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Gravitation

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20.03.2015
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Gravitation

Die Haut fahl, die Lippen bläulich, das wirre Haar feucht vom Morgentau, so finde ich sie zusammengekauert schlafend neben den Mülltonnen. Da gehörst du hin, denke ich, da bist du richtig - und noch im Gedanken spüre ich meinen Selbsthass. Meinen auflodernden Zorn bekämpfend kehre ich ins Haus zurück. Dort stehe ich nun mit der beruhigenden Wärme der Kaffetasse zwischen meinen Händen am Fenster und schaue auf sie hinab. Wie sie dort liegt. So schutzlos. Verletzlich.
Einst liebte ich sie mit einem leidenschaftlichen Verlangen, das sie immer wieder aufs Neue entfachen konnte. Als wir uns begegneten, damals, in meinem vergangenen Leben, reagierten wir sofort aufeinander, wie Chemikalien, die sich in ihrer Verbindung zum Schäumen bringen. In ihren Augen lag etwas Dunkles. Ein Rätsel, das mich rief. Ein Geheimnis, das gelüftet werden wollte. Ich nahm sie und sie liess es zu. Und wir lebten! Wir waren Cäsar und Kleopatra, sie war die femme fatale und ich der Gigolo. Wir liebten und feierten uns. Doch das ist Vergangenheit. Ich nehme einen Schluck aus der Tasse, um den schalen Geschmack der Erinnerung wegzuspülen.
Gestern Abend überspannte sie den Bogen. Nicht zu ersten Mal, doch diesmal brach etwas entzwei. In einem ohnmächtigen Wutanfall riss ich sie an ihren Haaren hoch, zerrte sie durch den Flur und stiess sie zur Tür hinaus. Schrie sie an, sie solle verschwinden, solle nie wieder kommen. Sie tobte und schrie, hämmerte gegen die Tür, bis ich es schliesslich nicht mehr ertrug und mich unter dem Kopfhörer Beethovens Neunter ergab. Die Musik schenkte mir zunächst eine zeitlose Ruhe. Als jedoch der Chor einsetzte fand ich mich in Kubriks Film wieder. Alex' arretierte Augen starrten mich an, mir wurde übel und ich riss die Musik von meinen Ohren. Es war still. Ich schlich zur Tür. Lauschte. Lugte hinaus. Sie war nicht mehr da. Mit einem flauen Gefühl der Leere ging ich ins Bett, um einen schweren Schlaf zu finden.
Ohne den Blick von ihr zu nehmen stelle ich den kalten Kaffee zur Seite. Sie rührt sich nicht. Hält sich raus und wartet meine Entscheidung ab. Fragt mich in stummer Anklage, ob ich tatsächlich so ein Schwein sein kann. Nötigt mich zu reagieren. Wütend verpasse ich der Küchenzeile einen Tritt und gehe hinaus. Als ich sie mit der Schuhspitze berühre schreckt sie hoch. Doch sie tariert ihre Augen nicht richtig aus, bekommt die ängstliche Überraschung nicht in ihren Blick. Sie lügt. Sie war bereits wach und hatte mich erwartet. Ich drehe mich wortlos um. Gehe zurück ins Haus und lasse die Tür offen.
Kurz darauf schleicht sie hinein, den Blick gesenkt, die Haltung eines geprügelten Hundes. Steht einfach nur da, stumm und still. Ich ertrage es nicht, packe ihren Arm und stosse siea ins Schlafzimmer. Der Knall der Tür ist das erste Geräusch, das ich heute bewusst wahrnehme. Ich kehre zurück in die Küche, setze mich an das Fenster. Fühle mich müde. Ausgebrannt.
Dabei brannte ich einst so sehr für sie! Sie war mir eine Offenbarung, ein Feuerwerk der Leidenschaften. Führte mich an geheimnisvolle Orte, dunkel und gefährlich. Jeder neue Tag war auch ein neuer Schritt in einem neuen Land. Und ich folgte ihr bereitwillig, liess mich antreiben von ihrer Gier nach Sensationen. Sie führte mich an meine Grenzen und darüber hinaus. Wollte mehr, immer mehr. Härter, kompromissloser, rücksichtsloser. Und ich, ich liebte sie. Folgte ihr.
Noch nie zuvor war sie so zufrieden, noch nie zuvor erschrak ich derart vor mir selbst, als an dem Tag, an dem ich sie zum ersten Mal blutig schlug. Das war der Tag, der alles änderte. Je grausamer ich wurde, umso friedvoller schien sie. Doch liess ich nach, wurde ich zu sanft, zu zugänglich, wurde sie unerträglich. Reizte mich mit bissigen Seitenhieben, verspottete und verhöhnte mich. Bis ich zuschlug und sie wieder zufrieden zu meinen Füssen liegen konnte. Und ich - ich begann, mich zu hassen.
Das leise Geräusch der Schlafzimmertür holt mich aus meinen Gedanken. Nackt und auf allen Vieren erscheint sie im Türrahmen. Sie möchte Unterwerfung zeigen, doch ihre Augen sind verräterisch. Sie lauert, beobachtet, schätzt ab. Ich stehe auf und trete ihr mit Wucht in die Seite. Sie bricht stöhnend zusammen und tritt den Rückzug an. Schwer atmend stehe ich einen Moment da, greife nach meinem Zorn und versuche, ihn zu bändigen. Als ich das Wohnzimmer betrete liegt sie zusammengekauert am Boden. "Du liebst mich nicht mehr...", ihre gebrochene Kleinmädchenstimme ist kaum mehr als ein Flüstern. "Stimmt.", antworte ich ihr aus der Kälte meines Herzens. Unter diesem Wort entspannt sie sich. Eine Welle der Ruhe geht von ihr aus, die mich zu ersticken droht. Ich ziehe den Gürtel aus der Hose.
Als ich an sie herantrete, drängt sich ein Bild in meine Gedanken. Einsame schlaflose Stunden. Nachtprogramm, n-tv. Die Geheimnisse des Universums. Überschreitet man den Ereignishorizont eines schwarzen Loches, bemerkt man es nicht. Doch man ist schon rettungslos verloren.

