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Geisterstunde
Erwin war kein normales Gespenst.
Vor allem war er reichlich vertrauensselig. Das war schon generell oftmals ärgerlich, am ersten April aber besonders. An diesem Tag hatten Dieter und Ludwig das schon ausgiebig genutzt. Seine Vertrauensseligkeit erinnerte die beiden ein wenig an mariniertes Fischfilet. Jedem das seine.
Jetzt aber fieberte Erwin der Geisterstunde entgegen. Es war kurz vor Mitternacht und er hatte noch niemals gemeinsam mit Dieter und Ludwig einen gepflegten Mitternachtsspuk betrieben. Vor allem auf die rostigen Ketten war er gespannt. Für alle Fälle hatte er sich schon ein ordentliches Putzmittel eingepackt – er hasste es, sich die Finger schmutzig zu machen. Und wer hatte jemals ein Gespenst mit Handschuhen gesehen?
Noch aber saßen sie zu dritt zusammen und kloppten einen Skat.
„Ludwig?“, sagte er.
„Stör mich nicht, Erwin. Vierundzwanzig.“
„Weg.“ Dieter wollte Ludwig gewähren lassen, denn der hasste es, zu verlieren. Meist konnte er es vermeiden – wenn auch vor allem, weil niemand es mochte, wenn er frustriert den Kühlschrank zu plündern versuchte. Schließlich hatten Gespenster keine Kühlschränke.
„Äh...“, stotterte Erwin. „Hört mal zu, Jungs. Mich würde wirklich interessieren, ob...“
„Nicht reden, Erwin. Man darf niemals das Ziel aus den Augen verlieren. Bietest du mehr?“
„Zweiunddreißig fünfzig. Und einen Tropfen von meinem Putzmittel.“
„Du weißt aber schon, dass wir Skat spielen?“
„Zwei Tropfen?“
Erwin war wirklich kein normales Gespenst. Er konnte nicht einmal Skat spielen. Dieter und Ludwig seufzten auf. „Also, pass auf.“ Dieter nahm willkürlich eine Karte und zeigte sie Erwin. „Dieser Geselle mit der Krone auf dem Kopf, das ist der König. Daher steht da auch so ein nettes K auf der Karte.“
„K wie Kartoffel“, erwiderte Erwin, da ihm plötzlich einfiel, wie er einst versucht hatte, mit Putzmittel einen Sack Kartoffeln zu kaufen. Unwillkürlich musste er kichern.
„Der ist durchgedreht. Bauernskat, Dieter?“ Ludwig suchte rasch nach Alternativen, um die 10 Minuten bis Mitternacht nicht mit Gesprächen verbringen zu müssen. Er hasste lange Gespräche. Vor allem, wenn sie belanglos waren. Von Belang war für ihn nur Spuk. Und da ließ er sich niemals in die Karten schauen.
„Du gibst, los geht’s.“
Erwin kicherte immer noch. Ihm war gerade wieder eingefallen, welch ein lustiges Muster die Kartoffeln auf dem Boden hinterlassen hatten, nachdem er in den Sack gestopft und gemeinsam mit seinen begehrten Knollen aus dem Fenster geschmissen worden war.
„Beruhige dich, Erwin. Es geht ja gleich los.“
„Ich freue mich schon so!“ rief Erwin und sprang auf. Leider riss er dabei den Tisch um und das Thema Kartenspiel war buchstäblich vom Tisch. Und wer das verschüttete Ektoplasma wegmachen würde, war auch nicht so ganz klar.
„Also gut, Erwin. Wir gehen ja schon.“
Erwin, Dieter und, nach den Ereignissen lustvoll wie ein Kartoffelkäfer auf dem Weg zu einer Wasserpfütze, Ludwig machten sich auf den Weg, um sich für die Geisterstunde zurechtzumachen.
Während das bewährte Duo durch die Wand seines Spukarsenals glitt und sich auf die Suche nach den schönsten Ketten machte, lief Erwin dagegen. Leider von außen.
Kaum hatte er sich von der unverhofften Kollision erholt, rief er nach seinen Freunden. Er erreichte dabei locker die Lautstärke eines Löwen im Kampf mit einem Ozelot.
„Hast du was gehört, Ludwig?“ fragte Dieter drinnen.
„Ich glaube, das war Erwin. Hast du ihm die Tür nicht gezeigt?“
„Sicher nicht.“
„Wie soll er dann reinkommen?“
„Seine Sache. Außerdem ist die Tür nun wirklich nicht schwer zu finden. Sie ist knallrot angestrichen.“
„Vielleicht ist er aber rot-grün-blind?“
„Würde eine grüne Tür nicht auch auffallen?“
„Nicht, wenn er glaubt, dass er im Wald ist.“
„Aber es gibt hier keine Bäume.“
„Vielleicht glaubt er nicht an Bäume?“
Knarrend öffnete sich die Tür und Erwin trat ein.
„Ihr hättet mit wirklich zeigen können, wo die Tür ist.“
„Geister können durch Wände gehen, Erwin.“
„Ach ja.“
„Aber jetzt bist du ja da. Such dir einfach eine Kette aus.“
Erwin stürzte sich ins Kettengeflecht. Schnell hatte er eine wunderschöne Kette gefunden. Rostig war sie nicht, dafür lag sie gut in der Hand. Er hatte irgendwie erwartet, dass eine Kette ein bisschen kantiger wäre. Und schwerer. Und vor allem rasselnder.
„Erwin, du hast ein Stromkabel in der Hand.“
„Geht das nicht auch?“
„Nein. Kabel rasseln nicht. Damit kannst du niemanden erschrecken.“
„Ist es aber nicht ohnehin sehr unfreundlich, die armen Leute zu erschrecken? Und das auch noch mitten in der Nacht? Wollen die nicht schlafen?“
Darüber hatte Erwin noch niemals nachgedacht. Er hatte nie Gespenster bei sich gehabt. Aber das musste schon sehr lästig sein.
„Du bist ein Gespenst. Es ist deine Natur, die Leute nachts zu erschrecken. Also such dir eine Kette. Und beeil dich.“
Erwin war desillusioniert, aber auch motiviert. Er wollte bei seinem ersten Mitternachtsspuk mit Dieter und Ludwig nicht der Spielverderber sein. Also schnappte er sich eine Kette, um seine Position zu sichern, allerdings gegen seine Überzeugung. Er fragte sich, ob er sich als nettes Gespenst in der Welt des Spuks würde behaupten können. Vielleicht konnte er eine Gegenbewegung zu den lärmenden Geistern anstoßen. Das würde auch ihr Image verbessern.
„Sehr hübsch, Erwin. Und jetzt rassel mal damit“, sagte Dieter und holte Erwins Gedanken ins Jetzt zurück.
Dieser versuchte, das Metallgebinde ordentlich zu schütteln. Dabei stolperte er leider und stürzte, die Kette über sich reißend. Die Glieder hinterließen auf seiner Haut heitere Striemen. Eine sah aus wie die Fährte eines Dreizehenfaultiers, fand er. Noch während er sich wieder aufrappelte, schwebten Dieter und Ludwig durch die Wand davon. Ludwig drehte sich nicht einmal um, als er noch rief: „Du lebst übrigens noch, Erwin. April, April!“
Erwin blieb zurück und nahm sich vor, nie mehr Ghostbusters zu sehen.
Er ließ die Kette zu Boden gleiten und ging zur feuerroten Tür. Sie war verschlossen. Er seufzte kurz und glitt hindurch.
„Selber!“ rief er.