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Giersch
Wenn ich nicht aufpasse, überwuchert es alles.
Mit Handschuhen, Eimer und Jätekralle stand Elisa im kniehohen Unkraut, das in weißen Dolden blühte.
Die Niemeierin von nebenan winkte freundlich herüber.
„Na, auch mal fleißig?“
Elisa bückte sich. Ihre Magensäure floss in den Hals. In der Hocke starben die Beine ab und es zog im Rücken. Schließlich holte sie das Kniebrett, das ihr Markus mitgebracht hatte.
Ein Schlag mit der Kralle, eine Schnecke beiseite geschnipst und sie zog mit der Pflanze ein ganzes Knäuel Wurzeln heraus.
Giersch. Das schlimmste Unkraut der Welt!
Elisa spürte Lust, eine Wurzel in den gepflegten Nachbargarten zu werfen. Sie roch daran:
Grasig, frisch. Angeblich eine Heilpflanze. Zipperleinskraut.
Ihr ging es gar nicht gut.
Zwanzig Jahre Knochenarbeit in der Physiotherapie lagen hinter ihr.
Und immer gesunde Lebensführung gepredigt.
Elisa betrachtete das herausgerissene, hellgrüne Büschel.
Vielleicht hilft es mir, wenn ich es koche.
Mit einem dicken Strauß davon eilte sie ins Haus. Zu Mittag blubberte im Topf ein grüner Brei.
Ihr Sohn Linus und sein Freund Rico wollten für das Abitur lernen und hatten sich in ein Computerspiel vertieft.
„Haste noch mehr Spinat?“, fragte Linus mit Blick auf den Bildschirm.
Am Abend streute Elisa die gehackten Blätter auf Markus’ Kartoffeln wie Petersilie.
„Meine kleine Kräuterhexe.“
Markus öffnete sein Hemd, damit sie ihm den Nacken massieren konnte.
„Merkst du schon was, Kussi?“
Er lehnte seinen grau-braun gelockten Hinterkopf an ihre Brust.
„Wasn?“
„Giersch, wirkt gegen Gicht, Rheuma und Entzündungen.“
„Toll, hab ich das nötig?“
Du natürlich nicht, Kussi, nur dein Ischias.
„Elli, das is ja `n Wundermittel!“ Markus humpelte gebeugt um den Küchentisch und tastete nach Linus‘ Kopf.
„Lahme können wieder sehn.“
Linus nahm einen Stängel mit drei Blättern von der Arbeitsplatte und schnüffelte daran.
„Kann man das auch rauchen?“
„Nee, nur als Tee trinken oder auf deine zerkratzten Mückenstiche legen. Hilft gegen alles.“
„Gegen Welthunger und für Weltfrieden, omm.“
Linus legte die Hände zusammen und senkte den Kopf.
Elisa stemmte die Arme in die Hüften.
„Nimm es doch gegen deine Prüfungsangst.“
Die Jätekralle schenkte sie der Nachbarin, denn Elisa hatte ein neues Hobby gefunden.
„Nun ruhen Sie noch ein bisschen.“
Wie oft hatte sie das ihren Patienten nach der Behandlung empfohlen. Zack, standen die meisten gleich wieder auf, zogen sich an, hasteten weiter und zurrten ihre soeben gelösten Verspannungen wieder fest.
Jetzt hatte sie eine neue Methode:
„Ich habe Ihnen zum Abschluss einen Gierschtee zubereitet, täglich getrunken, reduziert er Übergewicht.“
Das freute die Patientin, die zwar weniger wog als Elisa, aber unter einem Figurproblem litt.
Herr Schröder vom Amt trank den Tee gegen seine Hämorrhoiden und den Tennisarm.
Auch ihrer Freundin Claudia gab sie den Tee. Der ausgebrannten Lehrerin sollte er verbrauchte Energie zurückgeben. Claudia sprang sofort darauf an.
„Tolles Zeug“, sagte sie, während sie ihre Brille suchte. „Wo wächst das?“
„Stopp.“ Elisa gab ihr die Brille vom Fensterbrett. „Ich bringe dir zur nächsten Behandlung ein Sträußchen mit. Man kann es mit Schierling verwechseln.“
So wuschig, wie du bist.
„Huch!“ Die Lehrerin schaute über den Brillenrand eine Dame im Warteraum an. „Tod durch Atemlähmung. Ganz schnell.“ Die Dame wurde blass.
In Claudias Selbsthilfegruppe hielt Elisa einen Vortrag über „Gesunde Lebensführung mit Giersch.“
„Und wer Interesse hat: Unsere Referentin schickt euch gerne die Rezepte zu.“ Flugs schrieb die Lehrerin Elisas E-Mail-Adresse an die Tafel.
Ich könnte sie ermorden - zu viele Zeugen.
Es meldeten sich etliche, die mit unerklärlichen Krankheiten zu kämpfen hatten. Elisa gab Kochkurse.
„Dass ich so etwas noch erleben durfte“, seufzte eine Teilnehmerin. Sie löste ein Blatt aus ihren grauen Haaren und strahlte Elisa dankbar an, bevor sie sich an Stützen mühsam aus dem Raum stakte.
Dafür hat sich der Aufwand gelohnt.
„Wieso schickst du den Kranken kostenlos Rezepte, wenn du damit Kohle machen kannst?“
Markus hat Recht.
Nach und nach häuften sich auf Elisas Schreibtisch Notizen für ein Giersch-Kochbuch.
Mit Claudias Hilfe verfasste sie ein Exposé. Sie konnte zwischen zwei Verlagen wählen. Den ganzen Herbst ordnete sie ihre Zettel, las sich das Ergebnis hundertmal durch und fand immer noch eine Verbesserung. Der Garten lag schon unter Schnee, als sie sagte:
„Ich glaube, ich bin fertig, Kussi.“
Abends suchten Markus und sie noch einen Titel. Sie nannten es „G-Buch“. Im nächsten Frühling erschien es.
Bei der Buchpräsentation im Bioladen konnte sie die „G-Bücher“ gar nicht so schnell signieren, wie sie ihr aus den Händen gerissen wurden. Ihre selbst gebackenen G-Plätzchen reichten nur für die ersten Minuten.
Am nächsten Morgen kam Markus mit zehn Zeitungen vom Bäcker.
Die Fotos! Vollfett.
„Mensch, Elli“, sagte Markus und umfasste ihre Taille, „ich bin stolz auf dich.“
Auftritt in der Gesundheitssendung „Visite“.
Elisa probte vor dem Spiegel, quetschte sich in schlankmachende Unterwäsche und hängte ein teures, lässig wirkendes Kleid darüber. So stellte sie ihr Buch im Fernsehen vor.
„Schon Hildegard von Bingen wusste, welchen Nutzen das Heilkraut Giersch hat.“
Oh Gott, es kratzt im Hals.
„Ätherische Öle, Eisen, Vitamin C und A, Kupfer, Mangan, Titan, Bor, Kalium, Saponine, Polyin, Harz...“ Sie räusperte sich.
Luft, bloß nicht husten.
Ein plötzlicher Brechreiz zwang sie, aus dem Studio zu rennen. Die Aufnahme wurde kurz unterbrochen. Der Moderator übernahm den Rest und sie durfte nach Hause.
Seit der Ausstrahlung dieser Sendung klingelte ständig ihr Telefon. Die Anrufer wollten nicht nur das Buch. Sie wollten auch die G-Produkte kaufen und das am Wochenende.
Die Nachbarin kam zu Besuch. Frau Niemeier setzte sich nur auf die Stuhlkante. Sie trank nicht von dem Tee und sah angewidert die gebackenen Gierschblüten an.
„Lass mal, ist mir alles zu gesund.“
Als das Telefon zum fünften Mal klingelte, stand sie auf.
„Werd dich mal nicht weiter stören. Wo du jetzt so berühmt bist.“
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, rief Elisa die Familie zusammen. Freund Rico bemerkte ihren angespannten Ton und verkrümelte sich sofort.
„Hilfe“, stöhnte Elisa. „Am liebsten würde ich das Telefon abstellen und untertauchen.“
„Nein!“, riefen Markus und Linus gleichzeitig und sprangen aus ihren Sesseln.
„Wir werden das richtig vermarkten, Mama. Website, Werbung.“
Linus steckte sich ein Gebäckstück in den Mund, lächelte verklärt in die gedachte Kamera und mampfte: „Giersch. Gierig nach Giersch.“
„Du kannst sechs Euro für ein Tütchen nehmen, Elli, oder zehn.“
Wissen die eigentlich, wie viel Arbeit in einer Tüte Tee steckt?
„Ich bräuchte Hilfe beim Ernten, Waschen, Trocknen, Backen, Verpacken …“
„Gegen Ächz und gegen Knirsch: Giersch.“
„Wenn ihr mir das Telefon und den Computerkram abnehmen würdet.“
„Sind Kopf und Körper wirsch, geh auf die Pirsch nach Giersch.“
Diese Kerle kugeln sich auf dem Sofa und ich weiß nicht weiter.
„Giersch is geil, Mutti.“
Markus kündigte zum Jahresende seine Stelle im Supermarkt. Er stellte im ganzen Haus Trockensiebe auf und der feinherbe Geruch durchzog alle Räume. Die Küche wurde zur Produktionsstätte. Im Wohnzimmer saßen sie abends vor dem Fernseher und verpackten alles. Die grünen Tüten, auf denen eine weiße Dolde blühte, hatte Linus entworfen. Jetzt studierte er Mediendesign in Leipzig. Wenn er nach Hause kam, musste er zu Rico, weil sein Zimmer als Lager und Büro diente.
Markus rechnete: „Mit dem Versand verdienste mehr als in der Physiotherapie.“
„Die Niemeier spricht nicht mehr mit mir wegen meines Unkrauts.“
„Die hat uns bestimmt beim Gesundheitsamt angemeiert.“
„Die blöden Extrawaschbecken, eins für das Kraut, eins für Geschirr, eins für die Hände.“
„Eins für die rechte Hand, eins für die linke, eins für die Hygiene. Lasse doch. Es gab ja Fördermittel. Wir bauen Seminarräume an. Claudia hilft dir beim Unterrichten.“
Er lächelt.
Schon wieder Grünes zwischen seinen Zähnen.
„Du hast genascht.“
„Is gut für die Potenz, Schatz.“
Im Herbst verdunkelte Markus die Fenster mit Pflanzkästen.
Wie im Gefängnis.
„Wir müssen nächsten Frühling `n Gewächshaus baun, Elli.“
„Das wäre eine Grenzbebauung, da spielen Niemeiers nie mit.“ Sie erschrak über ihren schrillen Ton.
„Wozu kennste Schröder vom Amt? Wir können uns auch ’nen Rechtsanwalt leisten.“
„Ich will mich nicht weiter in deine Projekte verstricken lassen“, schrie sie.
Mir ist schlecht.
Sie rannte zum Bad.
Markus klopfte leise an, trat ein und tröpfelte etwas auf einen Löffel.
"Hau bloß ab mit dem Zeug.“
Der Inhalt des Löffels hinterließ einen grünen Fleck an der Wand. Sie saß auf dem Badewannenrand und hielt ihre schlotternden Knie.
Nachts.
Ich ziehe das grüne Serum in die Spritze und injiziere es in Kussis Vene. Die einfließende Flüssigkeit verödet die Ader zu einem dunklen, runzligen Gekräusel, aus dem im selben Moment neue Äderchen sprießen. Immer neue Äderchen bilden ein Netzwerk, greifen wie Arme nach mir, ziehen mich in das Gewirr hinein.
Mit Mühen enthedderte sich Elisa aus diesem Traum.
In ihrem Brummschädel drehte sich ein Knäuel. Sie taumelte in den Garten. Obwohl es erst einige Tage warm war, spross an allen Enden frisches Grün.
Mistzeug.
Mit der Grabegabel wühlte sie im Beet nach den Wurzeln.
Die Schubkarre war schnell voll.
