Was ist neu

Grün ist nicht die Hoffnung

Seniors
Beitritt
10.02.2000
Beiträge
2.682
Zuletzt bearbeitet:
Anmerkungen zum Text

Clicks = in Vietnam und späteren Kriegen etwa 1 Kilometer. Heute ersetzt durch NATO-weite standardisierte Entfernungsangaben.

Grün ist nicht die Hoffnung

Matt Koenig
Kein Regen. Keine Sonne. Nichts als Nebel. Die Farben sind weg, verschwunden aus Blättern, Bäumen, den nächsten zwanzig Fuß vor mir. Ich bleibe stehen, gehe in die Hocke. Rob und James schälen sich aus dem Blättergeflecht hinter mir, unzählige feinste Tröpfchen auf der fetthaltigen Farbe in ihren Gesichtern. Schwarz und dunkelgrün. Das Weiß ihrer Augen mitten drin. Sie stoppen, knien neben mich.
»Was gibt’s, Cap?«
Gerade bin ich mir nicht mehr sicher, wer von beiden das gesagt hat. Der Nebel klaut den Stimmen alles Leben. Sie blicken mich erwartungsvoll an.
»Merrill und Wayne sind weg«, erkläre ich.
»Cap, bei dem Nebel werden sie keine dreißig Fuß vor uns sein«, meint Rob und nickt. »Jede Wette«, setzt er nach. James ist still, zieht das Magazin aus seiner Waffe, kontrolliert die Munition und lässt es wieder einrasten.
»Wie oft hast du das schon kontrolliert heute?«, will Rob wissen.
»Kann man nicht oft genug machen.«
Rob grinst. Ich nicke.
Verborgen im Nebel bricht ein Zweig mit einem leisen Knacken, dann streifende Blätter an etwas Unsichtbarem. Wir richten die Waffen aus und legen uns auf den Boden, kriechen seitlich unter dichtes Grün. Schweigen. Warten.

Merrill Gillam
»Scheiße«, entfährt es mir ungewollt als ich mich umsehe. Da ist niemand mehr. Ich schnippe mit den Fingern und Wayne bleibt stehen. Er ist zehn oder zwölf Fuß vor mir. Seine Umrisse schon deutlich im Nebel aufgelöst. Langsam geht er in die Knie. Wir lauschen in den grauen Dschungel. Es ist still. Mehr als still, denke ich. Alle Geräusche gehen verloren. Ich winke Wayne zu mir. Vor ihm quert ein enormer Käfer den Pfad. Immer noch niemand hinter uns. Unmöglich. Kurz bevor Wayne mich erreicht, bedeute ich ihm mit den Fingern, dass wir umkehren. Er drückt sich an mir vorbei und übernimmt die Führung. Wir treten in unsere zuvor gemachten Fußspuren. An nichts von dem, was ich vor mir sehe, kann ich mich erinnern. Als wären wir auf einem neuen Weg. Selbst das Zeitgefühl ist ein anderes. Es gibt keine entfernten Bezugspunkte. Nichts, um abschätzen zu können, welche Strecke wir in welcher Zeit zurücklegen. Dann ein seltsames Grunzen. In die Hocke. Schweigen. Lauschen in alle Richtungen. Rascheln und tapsige Schritte. Wieder Grunzen. Keine Manneslänge vor uns taucht ein Schuppentier aus dem Unterholz auf, riecht, bleibt stehen und entdeckt uns. Wir sind keine Raubtiere. Es mustert uns noch einige Sekunden und verschwindet wieder im Dickicht. Ein Tippen auf Waynes Schulter. Weiter geht’s.