 
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Hallo Oilenspiegel,

herzlich willkommen bei den Wortkriegern! :)

Also, ich muss sagen, mich konnte deine Geschichte einerseits überzeugen. Den Zwiespalt des ich-Erzählers konntest du nach meinem Empfinden plastisch und gut darstellen und hast sein hin-und-her-gerissen-sein, die Zwiespalt von Liebe, Hass und Selbstaufgabe so herausgearbeitet, dass er mir rund erscheint.

Andererseits bin ich aber ein bisschen über deine Strategie bzw. Struktur gestolpert: Ich nenne das immer ein Erzählen in Wellenbewegungen. Du steigst auf einer Höhe ein und in Schüben erfährt der Leser dann, wo wir sind, wie wir dahin gekommen sind, was die Situation ausmacht usw. Und da haben sich meiner Meinung nach einige Wiederholungen eingeschlichen, die mich stocken ließen und zwar hier:

Dabei brannte ich einst so sehr für sie!
Plus den folgenden Absatz. Hier dreht sich das Erzählte ein wenig im Kreis, da das oben bereits in dem Absatz: „Einst liebte ich sie mit einem leidenschaftlichen Verlangen ...“ deutlich wurde, was er einst für sie bzw. beide füreinander empfanden. Ich denke nicht, dass du den Text straffen solltest, er ist ja eh schon ziemlich kurz. Aber je kürzer, desto mehr muss jedes Wort sitzen. Wenn du in dem zweiten Absatz über das „Früher“ einen Botschaft eingebaut hast, die sich von der im ersten Mal unterscheidet, so ist sie mir zumindest nicht aufgefallen. Wenn es keine neue Info dort gibt, dann ist der Absatz meines Erachtens redundant.

Sprachlich bin ich nur über eine Formulierung gestolpert:

Schwer atmend stehe ich einen Moment da, greife nach meinem Zorn und versuche, ihn zu bändigen.
Das „greifen“ wirkt hier übertrieben plastisch, fast pathetisch. Er greift ja eher nach ihr.

Ansonsten finde ich es sprachlich gut und, wie gesagt, auch inhaltlich hat mich der Aufbau des Konflikts weitgehend überzeugt.