Brandbeschleuniger. Höllenfeuer.
Der Haufen schwelte nur und die Flamme ging aus. Elisa riss die Mülltonne auf, schleuderte die verschlungenen Keime hinein, streifte sich die Reste von den Armen und presste den Deckel zu. Sie schaute auf das Fleckchen von vielleicht zwei Quadratmetern, das sie umgegraben hatte. Unzählige kleine Gierschstückchen grinsten von dort herüber. Weinend sank sie zwischen die Mülltonnen.
Markus fand sie nicht ansprechbar. Er versuchte, sie aufzurichten, aber sie sackte immer wieder zusammen. Als der Notarzt kam, saßen beide auf der Erde. Markus hielt ihren Oberkörper und schaukelte sanft hin und her.
Der Klinikaufenthalt sollte mindestens sechs Wochen dauern. Marcus brachte ihr einen Laptop.
„Da könn’ wir uns mal skypen, Elli. Und was machen se hier mit dir?“
„Ich habe Maltherapie.“
„Mal doch was Schönes für die Werbung.“
Elisa wechselte die Farbe.
„Is ja gut. Tschüss.“ Ein Schmatzer an ihrem Ohr stimmte sie friedlich.
Abends rief Linus an und spielte ihr seinen Werbespot vor.
„Ga Ga Giersch, schnips, Ga Ga Giersch.“ Er klimperte auf dem Keyboard einen funkelnde Melodie zu dem dumpfen Rhythmus.
Sie schmunzelte müde.
Talent hat er.
Markus strahlte durch den Bildschirm.
„Die Nachbarn wolln weg ziehn.“
Er sah überarbeitet aus, war ganz hager geworden. Seine Haut war grünlich, auch das Grau seiner langen Locken wirkte moosig.
„Der neue Wintergarten, die Anzuchtbeete, der Seminarraum. Na, Elli, was sagste?
„Wie geht es Linus?“
Elisa sah, wie sich eine Hand auf Markus’ Nacken legte. Claudia schaute über seine Schulter. Ihre grün geschminkten Lippen öffneten sich:
"Wie findest du unseren Biotop, Elisa? Schau, mein neues Kleid. Unser G-Label. Markus und ich hatten die Idee. Das wird der Renner, auch international.
Während Markus Claudia anlachte, näherte sich sein Kopf ihrem Kleid, als wollte er sich die Stickerei ansehen. Schließlich lag er auf ihrem Busen, und sie streichelte über seine olivefarbenen Strähnen. Dann brach die Verbindung ab.
Ach, Kussi.
Sie sehen sich nur noch montags nach dem Spaziergang am Computer.
„Hallo Elli. Wir haben den Riesengiersch, den du uns geschickt hast, aufgebrüht. Wie de gesagt hast, der Duft variiert. Also ich find, es riecht 'n bisschen muffig, wie Mauseköttel. Haste das im Krankenzimmer getrocknet?“
„Hauptsache, gesund!“, ruft Claudia dazwischen.
„Is schon abgekühlt, wir wollten nich alleine kosten.“
Sie sieht zu, wie das Paar die Teetassen füllt. An Markus’ Händen treten Adern hervor, als er mit Claudia anstößt und auch ihr zuprostet.
Elisa prostet zurück.
Markus gibt das Kommando: „Zugleich!“
Trinkt schneller, dann schmeckt ihr den Schierling nicht.
Röcheln.
Elisa stellt den Ton leise.
Als Marcus' Kopf endlich nach vorne kippt, wird der Bildschirm grün.
Sie kann abschalten.
Wie befreit nippt Elisa an ihrem Getränk. Es hat die Farbe von OP-Kitteln: Gieronade.
Vor ihrem Fenster verästeln sich langsam die Wurzeln der Dachbegrünung. Im Zimmer wird es schummrig.
Die Schwester rollt den Wagen herein. Sie pfeift zum Klappern der grünen Medikamentenfläschchen eine funkelnde Melodie.
Elisa lächelt, als sie das Lied erkennt und öffnet brav den Mund für die G-Tropfen.