Robert Carlyle
Der Captain ist sichtlich nervös. James sagte einmal, Koenig wäre ein Mensch, der nur glaubt, was er sieht. Da gibt es hier nicht viel zu glauben. Lediglich zehn Fuß um uns herum sind sichtbar. Agarbäume, Feigen, Bambus, Farn, Lianen, Blätter. Alles andere liegt im Nebel. Seit wir vor zwei Tagen über dem Hochland abgesetzt wurden, stecken wir in dieser Suppe. Die Monsunzeit ist vorüber, die Bäume schwitzen das ganze Wasser wieder aus. Kein guter Zeitpunkt, um einen Auftrag zu erledigen.
Wir liegen im Dickicht und beobachten den schmalen Pfad. Aus dem Nebel schält sich ein Stiefel, eine Waffe. Keine AK. Der Captain schnippt mit den Fingern. Waffe und Stiefel verharren für einen Moment, dann lösen sich Wayne und Merrill endgültig aus dem Dunst. Niemand hört den Brocken, der mir vom Herzen fällt. Koenig winkt uns zusammen. Einige Fuß hinter ihm verzieht sich eine hellgrüne Schlange ins Blätterdach.
»Das darf nicht noch einmal passieren«, flüstert Koenig und sieht jeden einzelnen an. »Ab jetzt bleiben wir dichter zusammen«, legt er fest. »Eine Armlänge Abstand.« Aus seiner Brusttasche zieht er die Karte, legt den Kompass drauf und sieht auf die Uhr. »Ich schätze, wir haben noch eine Viertelstunde bis zum Anstieg. Wenn wir oben sind, sollte die Sicht besser werden. Wir sehen etwas, aber werden auch gesehen. Ohren auf! Die Augen nutzen uns wenig hier.«
Wayne drückt sich ächzend hoch. Alle sind erschöpft. Ab jetzt einer direkt hinter dem anderen, die Fingerspitzen an die Schulter des Vordermanns, zwei Mal tippen. Los geht es.

Wayne Harris
Führung übernehmen. Das ist es, was ich gerne tue. Den Anstieg auf den Hügel müssen wir in Serpentinen durchziehen. Der direkte Weg ist zu steil, der Boden noch zu nass. Wasser kommt in einer Art Bachbett vom Hang herab, stürzt immer wieder über kleinere oder größere steile Abbrüche nach unten. Es rauscht und nimmt uns alles Hören. Mit der Hand gebe ich Zeichen nach rechts und deute auf mein Ohr. Nur weg von dieser Lärmquelle. Hier könnte sich uns jemand auf zehn Fuß nähern, ohne dass wir es mitbekämen. Über die Schulter sehen. Alle noch da. Erste Waffe nach links, die zweite nach rechts. In einer Astgabel hangaufwärts liegt eine große Python und hofft auf wärmende Sonnenstrahlen. Das Rauschen des Wassers verstummt zusehends zwischen dem Nebel. Selbst daheim im waldreichen, feuchten Oregon habe ich etwas Derartiges noch nicht erlebt. Schwenke ich die Hand durch die Wand aus feinsten Wassertröpfchen, formt sich sofort ein schmales Rinnsal auf der Haut. Der Nebel ist wie eine Wand. Etwas bricht einen Zweig auf dem Boden und ich gehe in die Hocke, tippe zwei Mal auf mein Ohr und deute vor uns. Schweres Ausatmen ist zu hören. Kein Mensch. Zu viel Luft. Wie ein Fauchen. Ich weiß, dass die Waffen hinter mir im Anschlag sind und ich mich auf das vor uns konzentrieren kann. Ein rutschendes Geräusch. Blätter, jetzt rechts … ein Knurren. Ich spüre, dass es von uns weiß. Und wir von ihm. Es kann nur eine große Katze sein. Ein Leopard, kein Tiger. Das Knurren ist kein Grollen. Dann ist es weg. Den Geräuschen nach zu urteilen weiter hangabwärts. Trotzdem Faust machen und warten. Ich starre auf den Boden vor mir. Ameisen mit allerlei Gepäck, zwei Käfer, bis zehn zählen. Weiter geht’s.

Robert Carlyle
Tatsächlich lichtet sich der Nebel. Wie der Captain vermutet hat. Allerdings wird die Sicht erheblich schlechter. Zunehmendes Sonnenlicht bricht sich an den unzähligen Tropfen und blendet uns. Nichts sehen zu können, macht mich mehr als nervös. Ich würde gerne etwas sagen. Die Stimmen der anderen hören, mich unterhalten, aber schweigender Marsch ist Regel Nummer eins, nur Hände dürfen sprechen. Dann brechen wir endlich durch. Als nähme jemand einen Deckel vom Topf, tauchen unsere Köpfe aus der Suppe auf. Zuerst ist es nur ein heller Schemen. Mit jedem Schritt wird daraus die seit zwei Tagen vermisste Sonne. Zwischen großen, weißen Wolken strahlt sie auf den Nebel. Wir sind oben und entdecken viele weitere Hügel, die grünen Inseln gleich aus dem gleißenden Meer aufragen. Die Schönheit trifft mich unvermittelt. Ein kalter Schauer läuft meinen Rücken hinab. Hoffentlich sieht niemand die wenigen Tränen, die ich an diesen Anblick verschwende. Kopf unten halten. Da ist eine kleine Echse neben meinem Stiefel und erstarrt. Die Hügelkuppe gleicht einer kleinen Ebene, nach Norden und Westen abfallend, voller mannshohem Gras und blühender Rhododendren. Ein intensiver Duft umgibt uns. Die Blüten sind beeindruckend. Tief atme ich ein, bin überwältigt und betört. Fast vergesse ich hier zu sein, mit einer Waffe in der Hand, der Scharfschütze der Gruppe, umgeben von grünem Gras und rosafarbenem Wunder.
»Verteilt euch«, sagt der Captain. »James, bring das Funkgerät.«
Wir verteilen uns. Unsere Kuppe ist der Beginn eines Hügelkamms, der an den Pass von La Lay grenzt. Wayne sichert nach Süden, Merrill nach Norden. Ich nehme den Westen. Zwanzig Fuß vor mir beginnt der Nebel. Und Laos.

