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Geschichten erzählen. Zwischen Handwerk und 'Gefühl'.

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10.09.2016
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Geschichten erzählen. Zwischen Handwerk und 'Gefühl'.

Ein Thread zu Fragen rund um 'gutes' Geschichtenerzählen.
Was hat das zu tun mit: Handwerk, Wahrheit, 'Gefühl' (oder Emotionen), Träumen, 'Authentizität', Details, Atmosphäre?
Wo liegen die Grenzen des individuell Erzählbaren? Und gibt es solche Grenzen überhaupt?

(Die Diskussion hat sich off-topic unter einer hier eingestellten Kurzgeschichte entwickelt, die dabei allerdings nur als Aufhänger diente; die einzelnen Wortmeldungen sind hier nachzulesen – der Thread ist eine Einladung an alle, die mitdiskutieren wollen.)

 
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Hallo @Henry K. ,

die Story ist von sevas und nicht FlicFlac, den du hier zitiert hast. (Okay, zwischenzeitlich schon geklärt.)

Womit ich indes ein grundsätzliches Problem habe, ist, wenn mir Autoren etwas von Dingen erzählen wollen, von denen sie selbst keine Ahnung haben. Vielleicht liege ich hier völlig falsch, aber die Story liest sich so, als sei sie im Lehnstuhl entstanden. Ich finde, dieses Karl-May-Hafte ist heutzutage nicht mehr glaubhaft und kitschig. Nun will ich natürlich nicht leugnen, dass es große, moderne Erzählungen gibt, deren Autoren das von ihnen geschilderte nicht selbst durchlebt haben. Damit das funktioniert, müssen aber meines Erachtens zwei Dinge zusammenkommen: Die Grundgeschichte muss von allgemeinen menschlichen Konflikten handeln, von denen die Autoren sehr wohl etwas verstehen. Und das Kleid muss penibel recherchiert sein, es müssen Experten befragt, Fachbücher gewälzt und vl Hospitationen unternommen worden sein, sodass echter Umgebungsgeruch am Autor haften geblieben ist.

Das hier finde ich einen super spannenden Punkt, über den ich in letzter Zeit viel nachgedacht habe. Das würde ich gerne aufgreifen, auch wenn es nur mittelbar was mit der Geschichte zu tun hat. Lieber @Peeperkorn , irgendwie denke ich, das folgende Thema (mal wieder, weil sicher nicht zum ersten Mal geführt) wäre auch was für dich, der du dich ja auch intensiver mit historischen Wahrheitsdiskursen auseinandergesetzt hast – wenn ich mich recht erinnere. Falls ja, würde mich sehr interessieren, was du dazu für eine Haltung hast. Ich würde ggf. auch einen extra Thread eröffnen und gleich noch viele weitere Wortkrieger zur Diskussion einladen, falls das nicht nur für mich interessant ist (ich bin sicher, auch @jimmysalaryman und andere hätten dazu was zu sagen, ohne mich zu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen), mal sehen.

(Edelprokrastination, während ich eigentlich lernen sollte)

Du beschreibst hier einen großen, wichtigen Konflikt: In der Regel können sich Schreibende nur glaubhaft über das äußern, was ihnen emotional vertraut ist. Da kommt mein erster Kritikpunkt an deinem Statement. Was du kommentierst, ist ja sozusagen nur die Hülle – viel mehr wäre ja die Frage, ob das Innere 'glaubhaft', ob das 'wahrhaftig' ist. Darum geht es meiner Meinung nach – und wahrscheinlich meinst du das auch. Hier würde ich diese Einschränkung noch einmal deutlich machen wollen. Du schreibst:

Nun will ich natürlich nicht leugnen, dass es große, moderne Erzählungen gibt, deren Autoren das von ihnen geschilderte nicht selbst durchlebt haben.