Ich bin sehr gespannt, mehr von dir hier zu lesen! :)
Mit den sonnenuntergänglichsten Grüßen
die heiterbiswolkig

P.S. Den Titel finde ich rückblickend etwas irreführend, passt meiner Meinung nach auch nicht so ganz. Falls das eine Konnexion mit dem Schluss sein soll(?) kommt es mir dann etwas zu kurz bzw. zu abrupt.

P.P.S. Den Tag "Romantik" würde ich übrigens rausnehmen. Das passt nun wirklich nicht, finde ich. ;)

 

Ich wieder!

So, der Text gefällt mir viel besser als der andere. Das Thema ist sehr ähnlich, aber hier beginnen die Figuren zu leben. Du kannst auch wirklich formulieren, keine Frage. Trotzdem: Es ist Verschwendung von gutem Stoff und es wirkt ein bisschen wie die Scheu vor der großen Mühe, die ein Text kosten würde, der sich dem Thema wirklich annimmt und es nicht bloß ankratzt. So bisschen wie Faulheit wirkt das. Und das ist schade, weil ich die Konstellation wirklich spannend finde und gerne mehr gelesen hätte. Aber nicht so Allgemein. Die Vergangenheit:

Wir waren Cäsar und Kleopatra, sie war die femme fatale und ich der Gigolo.
Okay, es entsheht ein Bild, aber es ist ein Bild, das nicht einzigartig ist und sich praktisch an den Leistungen von Leuten bedient, die wirklich Mühe investiert haben, um Figuren zu beschreiben. Also ich sag das , weil ich glaube, du verschwendest deinen Stoff und du hättest wesentlich mehr Spaß, wenn du versuchen würdest, einen Text zu schreiben, der länger ist, wo man die vergangenheit der beiden erlebt, bis ins jetzt mitgeht und dann eben fühlt, was in ihnen vorgeht.


Lollek

 

Hi Lollek,

Zunächst einmal ein herzliches Danke für deine Kritik. Es stimmt, diesen Stoff könnte man ausarbeiten, bis er zumindest für eines dieser Bahnhofskiosktaschenbücher genügt, auf deren Cover vornehmlich bestrumpfte Damenschenkel zu sehen sind.
Dummerweise geht mir bisher auf der Langstrecke immer die Puste aus. Der Sprint ist mehr mein Ding als der Marathon.
Ich wäre momentan schon zufrieden, wenn ich eine Geschichte über 20 Seiten führen könnte, ohne sie verflachen und versanden zu lassen. Aber ich arbeite dran! Wobei es weniger Faulheit ist, die mich bremst, als die Angst des Scheiterns auf halber Strecke. Marathonläufer, die die Ziellinie nicht zu sehen bekommen sind traurige bemitleidenswerte Gestalten...

Gruss,

Oilenspiegel

 

Hallo Oilenspiegel,

( ... )bis ich es schliesslich nicht mehr ertrug und mich unter dem Kopfhörer Beethovens Neunter ergab. Die Musik schenkte mir zunächst eine zeitlose Ruhe. Als jedoch der Chor einsetzte fand ich mich in Kubriks Film wieder. Alex' arretierte Augen starrten mich an, mir wurde übel und ich riss die Musik von meinen Ohren. ( ... )

Haha, tja, der gute alte Ludwig van. Hat Wiedererkennungswert.

Eine kurze Geschichte. Definitiv gut geschrieben, gut lesbar. Hat mir gefallen, ging mir aber nicht unter die Haut. Mir fehlte hier

Gestern Abend überspannte sie den Bogen. Nicht zu ersten Mal, doch diesmal brach etwas entzwei.
zum Beispiel einfach Text. Ich hätte gerne gewusst, was diesmal anders war. Was war passiert? Was löste die Reaktionen aus?

Der Text wirkt auf mich insgesamt kühl, ich glaube aber, dass dies deine Absicht gewesen ist.

Gruß, Freegrazer

 

Läufer, die nach halber Strecke ausscheiden, wissen aber vielleicht, was sie das nächste mal anders machen sollten. Wer sich aber nicht mal die Turnschuhe anzieht, weil er Angst hat, ist für mich eher bemitleidenswert als jemand, der beim Versuch scheitert

 

Ein strenger, der Herr Lollek!