Matt Koenig
James gibt mir Zeichen. Die Gegenseite hat bestätigt. Zur Sicherheit verwenden wir codierte Morsezeichen.
»Hier, James, gib das durch.«
Er nimmt den Zettel, klackert den Text in die Mechanik und steckt das Stückchen Papier in den Mund. Wenn die Informationen stimmen, ist auf dem uns westlich gegenüberliegenden Hügel eine Befehlszentrale der Nordvietnamesen, von der aus dieser Abschnitt des Ho-Chi-Minh-Pfades kontrolliert wird. Aus meinem Rucksack nehme ich eine C-Ration. Mit dem Klappspaten steche ich einen Quadratfuß Boden aus und setze mich davor. Das mannshohe Gras bietet ausgezeichneten Schutz. Die Antwort kommt. James notiert und isst wieder den Zettel.
»Position bestätigt. Kontrollieren, ob Charlie dort, wo vermutet. Koordinaten bestätigen. Rückzug. Einsatz folgt dreißig Minuten später«, gibt er wieder und setzt sich mir gegenüber. Ich reiche ihm eine Dose Bohnen.
»Danke, Captain.«
»Die Bohnen werden noch mal unser Tod sein, James.«
»Es wird nur Wayne erwischen, Cap. Der Einzige, der davon Blähungen bekommt.«
Er öffnet die Dose und löffelt die weißen Bohnen in sich hinein. Ich esse lieber Corned Beef. Die leeren Büchsen legen wir in das Erdloch. James steht auf und wechselt sich mit Robert ab. Der setzt sich und starrt durch mich hindurch.
»Alles klar, Rob?«
Nur langsam verändert sich sein Blick.
»Muss ich mir Sorgen machen, Sergeant Carlyle?«
»Nein«, schüttelt er den Kopf, »mir ist gerade eingefallen, dass ich heute zwei Jahre in diesem grünen Irrsinn stecke.«
»Und ein Jahr in unserem Zug«, ergänze ich. »Für wie lange hast du unterschrieben?«
»Zwölf Jahre.«
»Seit wann bist du in Bragg?«
»Seit 1963.«
Ich nicke und reiche ihm den Flachmann rüber.
»Hier trink was auf dein Jubiläum. Du bist ein guter Mann. Ich hab dich gerne bei mir.«
Rob nimmt das Fläschchen und starrt in den Himmel. Dann setzt er an und nimmt einen ordentlichen Schluck.
»Danke, Captain.«
»Wir bleiben über Nacht hier oben. Richtet euren Schlafplatz ein. So dass keiner den anderen sieht, aber in Hörweite.«
Robert kaut einen Müsliriegel und nickt.
»Keinen Hunger, Rob?«
»Nicht wirklich, Cap. Weiß nicht, warum. Vielleicht die Höhenluft.«
»Okay, aber morgen früh gut essen. Alle müssen fit sein.«
»Klar, Captain.«