Das würde ja sonst auch jegliche Fiktion unmöglich machen und die gesamte Literaturgeschichte Lügen strafen. Es geht, finde ich, nicht darum, ob jemand etwas äußerlich selbst durchlebt hat, sondern, ob er das Gefühl nachvollziehen kann – bzw. inwiefern er unzulässig Gefühle auf Situationen projiziert, die zu Unterstellungen bzw. historischen Falschbehauptungen führen. Also Beispiel: jemand macht einen Film über den Sklavenhandel und überwindet sein fehlendes Wissen mit der Unterstellung von selbsterlebten Emotionen, die er den Perspektiven der Betroffenen unterjubelt.
Im Übrigen ist das nicht leicht zu enttarnen/zu bestimmen, was die Sache ja gerade so pikant und spannend macht. Hier wirds thesenhaft: Es bleibt zum Glück, finde ich, eben dieses gewisse Gespür für Wahrhaftigkeit, ein flüchtiges Gefühl des Authentischen – wer dieses Gefühl bzw. diese Deutungskompetenz kultiviert, wird m. M. n. in der Lage sein, unwahre/falsche emotionale Darstellungen aufzuspüren; die daraus entstehen mögen, dass der Autor sich auf klischeegewordene Gefühlsmuster verlassen hat, um sein eigenes emotionales Unverständnis einer Situation zu überbrücken. Umgekehrt dürfte die äußere Geschichte (ob Hardboiled oder Fantasy-Schinken) keine Wichtigkeit (außerhalb von den Wünschen und Zielgruppenorientierungen der Verlage) haben, wenn es dem Autor darum geht, einen emotionalen Gehalt, der sich an große Fragen und deren Beantwortung nach bestem Wissen und Gewissen knüpft, darzustellen – dann mag sein Text schlecht sein, weil er die Fähigkeit, das Selbsterkannte Lesenden nahezubringen, nicht besitzt; oder noch einfacher: weil seine Erkenntnisse für die Leser schlicht irrelevant sind, platt oder von geringem geistigen Erkenntniswert (so hart das klingt). Als eine Art Beleg und auch Versuch der Auflösung dieses hochnervigen, oft zitierten Paradox zwischen Hochliteratur und Unterhaltung sehe ich die (für mich) logische Klischeelastigkeit in Unterhaltungsgeschichten. Die nämlich zielen oft auf spekulative Fragen, die weniger praktisch als einfach interessant sind. Wie verhalte ich mich in lebensgefährlichen Situationen? Wie gehe ich mit einem brutalen übermächtigen Feind um? Wie gehe ich mit dem Gefühl absoluter Auswegslosigkeit, Geworfenheit und der Aussicht auf den sicheren Tod um? Oder im Kontrast: Wie gewinne ich den Partner meiner Träume? Wie leiste ich einen wichtigen Beitrag für die Menschheit? Wie werde ich zu einem Helden?
– klischierte Antworten lauten nicht selten auf Gemeinplätze wie Freundschaft, Aufrichtigkeit, Mut, Disziplin etc. letztlich bürgerliche Moralvorstellungen/Tugenden (vielleicht). Ich glaube, die wenigsten können wirklich Antworten auf solche Fragen geben. Entweder sie können tatsächlich aus eigenen Erfahrungen schöpfen, haben Krieg erlebt oder dergleichen schauerliche Akkumulationen von Elend und existenziellen Fragen, sind furchtbar weise ODER sie schöpfen aus dem Pool des Vorhandenen, der Klischees (frz. cliché – Abklatschbild). Deshalb gibt es in der Unterhaltung so viel Kitsch und deshalb gibt es in der Unterhaltung so viele Meisterwerke, die die wirklich großen Fragen anpacken (weil sie sie wirklich verstanden haben oder irgendwie durchlebt). Damit sei noch eine weitere Möglichkeit der Kompensation angesprochen: Recherche und intensive Auseinandersetzung mit Themen, um zu 'den besseren Klischees' vorzustoßen, also zu sehr feingliedrigen Abziehbildern – ein Weg, es nicht selbst durchleben zu müssen; ein weiterer Grund auch, weshalb wirklich die allermeisten zwar sauber recherchiert erscheinenden Historienschinken doch immer auch wie fein ziselierte Lügen wirken.

Und um zu guter Letzt noch einmal richtig Verwirrung zu stiften: Wie überall gibt es Ausnahmen. In den Künsten ist das für mich die Musik – die nach eigenen Regeln spielt und sich über die anderen Künste erhebt oder abseits davon steht. In der Bildenden Kunst und Literatur bleibt als Trostpreis gegen die Musik die Ästhetik. Und darin als besondere Spielart der Humor. Deswegen entziehen sich ironische und überhaupt humorige Text so gut all diesen Kategorienbildungen oder der Suche nach der Wahrhaftigkeit von Emotionenen, die ja hier nur als Kippbilder zum Einsatz kommen.