Ja, ich weiss. Ausflüchte. Scheinargumente.

In meiner Entwicklung vom autodidaktischen Spassschreiber zum ergeizigen Autor habe ich gerade so einigermassen die Experimentier- und Selbstfindungsphase abgeschlossen. Nun kommt dann wohl die Orientierungsphase. Okay, ich weiss jetzt, dass ich schreiben kann. Aber noch nicht wirklich, was ich schreiben will. Doch so lange ich tippe besteht Hoffnung....

Hab Geduld mit mir,
Oilenspiegel

 

Hallo Oilenspiegel,

ja, ganz gut geschrieben, lässt sich flüssig lesen. Auch seinen Konflikt, dieses Hin-und Hergerissensein zwischen Abscheu und der Angst vorm Alleinsein bringst Du ganz gut rüber. Meiner Meinung nach ist das Thema jedoch zu komplex, um es auf zwei bis drei Seiten abzuhandeln. Ich mag es nicht, wenn in Texten Andeutungen gemacht werden, die nicht aufgelöst werden.

Als wir uns begegneten, damals, in meinem vergangenen Leben,...
Hier muss sich jeder Leser seine eigene Version zusammenreimen...was da wohl passiert ist, in dem vergangenen Leben?:confused:
oder auch hier:
Gestern Abend überspannte sie den Bogen.
Was hat sie denn getan? Man würde es gerne wissen...

Kleinigkeiten:

...packe ihren Arm und stosse siea ins Schlafzimmer.
...stoße sie...
..., liess mich antreiben von ihrer Gier...
...ließ...
Ausgebrannt. Dabei brannte ich einst so sehr für sie!
Hört sich nicht so schön an.

Viele Grüße Kerkyra

P.S. Die Erotik habe ich übrigens vergeblich gesucht;).

 

Hallo Oilenspiegel,

und ein herzliches Willkommen hier auf dem Schlachtfeld der Worte und Buchstaben.

Wäre deine Geschichte ein Film, dann sähe ich nur Totale. Also immer Einstellungen aus dem Weitwinkel.
Bei deinem Text ist mir ein bekannter Tipp von Robert Capa (Fotograf) eingefallen:
Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran.

So ist es für mich mit deiner KG. Du zeigst mir einen Zustand eines Paares wie eine Dokumentation.

Spannend als Leser wird es für mich, wenn das ein Spielfilm wird. Du musst uns Szenen bringen, wie die zwei miteinander agieren. Also nicht die Unterwürfigkeitsnummer, die das Resultat seiner Kotzbrockigkeit ist, sondern Begebenheiten, die davor geschehen sind. Zoome an die zwei ran, erzähle uns eine Story aus dem Alltag. Da gab es doch einzelne Stationen der Beziehung - beleuchte ein, zwei oder drei. Dann wird final die Vorgehensweise des Protagonisten vielleicht etwas klarer. Ich will Bezüge haben, sonst verstehe ich nicht, wie er ihr mit dem Fuss in die Eingeweide kicken kann.

Das als kleiner Aspekt von mir,
liebe Grüße
bernadette

 

Liebe bernadette,

Die Veröffentlichung von Gravitation in diesem Forum war für mich ein kleines privates Experiment. Ich setze mich seid einigen Jahren mit der Bedeutung von BDSM für mich auseinander, wobei mein Fokus dabei immer auf den konstruktiven (Die Essenz) und destruktiven ( Gravitation) Beziehungsaspekten lag. Gravitation ist sozusagen ursprünglich für ein "Fachpublikum" geschrieben und wurde dort naturgemäss ganz anders diskutiert. Ich war gespannt, wie der "unbedarfte" Leser reagieren würde und stehe nun vor einem gleichermassen ernüchternden wie lehrreichen Ergebnis.

Schriftstellerisch ist für mich das Themenkorsett BDSM abgearbeitet. Auf diesem Gebiet habe ich mir meine Fragen beantwortet. Eine Ausarbeitung von Gravitation wäre für mich thematischer Stillstand. Jedoch beginne ich mit dem Gedanken zu liebäugeln, tatsächlich eine längere Beziehungsgeschichte anzugehen.

Mal schauen, ich kau noch darauf herum,

Oilenspiegel

 

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