Merrill Gillam
Wir stehen an der Westseite des Hügels. Der Nebel liegt wie ein Block Gusseisen im Tal vor uns. Koenig schaut auf die Karte, fährt mit den Fingern Linien entlang, sieht auf Uhr und Kompass.
»Der Wetterbericht meint, dass sich der Nebel bis Mittag auflöst«, berichtet er, »es wird wolkenlos und warm. So lange werden wir warten. Ich will nicht mit runtergelassener Hose erwischt werden, wenn die Sonne die Brühe verdampft.« Er blickt jeden einzelnen an. Wir nicken. »Dann ist das beschlossen. Kontrolliert eure Ausrüstung zwei Mal.«
Das tun wir. Verteilt auf alle Seiten, in Hörweite, sitzen wir im Gras, zählen Munition, Granaten, C-Rationen, Fackeln, alles, was wir an uns und im Rucksack haben. Immer wieder klickt und klackt es, dann wird es still. Ich lege mich auf den Rücken und staune über das hohe lanzettförmige, stabile Gras. Tiefes Grün mit dünnen orangenen Fäden durchzogen. Langsam kommt Wind auf. Der Nebel beginnt zu verdunsten. Thermik zieht das Wasser nach oben. Über uns bilden sich dünne Wolken, steigen höher und lösen sich wieder auf. Dieses Land ist wunderschön, denke ich und spüre in diesem Augenblick einen sich langsam bewegenden Druck auf meinem Bauch. Sachte hebe ich den Kopf. Eine hellgelbe Schlange windet sich über die Uniform. Stoppt. Züngelt. Ihr Kopf ist auf mein Gesicht gerichtet. So starren wir uns an. Einen Moment später entschließt sie sich, ihren Weg fortzusetzen. Die Hüfte hinab, hinein ins Gras. Ich hätte ‚Das Handbuch der giftigen Tiere Vietnams‘ nicht im Stützpunkt lassen sollen. Plötzlich trägt der Wind ein Schluchzen, leises Weinen, gepresste Stimmen an uns heran.

Robert Carlyle
Jemand kommt. Aus derselben Richtung, aus der wir gestern kamen. Wir bleiben im Gras liegen. Das Schluchzen wird lauter, dahinter ein helleres Weinen, unterbrochen von einer gepressten Männerstimme. Das Gras raschelt. Drei Personen mindestens. Mann, Frau und ein … Kind? Als sie keine zehn Fuß von mir entfernt sind, gibt es einen kurzen Pfiff vom Captain und wir stehen ruckartig auf. Die entsicherten HKs im Anschlag. Unnötig, Kommandos zu brüllen. Ein kleiner, schmaler Mann, ein Kind auf dem Arm und eine junge Frau mit einem weiteren Kind auf dem Rücken, das offenbar schläft. Sie erstarren, als sie uns so plötzlich auftauchen sehen. Keine offensichtliche Bewaffnung. Die Frau wimmert und geht in die Knie. Der Mann setzt das Kind auf den Boden, hebt die Arme und beginnt wie ein Wasserfall zu reden.
»Robert! Durchsuch sie. Wayne! Sag ihnen, dass sie ruhig sein sollen. James und Merrill! Sichert die Richtung aus der sie kamen.«
Wayne muss nichts sagen. Wir sind zwei Köpfe größer, unsere Gesichter sind angemalt, die Waffen auf diese Menschen gerichtet. Ihre Angst bringt sie zum Schweigen. Es gibt auch nicht viel zu entdecken an ihnen. Außer ihren Kleidern tragen sie nichts bei sich. Das Kind auf dem Rücken der Frau schläft immer noch. Seine Hände sind vor der Brust zusammengebunden, die Füße ebenso.
Wayne gibt Entwarnung. »Captain! Alles in Ordnung.«
»Wayne, sag ihr bitte, dass ich das Kind nehme und es auf den Boden lege«, bitte ich ihn. Er nickt und übersetzt. Ich weiß nicht, ob sie verstanden hat. Wayne wiederholt es. Die Frau setzt sich auf den Boden und weint. Der Mann hat es offenbar verstanden, denn er redet auf sie ein. Mit der Hand berühre ich den kleinen Arm. Er ist kalt und ich schrecke zurück.
»Captain, kommen Sie mal bitte. Hier stimmt was nicht.«
Koenig kommt, setzt sich neben die Frau und hält ihr einen Müsli-Riegel vor den Mund, nimmt ihn wieder zurück, bricht ein Stück ab und kaut es. Dann hält er den Riegel wieder vor ihre Nase. Der kleine Vietnamese redet unentwegt. Koenig legt den Finger an seinen Mund. »Scht!« Vorsichtig nimmt sie dem Captain den Riegel aus der Hand und beißt hinein.
»Wayne, frag den Mann, was mit dem anderen Kind ist.«
Ich verstehe nichts von dem, was Wayne und der Mann reden. Koenig gibt der Frau eine Armee-Schokolade. Sie nickt mehrmals und isst die Tafel in zwei Happen auf.
»Sir, es ist krank. Ziemlich krank sogar.«
Der Captain atmet tief ein. Dann deutet er auf das Kind auf dem Rücken der Frau und zeigt ihr seine offenen Hände. Sie nickt.
»Komm, Rob. Hilf mir, ihr das Kleine abzunehmen.«
»Ist gut, Cap.«
Wieder berühre ich die kalten Ärmchen. »Es ist total durchgefroren.«
»Es ist tot, Rob.«

