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Ghosting

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26.09.2020
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Ghosting

"Hallo, Unbekannte. Du bist gefühlt die tausendste Frau, die ich anschreibe. Bitte, schreibe mir zurück. Ich werde noch wahnsinnig vor Einsamkeit".
Ich sitze an meinem Computer und lösche den Beitrag. Lieber copypaste, wie immer: "Hallo, Unbekannte. Dein Profil klingt spannend. Wollen wir in Kontakt treten?"
Seit einem Jahr suche ich nach einer Freundin auf einem Internet-Portal. Ich weiß nicht, warum ich kein Glück habe. Es ist mühsam.
Mit Corinna war alles anders. Sie hat mir direkt geantwortet. Jeder mail von ihr habe ich entgegengefiebert. Nach einer Woche haben wir es nicht mehr ausgehalten und uns verabredet. Wir haben uns an einem Tempel im Kupark von Schlangenbad verabredet.
Ich sah jede Sekunde auf die Uhr. Sie kam zu spät. Ich setzte mich auf eine Bank, stand wieder auf, ging vor dem Tempel hin und her. Genau genommen war es kein Tempel, sondern eine kleine Trinkhalle. Über dem Eingangsportal war ein Relief in den Stein gehauen: ein Gewirr von Schlangen, die sich um das runde Gesicht eines Mädchens rankten.
Plötzlich stand sie neben mir. Sie war wunderschön. "Hallo", sagte sie. "Per?" "Klar, ja, und du bist Corinna?" Ich wischte mir die schwitzenden Hände an der Jeans ab. "Ich bin schon eine Weile hier", sagte ich, um irgendetwas zu sagen. Sie fixierte mich aus hellen Augen, mit kleinen schwarzen Pupillen. "Ich zeige dir den Park", sagte sie.
Die Äste der Platanen warfen dunkle Schatten auf die Kieswege. In den meisten Beeten blühten bereits Narzissen, Hyazinthen und Tulpen. Nur die Rosenbeete lagen noch mit leerer schwarzer Erde da. Wir setzten uns auf eine Bank an einem leise vor sich hin sprudelnden Springbrunnen, der in einer abgeschiedenen Ecke des Parks lag.
"Wo wohnst du?" "In W. am Rothenbühl. In einer rosa Villa. Wirklich, das ist ein Traum", sagte sie und lachte. Sie lachte ziemlich oft. Ich weiß, was die Grundstücke in W. wert sind. Verlegen betrachtete ich ihre Handtasche aus geprägtem Leder.
In dem Brunnenbecken schwammen Goldfische. Sie beugte sich über das Becken und tauchte ihre Hand ins Wasser. „Mein Freund hat mich betrogen", sagte sie. "Ich konnte nicht mehr mit ihm zusammensein. Aber alleine leben ist nicht immer einfach. Manche Tage sind so zäh, dass ich am liebsten jede Sekunde einzeln totschlagen würde“. „Man kann doch die Sekunden nicht totschlagen“, sagte ich befremdet. „Man schlägt die Zeit tot“. Um nicht pedantisch zu wirken, gestand ich ihr, dass auch für mich die Wochenenden schlimm waren. Ich brauchte dann eiserne Routine. „Vielleicht hat nun alles ein Ende gefunden, nicht wahr?“, flüsterte sie. „Ich will nicht mehr allein sein. Ich will menschlich sein, lebendig.“ Sie legte ihre Hand auf meinen Arm. Ihre Finger waren kalt. „Möchtest du mich denn wiedersehen?“, fragte sie und fuhr mir mit der Hand lockend in den Nacken. „Ich würde dich gerne wiedersehen“, antwortete ich, und das meinte ich aufrichtig.
Es war bereits dämmrig, als sie mich küsste. Am hellen Abendhimmel stand ein blasser Mond. Die Fische waren in dem mit Moos überzogenen Becken nur noch schwach zu erkennen. In der kühlen Luft schwebte der Duft der Hyazinthen. Sie drängte sich an mich und hielt sich fest an mir, als wäre sie am Ertrinken. Ich sah mich um: niemand war zu sehen. Im Park war es still, kein verirrter Spaziergänger ging auf den Wegen. Ich tauchte mein Gesicht in ihre luftige Haarwolke. Ich spürte ihren leichten Körper an meinem Körper. Sie fuhr mit der Hand über meine Hose, in gleitenden Bewegungen… Sie öffnete… ihre Lippen… zeigte… ihre dünne, rasch sich bewegende Zunge… Ich war kein Mensch mehr, ich war Abendluft und Dämmerschatten.
Sie lud mich ein, die Nacht bei ihr zu verbringen!
Ich schlug es aus. Ich senkte den Blick, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.
„Lass uns das ein anderes Mal machen. Ich laufe dir ja nicht weg“, sagte ich.
Zuhause war ich komplett durcheinander. Ich habe bisher kein großes Glück bei Frauen gehabt. An meine beiden Ex-Freundinnen habe ich mich langsam herangetastet, und ehrlich: es waren keine Traumfrauen. Mit Corinna war alles anders. Ich habe noch nie so schnell eine so große Nähe empfunden. Corinna war unendlich schön. Aber war ich eine solche Frau überhaupt wert?
Ich kontrollierte meinen Blutdruck, er war deutlich erhöht.
Ich schlief die ganze Nacht nicht.
Am nächsten Tag wollte ich sie über das Portal anschreiben, um ihr zu sagen, wie sehr sie mir gefallen hatte, aber ihr Profil war gelöscht. Ich probierte es immer wieder, aber ihre Kontaktdaten, ihre Fotos und unsere Briefe waren verschwunden. Ich hatte ihr meine Telefonnummer gegeben, doch sie rief nicht an.
Vierzehn lange Tage suchte ich nach ihr. Ich fuhr nach W. Ich ging durch das Wohnviertel, das sie mir genannt hatte. Vor einer rosa gestrichenen Villa blieb ich stehen. Weder am Gartenzaun noch an der Haustüre gab es Namensschilder. Über die Hecke rief mir eine Frau aus dem benachbarten Garten zu, was ich denn wollte. Ich fragte nach Corinna, aber die Frau sagte, hier wohne niemand, das Haus stehe leer und solle verkauft werden.
In unserer Lokalzeitung las ich, dass eine junge blonde Frau mit dem Auto in den Rhein gefahren war. Aber die Tote hieß nicht Corinna. Ich habe auf der Polizeistation nachgefragt. Ich wollte die Leiche sehen, vielleicht war sie es doch. Vielleicht hatte sie mir nur einen falschen Namen genannt. Niemand ließ mich in die Leichenhalle.
Meine Tage zerfielen wie modrige Pilze. Ich verlor jede Routine. Ich ließ mir einen Bart wachsen. Vor die Haustüre ging ich nur, wenn es absolut notwendig war. Es war, als würde ich mich verwandeln. Entmenschlichen. Immer wieder fragte ich mich, warum sie ohne eine Nachricht verschwunden war. Ghosting: Wie konnte sie mir das antun? Nachdem sie mir so nahe gekommen war? Ich kam mir benutzt vor, weggeworfen, verachtet.
Aber meine Sehnsucht nach ihr war größer als die Kränkung. Jeden Abend fuhr ich nach Schlangenbad. Ich lief den ganzen Park auf und ab, jeden Abend, vierzehn Tage lang, und hoffte, sie würde kommen. Ich war ganz allein in diesem seltsamen Park. Ich lief und lief. Die Magnolien blühten. Auf dem Rasen lagen die herabgefallenen Blütenblätter und verfärbten sich braun. Oft stand ich vor dem Tempel, wo ich sie das erste Mal gesehen habe, und betrachtete den Mädchenkopf und die Schlangen. Ich küsste den kühlen Stein.
Nach zwei Wochen bekam ich Fieber. Ich blieb zu Hause, im Bett, und zitterte in den Fieberschauern. Meine Angst war uferlos. Ich dachte, das ist es jetzt, jetzt stirbst du. Aber ich bin nicht gestorben.
Nach und nach fand ich ins Leben zurück. Du bist ohne Verteidigung, wenn der Tod oder die Liebe dich treffen. Aber ich glaube inzwischen, dass das Leben etwas ganz anderes ist als fortlaufende und dann abbrechende Zeit. Leben, das sind diese unwahrscheinlichen Augenblicke, in denen du in der Dämmerung die kühle Luft und den Duft der Hyazinthen spürst. Wenn du stirbst, darfst du nicht auf den Verlust dessen sehen, was du noch hättest haben können, sondern nur auf den Gewinn, den du schon hattest.
Irgendwann werde ich nicht mehr länger allein sein. Es wird einfach so sein.

 
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Liebe @PattyX ,

herzlich willkommen im Forum. Ich habe in Deinem Profil gelesen, dass Du mehr schreiben und lesen willst. Deine Erzählung ist ein Anfang, an dem Du aber noch arbeiten kannst.

Obwohl: Halt! Erst einmal meine Frage, was wolltest Du schreiben? Als Kurzgeschichte finde ich Deine Erzählung schwierig; für mich ist das eher ein Bericht. Das liegt daran, dass Du sehr viel »Tell« und wenig »Show« hast. Im Grunde könnte man aus der Idee nämlich eine super Kurzgeschichte basteln. Mit Spannungsbogen.
So habe ich das Gefühl, dass Dein Protagonist am Stammtisch sitzt und einmal runtererzählt, was er so in der letzten Woche erlebt hat. Das reicht aber nicht für eine echte Kurzgeschichte (soweit das Dein Ziel war).

Ich würde Dir, falls Du eine Kurzgeschichte schreiben wolltest, den Rat geben, überlege Dir den zentralen Konflikt (Liebe in Zeiten von Corona vielleicht?), Anfangssituation des Protagonisten, Endsituation des Protagonisten und Hindernisse, die den Weg von Anfang zum Ende stören. Vielleicht hast Du schon einmal den Satz "Kill your darlings" gehört. Nicht zu wörtlich nehmen, aber Spannung wird dadurch erzeugt, dass der Prota sich quält.

Die ersten beiden Abschnitte könntest Du meines Erachtens komplett streichen. Was bringt dem Leser das Wissen, dass Dein Prota bei einer Volksbank arbeitet und zur Arbeit radelt?
Viel interessanter fände ich, wie er vor dem Computer sitzt, die richtige Frau sucht. Hat er Fehlschläge? Wie sehen die Chats aus? Was macht diese Frau so interessant, dass er nach Schlangenbad fährt (ein elendes Kaff); wie fühlt er sich dabei?

Anfänger machen häufig den Fehler, dass sie keine wörtliche Rede nutzen oder so spät damit starten, also vorabschicken, das eigentlich in Handlung umgewandelt werden sollte. Lass den Leser aktiv beim Protagonisten sein. Ist er aufgeregt? Hat er schwitzige Hände? Verfährt er sich?

Du schreibst:

Ich war aufgeregt und redete zu viel.

Warum zeigst Du das dem Leser nicht, z. B. : "Plötzlich stand sie neben mir (den Satz davor kannst Du streichen). Sie strahlte mich mit hellen Augen an. Sofort fielen mir die kleinen schwarzen Pupillen auf (hat sie etwas eingeworfen ;)? ) und ihre klaren, geraden Züge auf.
Meine Hände wurden schwitzig. »Ha… hallo. Sonnenblume123? Ich hätte … ich bin Aster456«
»Corinna.« Sie streckte mir die Hand entgegen …"

Ist nur ein Beispiel, aber vielleicht siehst Du, was ich meine.

Unser Gespräch wurde persönlicher

Hier ebenso. Was wird denn nun persönlicher? Worüber sprechen sie jetzt? Warum wird sie so interessant für ihn? Stellt sie ihm die richtigen Fragen? Fühlt er sich geborgen? Verstanden?

Und dann noch zwei Punkte:

Ich finde, dass er etwas übertreibt, wenn er bei der Schule vorbeifährt etc. Das kommt mir fast wie Stalking vor. Wenn eine Frau nicht zurückruft, dann werden die wenigsten Männer versessen nach dieser suchen. Vor allem jemand, der schon viele Online-Date-Erfahrungen hat. Da fehlt mir der Antrieb. Warum macht er das? Ich hoffe, er macht es, weil er total verliebt ist. Aber das hast Du vorher so gut wie gar nicht gezeigt, allenfalls behauptet.

Dass er so krank war, dass er glaubt, zu sterben, und mit Fieberschauern im Bett liegt, aber in diesen Zeiten keinen Corona-Test hatte, wage ich zu bezweifeln. Als Durchschnittsarbeitnehmer muss er spätestens am dritten Tag einen Attest vorlegen. Oder war es dann doch nur eine Männergrippe?

Das war jetzt viel Kritik, aber ich denke, dass Du das besser kannst. Lese einfach einmal ein paar Kurzgeschichten hier oder anderswo und analysiere diese auf den Konflikte und den Spannungsbogen.

Und nicht vergessen, dieses Forum lebt vom Nehmen und Geben. Wenn Du das eine oder andere liest, dann lass vielleicht auch einen Kommentar zurück. Die Autoren freuen sich. :)

Viele Grüße
Mae

 
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Hallo @PattyX

Ich kann deiner Geschichte im Ablauf sehr gut folgen. Es fällt mir schwer mitfühlen zu können. Ich habe auch das mitfiebern vermisst.
Hier zwei Beispiele:

. Ich drückte sie an mich.
Und was geht in dir vor?
Ich schlug es aus.
Ich senkte den Blick, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.

Warum?

Lg CoK

 

Hallo @Dosenfood, Hallo @CoK,
liebe @Maedy,

ganz lieben Dank, dass ihr meine Geschichte gelesen habt, und Dir, dosenfood, danke für die freundliche Begrüßung! Das war richtig nett!
Ich werde mir noch einmal Gedanken machen über den zentralen Konflikt und den Spannungsbogen. Ich finde das schon schwer, aber ich werde versuchen, den Anfang zu streichen und direkt beim Protagonisten anzusetzten. Allerdings sollte der Schwerpunkt eher im Nachdenken dieses etwas autistischen Mannes liegen, der auf Ordnung und Struktur angewiesen ist und durch ein 'außerordentliches' Ereignis aus dem Takt kommt. Der Rest hat sich so dazu gefügt, und da ist mir die Spannung abhanden gekommen.
Ich muss vielleicht alles noch einmal auseinandernehmen und einen klareren Konflikt setzen. Oder die Idee nochmal neu und in einem anderen setting ausprobieren.
Nur bei einem Punkt bleibe ich: Männer wenden ihre Blicke auch ab, das ist geschlechtsneutral;-...

Liebe Grüße
PattyX

 

Liebe @PattyX ,


Allerdings sollte der Schwerpunkt eher im Nachdenken dieses etwas autistischen Mannes liegen, der auf Ordnung und Struktur angewiesen ist und durch ein 'außerordentliches' Ereignis aus dem Takt kommt

Da steckt dann eines der zentralen Probleme. Dass Deine Charaktere Autist ist, kommt nicht rüber. Du hast damit drei Konflikte in einer KG, die noch nicht richtig verbunden sind: Liebe während Corona, das Ghosting an sich und die Bewältigung einer Ausnahmesituation durch einen Autisten. Das ist noch nicht richtig rund.

LG
Mae

 

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