 
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Es bleibt zum Glück, finde ich, eben dieses gewisse Gespür für Wahrhaftigkeit, ein flüchtiges Gefühl des Authentischen – wer dieses Gefühl bzw. diese Deutungskompetenz kultiviert, wird m. M. n. in der Lage sein, unwahre/falsche emotionale Darstellungen aufzuspüren;
Woher will jemand wissen, was authentisch ist? Ich finde das immer so geil bei Literaturbesprechungen im Föllitäng, letztens bei dem Roman Shuggie Bain, da lobte eine Kritikerin die "authentischen Dialoge" - woher will die Frau wissen, wie man in der schottischen Arbeiterklasse spricht? Nein, die hat das einfach gekauft, weil sie anmaßend genug war, weil sie glaubte, das beurteilen zu können. Die Frage ist auch, wie ich meine "Recherche" für einen Stoff so umsetze, dass diese das Wissen anderer Menschen legitimiert. Da kann ich auch sagen: Nee, das klingt recherchiert, viel zu viele Details, ich rieche die Recherche.

Mich würde ja auch interessieren, was Karl-May-haft sein soll? Das Sujet oder die Art zu schreiben? Oder das man eigentlich keine Ahnung davon hat, worüber man schreibt? Oder Ist jeder Roman, der im 19 Jahrhundert spielt und sich mit Naturelementen oder Ähnlichem beschäftigt, jetzt gleich Kitsch? Also so Leute wie Larry McMurtry, Thomas Savage, Cormac McCarthy, John Williams - das wäre im Grunde alles Karl-May territory. Mit so kategorischen Aussagen wäre ich persönlich immer vorsichtig.

Ich habe die beste Geschichte über das Boxen von einem Typen gelesen, der noch nie in einem Gym gestanden hat. Der hat sicher auch recherchiert, aber vor allem hat er seinen Stoff komprimiert und das Essentielle verstanden.

Melville ist übrigens beim ersten Stop direkt von seinem Walfänger desertiert. Salter hat einen Roman über das Bergsteigen (!) geschrieben, ohne jemals selber an der Wand geklettert zu sein. Hemingway (da sei mal die neue Doku von Ken Burns empfohlen) hat seine Kriegserlebnisse drastischst übertrieben. Never let the truth get in the way of a good story.

 

Ich denke hier zum Beispiel an das Buch "Butcher's Crossing" von John Williams, der im 20. Jh. lebte und Literaturprofessor war.
Ist nett, hast du schnell gegoogelt. Du kannst das Buch unmöglich gelesen haben, sonst wüsstest du, dass seine Biographie mit der Thematik des Stoffes und wie er diese umsetzt, überhaupt nichts zu tun hat. Auch, was Kampfeinsätze und Landleben mit Büffeljagd zu tun haben sollen, erschließt sich mir nicht. Die Büffeljagd ist doch nur ein plotdevice für etwas ganz anderes. Cormac Mc Carthy hat The Road geschrieben, aber keine Apokalypse erlebt. Ist das jetzt ein kitschiges Buch?

 

@Henry K.

Du stellst doch einfach hier steile Thesen auf, und dann sollten die anderen aber gaaanz entspannt reagieren. Du schreibst hier einem Autoren unter den Text, dass er von seinem Sujet "nüscht" verstehe, was man als Beleidigung auffassen könnte, wenn man wollte. So läuft das aber nicht. Du hast hier recht absolut deine Mär von der Authentizität rausgehauen, und wenn dann Gegenrede kommt, dann reagierst du läppsch und redest dich raus, aber bitte keine Provokationen. Du hast dir da ein Konstrukt gebastelt, was schon lange widerlegt ist. Ein guter Autor kann, meiner Meinung nach, alles authentisch beschreiben, weil er nämlich die Fähigkeit besitzt, die wichtigen Details anzuordnen und präzise Atmosphäre zu erschaffen. Die meisten Kritiker wissen doch gar nichts über das Sujet, über das sie da lesen. Wie willst du denn beurteilen, ob sevas nicht über den Nordpol gelaufen ist und sich in all den Dingen allerbestens auskennt? Weil du dich entschieden hast, dem Ton nicht zu glauben. Wirklich wissen tust du das nämlich nicht. Also reden wir hier von einer ästhethischen Frage. Richard Price hat in seinen Cop-Romanen Worte erfunden, die nachher in den Harpers aufgenommen werden sollten, weil sich da die Fachleute sicher waren, die sind "authentisch" von der Straße. Es waren aber seine Erfindungen. Der Sound hat gepasst, man hat es ihm geglaubt.

Sich einen monokausalen Punkt in Butchers Crossing für deine Argumentation rauszugreifen, wird doch der Debatte gar nicht gerecht. In BC geht es um einen ur-amerikanischen Mythos, eine prä-kapitalistische Narrative, es ist im Grunde eine rags to riches Geschichte, und zudem noch eine von männlicher Obsession und Gier. Die hätte Williams auch ohne seinen Absturz schreiben können.