Matt Koenig
Der Mann erklärte Wayne, dass er die Frau mit ihren Kindern nördlich von hier in einem kleinen Weiler angetroffen und sie sich ihm angeschlossen hat. Beider Ziel ist es wohl, nach Laos zu kommen. Dort leben offenbar Verwandte. Unsere Annahme, es sei ein Ehepaar, war falsch. Die Frau sitzt neben dem Kopf des toten Kleinen und streichelt immerzu über dessen Haare. Gillam hat das zweite Kind, einen Jungen, untersucht, so gut es seine Ausbildung als Sanitäter zulässt. Es hat kleine Bläschen auf der Haut, die ab und zu aufplatzen. Ich habe mit Wayne die Frau gefragt, wo sie genau herkommt, und sie erzählte von ihrem Dorf namens Ba Hi, östlich der Straße die nach Khe Sanh führt. Das ist mitten im nordvietnamesischen Infiltrationsgebiet südlich der Demarkationslinie. Ich habe alle zusammengerufen, denn der Zeitplan ist nicht sehr tolerant.
»Unsere Gäste bringen uns in eine unangenehme Situation«, beginne ich meine Erklärung. »Keine fünf Kilometer Luftlinie entfernt sitzen Nordvietnamesen. Wir wollen dort rüber«, er deutet auf die kleine Gruppe, »sie wollen ebenfalls dort rüber, denn dort ist Laos. Laufen sie den Nordvietnamesen in die Hände, besteht die Möglichkeit, dass man beide verhört. Dann sind wir geliefert.«
Alle schweigen und ich mustere jeden einzelnen intensiv. Knetende Finger, auf den Boden starren, meinen Blicken ausweichen. Gillam hebt den Kopf.
»Sir, ich habe keine Ahnung, was der Junge hat. Es gibt keine Bisse oder Stiche. Nur die Beulen, und es werden mehr. Seine Lunge hört sich an wie durchlöchert. Den Marsch nach Laos übersteht der Kleine sicher nicht. Auch die Frau hat Bläschen auf dem Nacken. Eine Untersuchung lehnt sie ab.«
Ich nicke. »Danke, Merrill. Du hast getan, was möglich ist.«
»Das tote Kind hat ebenfalls diese komischen Beulen. Vielleicht irgendeine Krankheit«, sagt Carlyle mit zittriger Stimme. So kenne ich ihn nicht. Das Ganze hat ihn sichtlich mitgenommen.
»Es ist keine Krankheit, Rob. Frau und Kinder kommen aus Entlaubungsgebieten. Ich denke, sie ist aus diesem Grund geflohen.«
Alle sind still und starren mich an.
»Seht mich nicht so an. Ich vermute, dass es so ist. Ich meine, das Zeug lässt ganze Wälder braun werden. Wenn man eine volle Ladung davon abbekommt, ist das sicher nicht gesund.«
Carlyle steht auf und geht Richtung unserer Gäste.
Merrill hebt die Hand und schüttelt leicht seinen Kopf. »Captain, Sie meinen, dass wir das Zeug auch auf Leute sprühen?«
»Was soll ich darauf antworten, Merrill? Fünf oder sechs Flugzeuge nebeneinander im Tiefflug, bei der Geschwindigkeit … wie soll man ahnen, wer da unten läuft oder wohnt?«
»Ja«, sagt Wayne nach kurzer Zeit, »wie soll man …«
Wayne hat recht. Es ist nicht die Schuld dieser armen Bauern. Aber es ist Krieg, und ich muss meine Entscheidungen danach ausrichten.

