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Glückwunsch, du lebst.
Manchmal, da vergesse ich, dass ich am Leben bin. Gelegentlich erinnere ich mich daran. Ich sage mir: Hey Tom, du lebst. Du kannst sehen, du kannst hören, schau dich mal um, auf was für einem wundervollen Planeten du lebst. Dann denke ich mir: Hey, wieso mache ich nicht einfach das, was ich immer machen wollte. Einfach loslaufen, mit einem großen Rucksack, oder ein Loch graben, ein tiefes, ich könnte so lange graben, bis sich Wasser auf dem Boden sammelt und es dann trinken.
Ich könnte in einer Wüste übernachten. Man sagt, in Wüsten begegnet man Gott.
Ich tue nichts dergleichen. Ich suhle mich weiter auf dem weißen Laken der Sicherheit. Drehe mich und blicke in ein schlummerndes Gesicht.
Eigentlich kenne ich sie überhaupt nicht: Birgit, das ist so ein bescheuerter Name. Ihr halber Körper liegt auf meiner Seite, ganz starr liege ich da, um ja nicht ihre fetten Schenkel zu berühren, oder die bleichen Waden, an denen die Venen blau durchschimmern. Ich habe gar keinen Platz mehr. Ich winde, verrenke mich, doch keine Chance, nein, es ist nicht mehr bequem - ich liege in meinem Bett und es ist nicht bequem, vielen Dank Birgit.
Sie roch nach vergorenem Wein, als sie gestern Nacht in mein Bett kroch. Wieso hast du ihr auch deinen Schlüssel gegeben? Echt jetzt.
Vielleicht durch einen Anflug von sentimentaler Gefühlskeilerei. Vielleicht, weil man das so macht, weil ich es in einem Film gesehen habe. Du Medienhure.
Das ist alles auf Tianas Mist gewachsen.
Wir wohnen nicht einmal zusammen, sie übernachtet nur hin und wieder hier, Birgit, wieso weiß ich auch nicht. Wir haben nicht einmal Sex. Hatten wir das überhaupt schon einmal? Ich glaube zu Beginn, das war vor fünf Jahren. Keine Ahnung, ob er gut gewesen ist, kann mich nicht mehr daran erinnern - war wohl beschissen.
Wirklich schlecht aussehen tut sie ja nicht, sicher, sie hat dieses Pferdegebiss, durch das man immer den Drang bekommt, ihr ein Zuckerstückchen in ihr Maul zu werfen, doch sonst, hey sie ist eine Frau, und hat alles was man dafür so benötigt, klar in einer etwas größeren Ausführung, doch es soll Leute geben, die voll darauf abfahren. Ich nicht.
Ich seufze nur und stehe auf.
In der Küche, stülpe den Kaffeefilter auseinander und fülle ihn mit dem braunen Pulver.
Meine Schwester, Tiana, sie hat mich damals überrumpelt.
>>Nun komm schon mit du alter Langweiler<<, hat sie gesagt, >>wir gehen schön gemeinsam essen<<, hat sie gelogen.
Denn als ich mich dann widerwillig aufmachte, zum Restaurant fuhr, mich wiederfand an einem Tisch für vier Personen, Tiana, ich, Birgit und Birgit - ich rechne sie zweimal, Birgit mich beim Abschied schroff umarmte, mich knuddelte, als sei ich ihr neuer bärtiger Teddy, mir die Luft zuschnürte, ich schon ganz blau angelaufen war, da wusste ich, jetzt ist es vorbei mit dir.
Sonst bin ich ein netter Kerl, doch das mit Birgit ist wirklich ätzend, weil sie mir auch immer Vorwürfe macht: Wieso gehst du nie mit mir zusammen ins Kino? Deine Waschmaschine ist kaputt, repariere sie doch mal. Egon, der Freund von Sarah, der repariert ständig etwas, er kann das, und er hat sie erst neulich in den neuen Italiener am Marktplatz ausgeführt ...
Und das geht schon fünf Jahre so. Fünf Jahre sind wir zusammen, oder wie man das nennen mag. Gelegentlich putzt sie bei mir, kocht mir etwas. Ich esse dann im Wohnzimmer und sie in der Küche, denn ich habe so einen Tick, ich kann nicht mit anderen Menschen essen, bei denen ich mich unwohl fühle. Mir vergeht einfach jedweder Appetit.
Wir spielen das Schauspiel einfach weiter. Haben lieber etwas Beschissenes, als überhaupt nichts zu haben. Lieber das Nichts wollen als überhaupt nichts wollen - scheiße war das Nietzsche?
Tiana dachte wohl: Eine Krankenschwester und ein Altenpfleger, das passt.
Tat es nicht, tut es nicht, wird es nie - tun.
Ich stehe angelehnt am Spülbecken, als Birgit herein torkelt. Sie lässt sich stöhnend auf den Stuhl am Küchentisch fallen, vergräbt den Kopf in den Händen. Ich rolle mit den Augen. Stelle ihr dann aber eine Tasse Kaffee vor das Doppelkinn.
>>Kannst du mir das Insulin spritzen?<<, fragt sie heiser.
Ich hole die Spritze, ziehe sie auf, sie rollt ihr Nachthemd hoch, ich quetsche einen Fettlappen zusammen, ramme die Nadel in die Fettschicht.
Birgit stöhnt auf, >>Au, nicht so doll.<<
Ich drücke ab und grinse zufrieden.
Das ist das beste an unserer Beziehung. Vielleicht sollte ich sie mit einer Überdosis Insulin killen, wie dieser Typ in Memento. Ich könnte sie drüben auf irgendeinem Feld vergraben. Häppchenweise in kleinen Müllbeuteln, so wäre sie nicht so schwer.
Sie bläst in ihren heißen Kaffee. Ich stelle mir vor, wie ihre Speichelpartikelchen, all ihre Bazillen und Alkohol-Fähnchen nun in der Luft schwirren, ich rümpfe die Nase und versuche nicht mehr zu atmen. Vielleicht sollte ich sie fragen, ob sie mir einen bläst, obgleich es mich schon bei der Vorstellung leicht schüttelt.
>>Wieso warst du gestern nicht auf dem Weihnachtsmarkt, wir wollten uns doch treffen?<<, fragt Birgit.
Herrgott dieses Weib. Ich schmettere meine leere Tasse in das Spülbecken und gehe in das Bad. Dusche. Erwische mich dabei, wie ich apathisch, leer, fast schon stoned von der Unbedeutsamkeit meines Daseins, auf die angelaufene Scheibe der Duschkabine starre, das warme Nass ununterbrochen auf mein Halb-und-halb-Skalp fallend. Mit einem Finger zeichne ich in den feuchten Dampf: Ich lebe.