 

Ich selbst lese am liebsten Literatur mit klaren autobiografischen Bezügen, ohne zu behaupten, dass ich weiss, welche Passagen Berichte und welche Dichtung sind.
Um das zu Ende zu bringen. Du liest dann Literatur, von der du lediglich glaubst, sie sei authentisch. Das ist alles. Dann geht es nicht um den Autoren, sondern um deinen Glauben. Du könntest auch einen Text von einem total authenischen Autoren lesen, der schlecht schreibt und dann zur Konklusion kommen, dass das alles nicht authenisch ist.

Ist jetzt leider offtopic geworden und ich habe auch keine Muse und keine Zeit mehr.

 

Mit Phantasy, historischen Stoffen, Sience Fiction, Märchen, Comics usw. kann mich in 95 % der Fälle jagen.
Melville war Walfänger, London war Goldgräber, Saint-Exupéry und Salter waren Piloten, Hemingway war Kriegssanitäter und -reporter ... Und diese Namen verbindet man nun auch mit den entsprechenden Abenteuerthemen und Konflikten. Das hat seinen Grund.

Da merke ich, haben wir hier einfach unterschiedliche Standpunkte hier versammelt. Ein bisschen wie so ein religiöser Streit über die Abendmahlsfrage :lol:: Ist das Brot nun der Leib oder muss das Brot erst verwandelt werden oder ist es am Ende nur ein rituelles Symbol?

Also dein Punkt scheint mir: Du musst wirklich etwas Vergleichbares erlebt haben, um das zu schreiben.
Ich finde das ein bisschen zu oberflächlich. Und es erstaunt mich dann auch nicht, dass du mit Fantastik nichts anfangen kannst.

Mein Punkt: Ich glaube, du musst das Gefühl, über das du schreibst, kennen. Und das kann abstrakt sein und dir erlauben über so ziemlich alles zu schreiben. Also gerade wie so ein Karl May, Jules Verne. Ob dann historische Details stimmen, ist ja nochmal eine andere Frage. Warum ich denke, dass man das für Historik kaum hinbekommen kann bzw. warum es so schwer ist: Weil Gefühle auch einem historischen Wandel unterliegen. Vorstellung von Kindheit, Familie etc. Da ist schnell Projektion im Spiel, damit es nicht langweilig wirkt; dann wird es Geschichtskultur. Aber klar. Das heißt nicht, das man keine emotional stimmige Story darüber erzählen kann; das ist also eigentlich kein zielführender Punkt.
Ich finde das sehr vergleichbar mit dem Träumen. In unseren Träumen sind wir die genialsten Geschichtenerzähler. Wir erspinnen uns genau die (oft dadurch völlig unlogischen) Story-Konstellationen, nur um bestimmte Gefühle durchleben zu können – aus welchen Gründen auch immer. Wir kennen diese Gefühle aber bereits, wenn auch vielleicht nicht in derselben Intensität. Es können abenteurliche Träume entstehen und trotzdem basieren sie auf dem, was wir kennen, das Gefühl eben. Okay, und jetzt höre ich auf, zu schwafeln. Ums nochmal runterzubrechen.
Mein Punkt: Du musst das Gefühl kennen, dann kannst du es in jede äußerliche Geschichte kleiden. Authentizität=das Gefühl kennen; Kitsch=äußerliche Situationen anderer Stories kopieren, um drumherumzukommen, das Gefühl selbst kennen zu müssen – also letztlich Collage.

Wenn ich dich richtig verstehe, Jimmy, dann ist dein Punkt: Du musst einfach das Handwerk beherrschen, die richtigen Details treffen, die richtige Stimmung erzeugen. Dann entsteht das, was manche 'Authentizität' nennen, was aber vielleicht auch einfach eine feuilletonistische Illusion ist.

Das ist deshalb interessant, weil es das Problem ja nochmal eben auf das sozusagen nicht hintergehbare Handwerk zurückführt.
Ich habe, um ehrlich zu sein, keine Ahnung, was von all diesen Standpunken jetzt der richtige ist. Ich weiß nur, dass ich ziemlich lange keine Story mehr geschrieben habe :D

Wünsche euch beiden einen guten Tag. Und danke, dass ihr in die Diskussion einsteigt. Gerne auch weiter ...