Wayne Harris
Der Nebel ist verschwunden. Die Nacht ist schon fast über uns und ein warmer Wind bewegt das Gras. Der Captain hat die Wache übernommen. Die anderen schlafen und ich sitze neben dem kleinen Vietnamesen. Er heißt Nguyen Thoi Bung und die Frau Duong Van Mai.
»Bitte sagen Sie, wann das Kind gestorben«, fleht mich Nguyen an.
»Warum willst Du das wissen?«
»In Vietnam wir müssen das wissen, denn ein Jahr später ist Trauertag. Ohne dass wir wissen, welcher Tag der Tod kam, es gibt nicht diesen Trauertag. Und das ist schlimm.«
Ich habe keine Ahnung, will ich sagen, lasse es aber bleiben. Stattdessen zeige ich meine Uhr, das Datumfenster.
»Heute ist der elfte März 1968. Am neunten März ist das Kind gestorben.«
Er nimmt meine Hand und nickt immerzu.
»Danke. Vielen Dank. Du bist ein guter Soldat.«
Aus meiner Hosentasche hole ich eine Schokolade, lege sie in seinen Schoß. Daneben meine Feldflasche.
»Hier. Gib das dem Kind. Es muss essen und vor allem trinken. Viel trinken. Hörst Du?«
»Ja. Vielen Dank. Ich mache das.«
Der Captain steht plötzlich hinter mir, tippt auf meine Schulter.
»Hol James und kommt auf die Westseite«, murmelt er. Ich nicke Nguyen zu und hole James.

Matt Koenig
»Seid still und hört genau hin«, fordere ich beide auf.
Wir stehen einige Schritte auseinander und konzentrieren uns auf etwaige Geräusche. Das Herausfiltern bestimmter Töne gehört zur Ausbildung und wird über Monate trainiert. James und Wayne haben die Augen geschlossen. Ich setze den Feldstecher an.
»Motoren«, sagt Wayne.
»Ja«, bestätigt James. »Durchgehend. Auf und abschwellend, aber andauernd.«
»Als würden sie sich anstrengen. Unebene Fahrbahn, Löcher, Hindernisse«, sage ich.
Es ist stockdunkel im Tal, dichtbewaldet. Kein Fluss, laut Karte nur ein kleiner Bach. Gegenüber auf dem Hügel der mutmaßliche Stützpunkt. Ich bewege das Glas keinen Inch. Der Wind trägt die Motorengeräusch an- und abschwellend zu uns hoch. Dann huscht ein Licht vorbei. Ein zweites. Kaum auszumachen durch die Optik. Ein drittes Licht, stärker. Licht und Geräusch wachsen in unseren Köpfen zusammen. Sie verschmelzen zu einem Eindruck. So können wir Entfernungen schätzen.
»Eine Kolonne. Wie viel Uhr ist es?«
»Zehn Uhr, Captain«, sagt James.
»Okay. Ich beobachte das Tal, ihr den Hang.«
»Ist gut, Captain.«
James und Wayne entfernen sich von mir. Kein Atemgeräusch soll uns gegenseitig stören. Ist dort unten das unterwegs, was ich vermute, müssen wir nicht dort rüber, um an Informationen zu kommen.

Kurz vor Mitternacht haben wir uns auf die Geräusche und die Lichter eingestellt. Inzwischen können wir immer wieder Stimmen hören, Rufe, Befehle, dann starke Motorengeräusche. Vermutlich wenn Lastwagen steckenbleiben und alle ran müssen, um das Hindernis zu überwinden. Und es gibt langsamere Lichter, die auf halber Höhe im Hang entstehen, hangabwärts ziehen. Aber auch einzelne oder mehrere Lichter, die sich hangaufwärts bewegen. Im Hügel ist definitiv ein Stützpunkt, aber nicht auf der Kuppe. Die Uhr zeigt jetzt Mitternacht.
»James?«
»Captain?«
»Gib durch: Bestätige Hügel. Höhe 300, plus 50, minus 50. Kolonne östlich im Tal. Länge fünf Clicks nach Süden, zehn Clicks nach Norden. Motorisiert. Angriff
»Wird gemacht.«
James tickert die Informationen in die Mechanik.
»Wayne. Weck Merrill und Rob. Geht mit Frau und Kind auf der anderen Hügelseite in Deckung.«
»Was ist, wenn die Frau sich nicht von dem Kleinen trennen will?«, hakt Wayne nach.
»Der Vietnamese soll es in Gottes Namen mitnehmen.«
»Meldung bestätigt, Captain. Antwort: Dreißig Minuten. Zwanzig Minuten Dauer
»Okay. Danke, James. Geh zu den anderen.«
»Ist gut, Cap.«
Ich warte.

