reden.
Die Stadt war voller Rauch sozusagen. Nicht die Art von Rauch die Feuer erzeugte, aber die Art von Rauch die Ereignisse hinterließen.
Berlin war voller Narben, Nebelfetzen und Rauchwolken der Vergangenheit. Mancher Rauch erzählte von Nachtleben, Zigaretten und Alkohol, mancher von Flyern, roten Mützen und ausgestreckten Fäusten. Mancher Rauch erzählte von Uniformen, Gewehren und Totenköpfe. Zerstörung und Sex, genauso wie Hunger und Exzess lagen in der Luft.
Berlin war so eigen, dass niemand es ausreichend erzählen könnte.
Doch ein Geist war besonders stark.
Er war im Gesicht von Lilis Mutter und ihrer Lehrerin. Er war in den Köpfen der meisten Erwachsenen. Er lungerte, bis weit über Mitternacht.
Er wohnte bei den Entflohenen aus Polen und der Tschechoslowakei.
Er wohnte bei den inhaftierten Generälen.
Er wohnte bei allen, die durch den Krieg verloren hatten.
In den Kneipen, in den Kleiderschränken, in dem Schweigen.
Er wohnte, hockte, lebte und atmete. Schwerer, tiefer Atem.
Er war in ganz Ostdeutschland, in ganz Deutschland.
Und er klebte sich fest.
Mit jedem Tag etwas mehr.
Er war stur und dunkel und präsent.
Er war schweigend und riesig.
Vielleicht war er der Grund, dass es keine Kinder gab.
Vielleicht hat er sie gefressen.
In Deutschland fressen fast alle Monster Kinder.

 

Hallo Giu,

erst mal herzlich willkommen hier bei den Wortkriegern und danke für Deine erste Story, in die ich Mühe hatte, mich einzufinden aber dann ahnte ich, warum Du so schreibst ... es gibt ein Dahinter, ein Weiter, eine so unvorstellbare Zukunft und die beginnt nicht nur in dem, was ich sehe, sondern auch fühle. Und ich denke, darauf hast Du abgezielt.
Manchmal hatte ich dennoch Mühe - da sieht das Mädchen ihn nicht und wenige Sätze weiter sieht sie ihn doch ... mh, was jetzt? Oder so Ausdrücke wie "am verlorensten" ... wenn etwas verloren ist, dann ist es nicht mehr da - fertig. Es gibt doch auch kein töter oder einzelste oder leersten oder schwangersten oder falschsten ...
Manchmal hast Du die Zeiten auch wild durcheinander gewirbelt, so dass ich manchmal nicht wusste, wo Du gerade bist oder warst.
Ich hab da eine Idee - hast Du einen Freund, der auch schreibt und der Deine Geschichte lesen kann und mit dem Du sie dann zusammen überarbeitest? Oder - wenn Du willst - kopiere ich mir Deine Story hier heraus und versuche sie zu "ordnen" - nur wenn Du willst.
Danach werfe ich die Story wieder in Deinen Briefkasten.
Jeden zweiten Satz jetzt hier rauspicken und zitieren und nach einer Lösung zu suchen sprengt ein bisschen meinen Zeitplan.
Trotzdem danke für Deine Geschichte, die mir durch ihren eigenen Style gefallen hat.
Grüße - Detlev

 

Berlin war so eigen, dass niemand es ausreichend erzählen könnte.

Tausend Berlin-Romane, die in den letzten Jahren erschienen sind, scheinen das anders zu sehen.

Hallo und herzlich Willkommen hier,

ich finde das ist ein mittelmäßiger bis großartiger Text. Da ist so alles dabei.

Ich hatte keinen Namen weil ich ihn vergessen habe und wenn man seinen Namen vergisst, kann man sich nicht einfach einen neuen geben.
Da ist so ein eigener Sound drin, den ich aus irgendeinem Grund sofort kaufe; diese Absolutheit, diese Autorität, die da mitschwingt, wenn der Erzähler so etwas ganz dreist in den Raum stellt, da kann man sich schwer verballern mit, aber hier kaufe ich das sofort. Es bettet sich nahtlos in die Fiktion ein.

Ich habe schon einmal mit der Idee gespielt, dass alle Geister auf der Erde bleiben und dass sie sich gegenseitig nicht sehen. Genauso wenig wie sie von Anderen gesehen wurden, lebend oder tot.
Vielleicht war das ja die Hölle.
Manchmal haust du allerdings aus diesem Register heraus; ich weiß nicht, sieh es mir nach, wenn ich falsch liege, aber ist Deutsch deine Muttersprache? Du sagst dann gruselig, was ich hier, in diesem schweren, mächtigen Text unpassend finde, das klingt, auch wenn es nicht unlogisch wäre, so ein Wort zu benutzen, einfach nicht zugehörig, als wäre es aus einem anderen Text. Da fehlt mir die Wucht.
Wenige Stunden später würde unsere Anführer, der für den wir das alles taten, der Mann der es uns sagt, der Mann für den ich starb – kurz darauf würde er mir das Eisenkreuz überreichen. Für meinen Mut und meine Loyalität.
Wenig später würde mein Tod als Barberei beschrieben.
Ich war plötzlich der Böse.
Und mein Anführer war es auch.
Hier habe ich so die Ausfahrt verpasst ... plötzlich Nazis und WKII und deutscher Heldentod, ich weiß nicht, aus dieser apokalptischen Stimmung dann durch eine Art Traumloch geschleust in so einem Häuserkampfszenario, ich frage mich, warum? Ich dachte an eine West/Ost-Dichotomie, aber dann driftete das irgendwie ab. Was ist hier der Grund? Einfach eine Provokation oder so, oder irgendwas mit Nazis geht immer? Mir wurde halt nie so klar, warum man da jetzt so abbiegen muss. Einfach Berlin, SS, Nazis, Waffen, Tod, Barbarei, das klingt mir halt zu schnell zu sehr nach einem Rezept für eine TV-Serie von RTL. Wenn es da keinen Grund für gibt, weiß ich nicht, warum man das unbedingt machen sollte. Was bringt es dem Text? Mich jedenfalls langweilen Nazis schon sehr lange als literarisches Thema, weil halt auch wirklich jeder und jede darüber sich schon verbreitet hat.
Sie bestand auf Himmel und Hölle auf der Straße, Gesprächen bis tief in die Nacht, baden im See und vielen Stunden alleine zuhause weil der Vater tot war und die Mutter arbeiten musste.
Himmel und Hölle auf der Straße? Was soll das bedeuten? Manchmal sind die Sätze in dem Text tief und wahrhaftig, dann aber wieder trivial und nahezu infantil. Vater tot, Mutter arbeiten. Das klingt im Gegensatz zu einigen anderen Sätzen im Text nahezu unliterarisch.
Berlin war voller Narben, Nebelfetzen und Rauchwolken der Vergangenheit. Mancher Rauch erzählte von Nachtleben, Zigaretten und Alkohol, mancher von Flyern, roten Mützen und ausgestreckten Fäusten. Mancher Rauch erzählte von Uniformen, Gewehren und Totenköpfe. Zerstörung und Sex, genauso wie Hunger und Exzess lagen in der Luft.
Das ist gut. Das ist halt aber auch nur eine Aneinderreihung von Behauptungen, die der Text nicht beweist. Es wirkt wie ein Prolog zu einer Geschichte, die danach noch kommt. Da passt nichts dazwischen, das steht für sich, aber ich würde eben auch gerne die Geschichten erfahren, die da tatsächlich passieren oder passiert sind.

Gruss, Jimmy

 

Hi Detlev,
Danke für dein Kommentar und die lieben Worte. Du scheinst tatsächlich bemerkt zu haben, was ich mit der Geschichte erzeugen wollte. Zu deinem Kommentar über wie das Mädchen den Jungen plötzlich sieht kann ich sagen, dass ich gut verstehe was du meinst und froh bin dass du es bemerkt hast. Mir ist es nämlich nicht aufgefallen. Mein Bild im Kopf ist, dass sie ihn nicht anschaut, sie steht mit dem Rücken zu ihm auf der anderen Straßenseite, das muss ich kann noch in die Beschreibung einführen. Sie sieht ihn dann natürlich weil er zu ihr hingeht und sie anspricht.
Ich nehme an, dass ist der Vorteil wenn einer es liest, der nicht die selben Bilder im Kopf hat wie ich weil ich dann bemerke wo eine Beschreibung fehlt, also vielen Dank.
Zu den verwirrenden Zeitformen und den nicht existierenden Steigerungen kann ich sagen, dass es mir teilweise bewusst war und ich lange darüber nachgedacht habe ob ich es drinnen lassen soll aber mich dann wegen der POV dazu entschieden habe (Sichtweise eines Kindes und noch dazu eines verwirrten Geistes). Trotzdem kann ich noch einmal drüber lesen, und gucken an welchen stellen es vielleicht unabsichtlich war.
Danke auch für deinen Tipp. Überarbeitet habe ich diese Geschichte tatsächlich schon mit ein paar Freunden, davon keiner ein professioneller Schriftsteller aber 1-2 Amateure wie ich dabei. Du kannst die Geschichte gerne rauskopieren wenn du Zeit und Lust hast und zu deines Herzens begehren überarbeiten.
Liebe Grüße
Giu

 

Tausend Berlin-Romane, die in den letzten Jahren erschienen sind, scheinen das anders zu sehen.
Hi Jimmy,
Da kann ich nur sagen, das ich und die Romane uns einigen uns uneinig zu sein.
Danke erstmal für dein Kommentar.
Ich bin tatsächlich muttersprachlich deutsch, habe aber auch einige lokale Begriffe hier drinnen, die dir vielleicht nicht üblich sind, was deine Verwirrung vielleicht erklärt. Zum Beispiel ist Himmel und Hölle ein Spiel dass man mit einem Stück Kreide und einem Stein spielt. Vielleicht heißt das in anderen Regionen anders oder hat generell verschiedene Namen, wie auch immer.
Was die Backstory des Jungen betrifft finde ich es ziemlich offensichtlich, dass er im Krieg gestorben sein muss, was die Vielfalt an Geistern erklärt und mit der Periode einhergeht. Es war weder als Schock oder Provokation gemeint, weil es gar nicht so rüberkommen sollte. Die Geschichte handelt nämlich weniger vom Ost-West Konflikt (um den gerecht zu portraitieren hätte ich mich auch mit der anderen Seite auseinander setzen müssen), sondern mehr über das Nachkriegsdeutschland und was so eine apokalyptische Situation hinterlässt, nämlich die Seelen der verwirrten übriggebliebenen und der große schwarze Geist der Nationalsozialismus (am Ende als Monster beschrieben), der zwar seit der deutschen Niederlage tot ist aber wie ein Geist noch lungert und bis heute nie aufgehört hat zu existieren.
Es würde sich meiner Meinung nach unfair anfühlen die Sichtweise des Jungen zu portraitieren ohne auch in seine Geschichte einzutauchen denn ich bin fest davon überzeugt dass sie ihn auf eine weise, die er nicht versteht auch nach dem Tod noch beeinflusst. Außerdem käme das Ende aus dem blauen würde ich ohne Referenz auf Deutschlands Vergangenheit plötzlich mit dem Nationalsozialismus enden.
Ich verstehe natürlich deine Fatigue mit der Thematik trotzdem vollkommen, da sie tatsächlich schon häufig zum Thema wurde, hier also nur ein mal mehr, aber mich persönlich stört das weniger, weil ich nur gerne zu etwas schreibe mit dem a ich mich auseinander gesetzt habe und b ich spontanen Gedankenstrom generiere. Also hier absolutes Verständnis von mir.
Anderweitig finde ich es interessant, dass du manche Satzwahlen als infantil bezeichnest da ich ja ausdrücklich aus der Perspektive eines Kindes schreibe. Die Mischung aus tiefgründig und infantil ist vielleicht ein guter Ausdruck für die einerseits verlorene Kindheit des Jungen und anderen Kindersoldaten und seiner andererseits ewigen Kindheit durch seinen Zustand als Geist. Trotzdem schaue ich es mir aber selbstverständlich noch einmal an.
Danke nochmal für deine ausführlichen Kommentare.
Liebe Grüße
Giu

 

Hallo Giu,
danke für Deine Antwort und die zugehörige Erklärung - ohne die ich jetzt wirklich auch versucht war, Dir die deutsche Sprache als nicht ganz mächtig anzudichten. Wir haben verstanden. Dann also noch ein bisschen im Text zuckeln, damit er ein bisschen "flüssiger" wird und ohne Stützrädchen (Erklärungen) auskommt.
Schön, wie Du reagiert hast - unaufgeregt und umgänglich. Super!
Liebe Grüße
Detlev

 

Hallo Giu!
Deine Geschichte ist faszinierend, verwirrend, zum Teil poetisch, dann wieder zu umgangssprachlich formuliert für meinen Geschmack.
Ich habe den Eindruck, dass dein inneres Erleben vielleicht so intensiv war, dass es kaum einen adäquaten Ausdruck finden konnte. Vielleicht auch zu voll gepacktß, ich weiß es noch nicht.
Ich erlebe auch nicht, dass du nur aus der Perspektive des Jungen schreibst, da geht dir m.M. einiges durcheinander, mir fehlen Hinterfrundinformationen, ich kann nicht wissen, was in deinen Gedanken passiert, will ich auch gar nicht, denn ich mag es, wenn Geschichten mir Spielraum für Interpretationen lassen.
Das ist sicher viel Potenzial, aber ich nehme dir nicht ab, dass die 'Mischung aus tiefgründig und infantil' ein Stilmittel sein soll, mir kommt es eher vor wie eine Art von Kapitulation vor der Komplexität des Themas.
Nebenbei noch: die Zeichensetzung ist oft fehlerhaft oder nicht vorhanden, auch erscheinen mir manche Satzkonstruktionen missverständlich, aber vielleicht ist das auch gewollt?

Deine Sicht auf das damalige Berlin finde ich außergewöhnlich, ein mutiger Versuch, sich einer grauenvollen Zeit noch einmal zu nähern.
Mit Interesse gelesen.
Viele Grüße,
Jutta

 

Hey Jutta,
Danke für dein Kommentar.
Schön, dass die meine Geschichte zu gefallen scheint.
Naja die mal tiefgründige, mal infantile Schreibart, die dir und anderen aufgefallen ist ist ja auch keine bewusste Entscheidung sondern beim Ausdruck meiner natürlichen Ausdrucksweise entstanden und dann beim Nachlesen bemerkt worden. An was du sagst könnte etwas dran sein nur stimmt es nicht, dass es sich hier im bewusste Anwendung handelt, aber ich weiß es nicht.
Mit der Zeichensetzung setz ich mich beim nächsten Durchlesen in den nächsten paar Tagen einmal auseinander und verbessere wo geht, da ich heute keine Zeit mehr habe. Auf jeden Fall Danke für den Tipp. Mir ist bewusst dass die Sätze ungewöhnlich kurz und häufig gepunktet sind, was davon Stammen könnte, dass ich zur Zeit des Schreibens dieser Geschichte sehr viel Zusak gelesen habe. Ich weiß aber auch das Rechtschreibung und vor allem Zeichensetzung nicht mein Forte sind weshalb sich da echt Fehler hätten einschleichen können.
Danke nochmal und liebe Grüße
Giu

 

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