 

Es ist nicht so, als ob das Konzept und auch der wissenschaftliche Hype um die Authentizität nicht auch infrage stünde. Ich denke an Richard Sennetts These, dass die allmählich abgelösten gesellschaftlichen Rollen/Masken den Menschen immer auch einen Halt gegeben haben, den der "Intimitäts- und Authentizitätszwang" (Sennet) ab den 1968ern ablöst, was bei vielen Menschen zu Verunsicherung geführt habe. Dann aber sagt Erika Fischer-Lichte in "Inszenierung von Authentizität" (2000), dass ja letztlich die Authentizität genauso inszeniert werden kann und wird.
Vor diesem Hintergrund steht das nun einmal infrage.
Ich finde es auch schon wichtig, das Thema immer wieder auf das Handwerk zurückzuführen – sonst kann man sich auch im allzu Theoretischen verstricken.
Dass es gelingt, ein Gefühl von Echtheit über handwerkliches Geschick herzustellen, ist auch nicht von der Hand zu weisen. Das zeigen viele Geschichten hier. Gerade auch von den genannten Mitgliedern hier im Forum.

Gruß

 

Wird klar. Da fällt mir trotzdem ein witziges Gegenbeispiel ein. Aber hier kommen wir dann wirklich vom Thema ab. Deswegen nur off-topic im off-topic :-)

Der Künstler Christian Boltanski bzw. was er früher gemacht hat. Er behauptet keine konkreten Erinnerungen an seine Vergangenheit zu haben, er verkauft seine bürgerliche Erinnerung (behördliche Dokumente) etc. 1972 (der Wiki-Artikel ist übrigens nicht zu empfehlen). Dann konstruiert er sich eine abstrahierte Vergangenheit. Er präsentiert Fotos von Freunden und Verwandten als seine eigenen Familienerinnerungen – ja letztlich, so Boltanski, jedermanns Familienerinnerung. Das ist das Prinzip. Passt natürlich gut in die 1970er; zu den Fragen nach Autorschaft rund um Roland Barthes "Der Tod des Autors" (1968) und Michel Foucault "Was ist ein Autor" (1969) – ich musste das lernen; klingt immer sehr schlau, wenn man so etwas anführt, das bin ich nicht. Ich finde es auch nicht furchtbar erhellend, was all diese Leute dazu beigetragen haben, obwohl ich mich damit intensiv beschäftigt habe. Eben weil es sich am Ende doch alles am Text misst (sorry für das Totschlagargument).
Schönen Abend!

 
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Und das bildet sich der Leser auch nicht nur ein.
Jeder Mensch ist oberste Instanz für eine einzige Sache: Sein eigenes Innenleben. Das bedeutet, dass nur der Autor selbst weiss, wie er die Welt erlebt. Wenn nun ein Text eben dieses Innenleben des Autors thematisiert, dann kann man ihm nicht absprechen, authentisch zu sein. Er hat hier a priori immer recht, wenn man so will. Selbst wenn der Autor mit fremden Zungen spricht oder ein verblendetes Selbstbild hat, ist sein Text ein authentischer Beleg für diese Verstellung/Verblendung - was der Leser freilich nur feststellen kann, wenn ihm über den Text hinausweisende Informationen vorliegen.

Ist ein kleiner Widerspruch. Du sagst ja dann, jeder kann sich die Welt machen, wie er will. Was bedeutet denn das Innenleben des Autoren? Damit kann ich alles rechtfertigen. Ich muss nur wissen, wie die Biographie des Autoren aussieht, um das für mich glaubhauft einschätzen zu können - sagst du hier oben im Zitat. Warum hat er sich diesen Charakter herausgesucht? Ah ja, der hat mal auf dem Land gelebt/ist abgestürzt/ war ein Diktator. Das bedeutet eben auch, du suchst die glaubhafte Inszenierung. Du glaubst es dem Autoren nur dann, wenn du seine Fakten kennst, wenn er für dich glaubwürdig ist, im echten Leben. Mich interessiert aber in erster Linie ein Text. Am besten, wenn ich nicht weiß, wer den geschrieben hat.

Ich sage nicht, Authentizität ist nicht wichtig. Aber sie ist nicht das einzige Kriterium. Ein Freund von mir ist Regisseur, er sagt, Authentizität ist eine Illusion. Alles ist gestaged, alles ist eine Lüge, alles eine Darstellung. Natürlich braucht ein Künstler so etwas wie Method Act, eine emotionalen Pool, aus dem er schöpft. Und es gibt auch Dinge, die man erlebt haben muss um darüber zu schreiben, bzw man muss zuerst das Essentielle begriffen haben, um das komprimiert inszenieren zu können.

Und die Frage ist immer noch, wie will ich den Grad der Authentizität überprüfen, wenn es doch eigentlich alles im Innenleben einer anderen Person stattfindet? Da scheint es doch kaum Intersubjektivität zu geben. Also verlasse ich mich auf ein diffuses Konzept der Glaubwürdigkeit. Und das ist eben auch gutes Handwerk.

In der letzten Folge von "Chez Krömer" ist Benjamin von Stuckrad-Barre zu Gast, seines Zeichens ja zweifelsohne Autor, und zwar im Bereich Belletristik.
Ist interessant. Das ist einer, den ich als "Autorendarsteller" bezeichnen würde. Das war ja das Ding der 90er, Literatur die Nabelschau war. Wo dann alle sagten: Wow, der kokst ja schon morgens, suuuuper authentisch der Typ! Da war das ein Stilmittel über jeden selbst erlebten Scheiß zu schreiben. Wer fand das gut? Leute, die wenig bis kaum Berührung mit der echten Welt hatten. Das war dann Selbst-Exploitation für die Gruselstunde des Bildungsbürgertums.

 

Du musst das Gefühl kennen, dann kannst du es in jede äußerliche Geschichte kleiden. Authentizität=das Gefühl kennen; Kitsch=äußerliche Situationen anderer Stories kopieren, um drumherumzukommen, das Gefühl selbst kennen zu müssen – also letztlich Collage.

So meine ich es. Ein Schauspieler muss auch kein Mörder zu sein, um glaubhaft einen spielen zu können. Aber er muss dieses absolute Gefühl anzapfen können, um seinem Akt Glaubwürdigkeit zu verleihen. Ich glaube, es ist bei einem Autoren ähnlich.

 

In deinem Kommentar zur Geschichte im Kinderheim hast du der Autorin unterstellt, nicht zu wissen, wovon sie schreibt, wenn ich mich recht erinnere
Nein, das stimmt nicht. Erstens habe ich niemandem etwas unterstellt. Zweitens ging es da um narrative Aspekte. Da ging es um die Art, wie erzählt wurde. Warum es dieser Trick sein muss.

Die Story war also klar fiktiv, sodass sie gar nicht an Authentizität gemessen wurde
Da wäre ich eben vorsichtig. Es ist doch oft so, dass eben reale Geschehnisse in einer dramatischen Bearbeitung sogar oft übetrieben wird, weil das Leben eben nicht dramatisch genug war. Ich weiß aber, was du meinst. Das ist ein wenig suspension of disbelief auch, ich muss mich da drauf einlassen wollen und dann auch können. Das ist Handwerk, inwieweit das gelingt. Ist vielleicht auch einfach eine Frage des Geschmacks. Pop-Literatur kann so authentisch sein wie sie will, das hat mich einfach nie interessiert. Wenn du nach dem gehst, was Stuckrad sagt, darfst du ja nur Biographien lesen und sehen, und selbst da, wie willst du entscheiden, was nur Inszenierung ist? Es ist halt das Wesen der Literatur, dass auch alles Lüge oder ganz anders gewesen sein könnte.

 

@Henry K.
Bezüglich authentisch ...

Die Römer hatten beispielsweise am liebsten Bauern für ihre Armee. Warum? Weil Leute vom Land naturnäher und härter im Nehmen waren als Städter
Wo hast du denn diese Weisheit her? Nicht wirklich authentisch. Entweder hattest du die römischen Bürgerrechte, dann warst du privilegiert und kamst in eine Legio - oder du hattest sie nicht. Dann ab in die Auxilia. Die Härte bekamen alle beide, durch die drakonische Ausbildung und - wenn man so lange lebte - die Dienstzeit von 20 Jahren; danach gab es dann ein Stück Land zur Bewirtschaftung, etwa in der schönen Pfalz. Vor allem wandelte sich das militärische System im Laufe der Jahrhunderte. Da ist deine Aussage nicht nur sehr unpräzise, sie ist in ihrer Intention falsch, da "hart im Nehmen" durch die Ausbildung exerziert wurde.

 
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Lieber @Peeperkorn , irgendwie denke ich, das folgende Thema (mal wieder, weil sicher nicht zum ersten Mal geführt) wäre auch was für dich
Haha. Letzte Woche habe ich einen Workshop zum Thema "Authentizität im Lehrberuf" geleitet, in dessen Rahmen ich vor einem Haufen Philosophielehrpersonen ein Impulsreferat gehalten habe. Mir schwirrt jetzt noch der Kopf. Und jetzt taucht da in diesem Thread einiges wieder auf, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Vermintes Gelände. Aber ich denke, vieles, was man über die "authentische Lehrperson" sagen kann, gilt auch für den authentischen Autor.

Im Ergebnis haben wir den Begriff ziemlich dekonstruiert. Wenn damit so etwa wie eine Übereinstimmung zwischen bestimmten Verhaltensweisen (Hier: schriftliche Äusserungen in Form eines Textes) und innerem "wahrem" Wesen gemeint sein soll, dann fragt sich schon, was das genau bedeuten mag. Und selbst wenn sich klären liesse, was das innere Wesen eines Menschen ist - was ich nicht glaube - bliebe undurchsichtig, wer denn nun feststellen kann, dass diese Übereinstimmung (objektiv) gegeben ist. Ich denke, dazu ist auch der Akteur (Hier: Autor) selbst nicht zwingend in der Lage. Da gibt es Selbsttäuschungen, Verzerrungen, aber auch situative Verschiebungen. Biographische Erinnerung, mit der viele Autoren arbeiten, ist stets nur eine Rekonstruktion. Eine fixierbare Wahrheit, Echtheit oder so ist da wohl nicht zu finden.

Ich denke eher, der Begriff "authentisch" wird zugeschrieben, entweder aus der Innensicht oder aber der Aussensicht. Diese Zuschreibungen können sich widersprechen. Was einem Autor als authentischer Ausdruck der eigenen Gefühle erscheint, mag von Lesern aus guten Gründen als Potppourri aus Angelesenem wahrgenommen werden. Der Autor ist also nicht notwendig die letzte und gültige Instanz. Umgekehrt gilt daher aber auch: Authentizität kann inszeniert werden, sogar in gänzlich zynischer Weise. Letztlich also eine handwerkliche Frage, ob Unterricht (Hier: ein Text) als authentisch wahrgenommen wird. Dabei ist wohl aber zu vermuten, dass eine zynische oder undurchdachte Inszenierung in den meisten Fällen scheitert, weil Schülerinnen und Schüler (Hier: Leserinnen und Leser) ein gutes Gespür für solche Dinge haben. Ich beobachte zum Beispiel manchmal, wie junge Lehrpersonen vesuchen, locker zu wirken, indem sie sich nicht hinters Pult sondern aufs Pult setzen. Dabei verkrampfen sie sich meistens so sehr, dass es wehtut, ihnen dabei zuzuschauen.
Dass jemand den Tod seines Vaters miterlebt hat, ist somit m.E. keine notwendige Bedingung dafür, um darüber zu schreiben. Aber es wird die Sache wesentlich vereinfachen. Und falls ihm der Tod des Vaters gleichgültig gewesen ist, wird es schwierig sein, die gewünschten Emotionen bei den Lesern auszulösen. Ähnlich bei äusseren Begebenheiten. Wenn ich am Nordpol gewesen bin, wird es mir leichter fallen, darüber zu schreiben, weil ich womöglich sinnliche Details kenne, die man nicht mittels Rechereche in Erfahrung bringen kann. Aber - um den Punkt nochmal deutlich zu machen - für den Leser sind diese Details wichtig, nicht die Tatsache, ob ich tatsächlich dort gewesen bin. Ich halte daher das Beispiel mit den erfundenen Details, die von Lesern für echt gehalten werden, für sehr aufschlussreich.

Mensch, ich merke, dass ich der Diskussion keinen einzigen neuen Gedanken hinzugefügt habe. :bonk: Ich drücke trotzdem auf "Kommentar absenden".

Ah. Ein Gedanke noch. Der grosse Unnterschied zwischen Schülerinnen und Schülern auf der einen, Leserinnen und Lesern auf der anderen Seite ist wohl der, dass sich erstere fast immer authentischen Unterricht wünschen, letztere aber nicht immer authentische Texte lesen wollen. Ich meine, ein guter Teil der (post)modernen Literatur will sich dieser Authentizitätserwartung bewusst verweigern.

 

@Henry K.
Du schreibst:

Wir nehmen immer erst mal an, jemand sage die Wahrheit
Deswegen ist es nicht so einfach, einem Einwand mit

Hab ich mal gehört und fiel mir hier ein. Ist aber nur ein x-beliebiges Beispiel gewesen, an dem das Argument nicht hängt.

zu begegnen, denn unbedarfte Leser ohne Neigung zur Prüfung nehmen das hin. Sie wissen nicht, dass du es "mal gehört hast". Authentizität hat auch etwas mit Wahrheit zu tun. Überprüfbar.