Am Himmel sind Schäfchenwolken und verdecken zeitweise das helle Band der Milchstraße. Morgen Abend oder übermorgen wird es regnen. Ich stopfe Gummi in meine Ohren, atme aus und lasse den Mund offen. Ein Blick auf die Uhr. Es ist halb eins und der Angriff wird gleichzeitig an drei Punkten durchgeführt. Von den Maschinen ist noch nichts zu hören. Sie fliegen zu hoch. Aber das Pfeifen und Orgeln der Bomben nimmt rasch an Lautstärke zu. Ich knie mich hin und schirme die Augen ab. Keine Sekunde zu spät. Die enorme Wucht der Druckwellen drückt mich ins Gras. Zwei Teppiche treffen nacheinander den Hügel auf halber Höhe, sprengen die Bäume weg, dann folgen dort zwei enorme Schläge. Die Umrisse des Hügels heben sich und kleine Brocken von Erde werden bis auf meine Höhe geschleudert. Weitere Teppiche treffen den Norden und den Süden gleichzeitig. Der Dschungel dort unten hört auf zu existieren. Die nächste Welle kommt und bringt Napalm. Kanister um Kanister. Ein Gemälde aus Flammen, Kerosingestank, dunklem Qualm vor grellen Explosionen. Es wird Tag. Über mehrere Kilometer brennt alles, was im Tal noch übrig ist. Bäume, Tiere, Menschen. Dann folgt die dritte Welle. Jetzt ist Platz für Streubomben. Mit einem hellen Schlag explodieren sie fünfzig Meter über dem Boden und geben ihre Streumunition frei, treffen weiche Ziele, durchschlagen Blech. Was nicht explodiert, tötet noch Tage später.
Ich warte. Fünfzehn Minuten hat es gedauert. Dort unten überwinden die Überlebenden den Schock. Sie haben Angst und sind verwirrt. Gibt es noch Reste von Leben im Stützpunkt auf der anderen Seite, versuchen sie jetzt an die Oberfläche zu kommen, nur raus aus der Falle. Deshalb folgt die letzte Welle mit Verzögerung. Fünf massive Schläge mahlen sich in das Erdreich des Hügels. Seine Umrisse rutschen ab. Als es ruhig wird, ziehe ich das Gummi aus den Ohren. Unter den Schäfchenwolken entdecke ich die Kondensstreifen der Flugzeuge. Das Pfeifen der Triebwerke entfernt sich. Rob kommt und tippt mir auf die Schulter.
»Captain … der Junge ist tot.«

Robert Carlyle
Eine abgedunkelte Feldlampe bringt ein wenig Licht zwischen das Gras. Wir sitzen kreisförmig um Nguyen Thoi Bung und Duong Van Mai.
»Wir ziehen ab«, teilt uns der Captain mit. »Packt zusammen.«
Ich nicke zu unseren Gästen. »Was ist mit den Leuten?«
Die Frau hockt teilnahmslos auf dem Boden, zwischen ihren Kindern. Nguyen kaut an einem Stück Bambus.
»Wayne, sag den beiden, dass ich ihnen den besten Weg rüber nach Laos zeige. Sie können eine Karte mitnehmen.«
»Okay, Captain.«
Er beginnt mit seiner Erklärung, wird aber vom Mann unterbrochen. Hektisch redet er auf Wayne ein und sieht dabei den Captain an.
»Was sagt er?«
»Die Kinder müssen beerdigt werden.«
Nicht schwer zu sehen, dass der Captain nicht einverstanden ist. Er stochert mit dem Zeigefinger im Boden. Dann zieht er plötzlich den Klappspaten aus dem Rucksack.
»Okay. Bringen wir es hinter uns.«
Wir stehen auf und fangen an zu graben.
»Immerhin sind sie nicht sehr groß«, stellt James fest. Wir ignorieren was er sagt und haben schnell ein entsprechend großes Loch ausgehoben. Nguyen und Duong legen die Körper hinein, dann füllen wir das Loch. Nguyen erklärt Wayne einiges.
»Er bedankt sich für die Karte«, beginnt er zu übersetzen, »denn in drei Jahren werden sie wiederkommen, um die Knochen zu bergen. Dann erst kommt die richtige Zeremonie im Familientempel von Frau Duong.«
»Irre«, sagt James.
»Okay, Wayne. Sag ihnen, dass wir gehen.«
»Ja, Captain.« Er gibt dem Vietnamesen die Hand und teilt ihm mit, dass sie nun aufbrechen müssten. Nguyen und Duong falten die Hände, verbeugen sich vor uns, reden unentwegt, bis der Captain sie wegzieht und die Drei in der Dunkelheit verschwinden.
»Die armen Kinder«, flüstert Merrill in die Stille hinein.
Wir packen zusammen, treten die lockere Erde auf dem Grab fest, essen etwas vom Trockenfleisch.
»Immerhin war der Einsatz ein Erfolg«, sage ich und nehme den Rucksack hoch. Zwischen dem Gras taucht der Captain wieder auf, steckt die Karte in die Brusttasche und geht schweigend zu seiner Ausrüstung, zieht den Rucksack auf den Rücken und hängt die Waffe über. An seiner Hand entdecke ich Blut.
»Das ging aber schnell, Cap«, wundert sich Merrill.
»Wollten sie die Karte nicht?«, frage ich ihn.
Er verneint, sieht das Blut und wischt es an der Hose ab.
»Sie kommen auch ohne Karte zurecht.«
Dann knipst er die Lampe aus.
»Gewöhnen wir uns ans Dunkle.«