Und genau DANN hängt das Argument dran. Denn Argumente an nicht verifizierte Beispiele zu hängen, diskreditiert zunächst mal den Argumentierenden. Kann aber auch gelenkte Argumente an Menschen binden, die "Wahrheit annehmen, weil sie plausibel klingt" und dann den Rest auch glauben, nämlich das Argument. Authentizität ist dann in diesem Fall eine Scheindiskussion.

 

@Morphin Nun, ich halte es ja für wahr bzw. für plausibel, was ich über die römische Armee gesagt habe. Aber ich bin da keine Instanz und habe auch keine Lust jetzt nachzurecherchieren, nur um ein Beispiel zu erhalten, das austauschbar ist. Jeder Leser wird selbst ähnliche Beispiele finden.
Lieber @Henry K. ,

Du interpretierst da Dein eigenes Weltbild in eine historische Tatsache. Morphin hat recht mit seinem Einwand. Wenn es Dir um Authentizität geht, wirst Du an Recherche nicht vorbeikommen.
Jedenfalls ist das die krudeste Theorie, die ich jemals über das römische Kriegswesen gelesen habe und sie ist durch nichts belegbar. Was Du auch gar nicht willst, sondern Du stellst einfach eine Behauptung in den Raum und verkleidest sie als historische Wahrheit, um eine andere These zu belegen.
Das nennt man übrigens Manipulation. Und da kannst Du Dich auch nicht rausreden mit, das Beispiel sei beliebig austauschbar.
Wenn es Dir schon um authentisches Schreiben geht, solltest Du auch in diesem Sinne argumentieren.

VG
Mae

 

@Henry K.
Tut mir leid, wenn ich das so sagen muss, aber ... das ist für mich jetzt Excuse #50, denn in einer Diskussion wie dieser - NICHT am Stammtisch, NICHT an der Theke zwischen Kumpels und Flaschen - Beispiele (als Belege der Sachlogik) anzuführen, zwingen den Anführenden, den Argumentierenden geradezu dazu eine gründliche Recherche durchzuführen. Denn wenn du es als DEINE Wahrheit ausgibst, steckt auch in der Sachlogik ein Anteil deiner Wahrheit und ist somit nicht mehr objektiv betrachtbar.

Wenn ich etwas behaupte, muss es verifizierbar sein, um als Argument oder Beispiel durchzugehen, ansonsten ist es eben Meinung.

 

Ist zwar hier ein Off-Topic-Thread – aber lasst uns mal wieder zum Thema zurückkommen. Henry, leg dich jetzt hier mal bitte nicht mit allen an. Das hier ist keine Bühne und kein Forum für Trollgemetzel. Das ist nicht der Stil. Also zurück zur Diskussion. Die ist doch nämlich gut und da schätze ich deine Beiträge zum Thema hier bislang sehr. Vielleicht ist das Thema ja aber auch durch und das der Grund für die Exkurse ins alte Rom :D
@Peeperkorn ich schaffe es heute nicht mehr, was Schlaues zu deiner Anekdote und deinen Überlegungen zu schreiben, aber habe sie sehr gerne gelesen!

Nochmal, schönen Abend euch allen!

 

@Henry K. Jede weitere an den Haaren herbeigezogene Behauptung von dir werd ich unkommentiert löschen, wir sind hier nicht beim Kasperletheater. Wenn du keine Lust hast, vernünftig zu diskutieren, dann lass es sein.

 

Lieber @Henry K. ,

danke für die Recherche. Ich hoffe aber, Du kennst den Unterschied zwischen Primär- und Sekundärquellen. Ich könnte behaupten, dass man Hexen verbrannt hat, weil dies eine absolut notwendige Maßnahme sei und als Beleg den Hexenhammer zitieren.

Deine Quelle beweist, was mich zum Schlucken bringt, wenn Du die These ungefiltert aufstellst. Natürlich kannst Du sagen, dass zeitgenössische Autoren oder eben dieser bisweilen die Ansicht vertraten, dass Bauern sich von Natur aus besser als Soldaten eignen.
Aber das macht diese Behauptung nicht zur Tatsache, sondern eben nur zur zeitgenössischen Meinung von Vegetius und sie gewinnt keine Allgemeingültigkeit.

Und was mich konkret zum Schlucken bringt, ist das Standesdenken dahinter. Die Aussage ist natürlich kompletter Unsinn und nichts weiter als eine Rechtfertigung dafür, primär das „gemeine Volk“ zu opfern.

Jetzt beende ich aber den Exkurs ins Offtopic, um die eigentliche Diskussion nicht untergehen zu lassen.

VG
Mae

 

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