 

Hallo @Morphin ,

hier also eine weitere Geschichte aus der Reihe. Ein paar amerikanische Soldaten schleichen sich durch den vietnamesischen Dschungel. Die ersten paar Szenen sind einzelne Stimmungsbilder, die die Soldaten auf ihrem Weg zeigen. Unterwegs treffen sie ein paar Einheimische, die vor dem Krieg bzw. dem Gift fliehen. Schließlich finden die Soldaten den gegnerischen Trupp und geben dessen Position durch. Der folgende Luftangriff lässt nicht viel davon übrig.

Ich bin der Geschichte recht emotionslos gefolgt. Die Namen der Überschriften sind für mich Zeichen, dass nun ein anderer Charakter im Mittelpunkt steht, doch ich assoziiere nichts mit ihnen.

Stilistisch ist es einwandfrei, ich hab keine Anmerkungen zu machen.

Ich hoffe, das hilft dir trotzdem irgendwie weiter.

Viele Grüße
Jellyfish

 

Mahlzeit @Jellyfish,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ja, das ist durchaus so gewollt, dass es nicht zu tief in die Einzelnen hineingeht. Die Handlungen sind trainiert, mechanisiert. Die Episoden sind keine Charakterstudien. Sie belichten einen kurzen Moment und konzentrieren sich auf die Regeln des Krieges. Alle Beteiligten im Krieg sind diesen Regeln untergeordnet.

Ist dir etwas aufgefallen am Ende?

Griasle
Morphin

 

Hallo Morphin,

nein, mir ist nichts aufgefallen.

Viele Grüße
Jellyfish

 

Servus @Jellyfish,

nein, mir ist nichts aufgefallen.
So, habe noch zwei Halbsätze eingefügt am Ende, damit es deutlicher wird. Mitten drin hatte ich versucht, es anzudeuten mit
Unsere Gäste bringen uns in eine unangenehme Situation

besteht die Möglichkeit, dass man beide verhört. Dann sind wir geliefert

Aber es ist Krieg, und ich muss meine Entscheidungen danach ausrichten.

Und dann am Ende kommt er ziemlich schnell wieder. Gibt ihnen eine Karte, die sie dankbar annehmen, denn sie müssen die Stelle ja wiederfinden (wegen Tradition), bringt aber dann die Karte wieder mit. Die Soldaten wundern sich und fragen nach. Dann folgt der Endsatz: Gewöhnen wir uns ans Dunkle. Diesem Satz messe ich zwei Bedeutungen bei. Eine physische und den direkten Bezug auf das Geschehen zuvor.

Ich dachte, das wären genug Hinweise, um es der Fantasie der Leser*innen zu überlassen. Ich hoffe, jetzt funktioniert es besser, denn ohne dieses Ende, ist die Geschichte nicht das, was sie sein sollte.

Grüße
Morphin

 

Hallo @Morphin ,

in der Tat hatte ich wegen diesen Andeutungen gedacht, die Leute würden gleich erschossen werden. Aber dann ist das (aus meiner Sicht) nicht passiert und stattdessen haben sich die Soldaten noch um sie gekümmert. Erst hieß es, der Junge würde es nicht überstehen, aber der Soldat gibt ihm Schokolade und sagt der Frau, er solle viel trinken. Ich hatte verstanden, dass sie ihnen das Ende angenehmer machen. Die Leute sterben ja sowieso. Da sie Einheimische sind, war es für mich schlüssig, dass sie keine Karte brauchen oder vielleicht sogar zugunsten der landfremden Soldaten darauf verzichten.

Okay. Jetzt mit dem Blut finde ich es eindeutig.

Viele Grüße
Jellyfish

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom