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Hügelsage
Ob es so ist oder nicht - wer will, wer kann dies überprüfen?
Man sagt, an manchen Tagen, öffne sich am Hügel die Erde und sechs Gestalten kämen hervor gekrochen. Die Eine habe einen großen roten Kopf und blicke mit zornigen Augen um sich. Die Zweite verwerfe wild die Hände und rede laut vor sich hin. Die Dritte fuchtle mit einem weißen Tuch, als wolle sie nach Fliegen schlagen und verbreite dichte Nebelschwaden. Still schreite die Vierte vor sich hin und webe weiche Grasteppiche. Wo die Hände der Fünften über die Gräser strichen, färbten sie sich zu hellen, gelb- und samtiggrünen Kissen. Wo die Sechste ihre Blicke ruhen ließe, erblühten rote, blaue und violette Blumen wie feinste Stickerei im Gras. Dies sah nur, wer sich dicht heranwagte an die seltsame Schar, aber dies wagte schon lange niemand mehr.
Es gibt auch keinen Kalender, der nachweist, dass sich vielleicht zur Sonnenwende, in der Heiligen Nacht oder zur Osterzeit eine Fahrt an diesen Ort lohnt, um mit eigenen Augen zu sehen, was sich ereignet. Sie sagen, dass meist dann, wenn sich ein Sturm vorbereitet; wenn die Seeschwalben, Lachmöwen und wenigen Basstölpel verstummen und sich in ihre Nester zurückziehen; wenn selbst die hohen und harten Gräser still stehen und auch nicht das leiseste Zittern mehr zeigen; dass meistens dann, aber nicht immer, auf dem Hügel sechs Häuser und einige Nebengebäude sichtbar werden.
Einstmals wohnten darin der Zornkopf, der Widerredner, der Nebler, die Weberin, die Färberin und die Stickerin. Der Zornkopf regte sich ständig über die Alltäglichkeiten des Lebens auf. Er war nicht bereit, sich darein zu schicken. Das animierte den Widerredner, zu beweisen, dass alles auch eine ganz andere Seite hat, dass es auf den Standpunkt ankommt, dass es letztlich vielerlei Wissen bedarf, um in einen berechtigten Zorn auszubrechen. Sie stritten heftig und wollten sich sogar schlagen. Das rief den Nebler auf den Plan. Er fuchtelte mit seinem weißen Tuch und vernebelte alles, die Häuser, den Hügel, auch den Zornkopf und den Widerredner.
Die Weberin, die Färberin und die Stickerin sahen tatenlos zu, wie ihre Werke im Nebel schwanden, moderten und sich auflösten. Sie klagten und weinten, bis ein Sturm all dem Hin und Wider, dem Weinen und Klagen ein Ende bereitete.
Die tobenden Wasser des nahen Meeres schäumten und gingen hoch. Sie überspülten den Hügel und die sechs Häuser. Der Zornkopf, der Widerredner, der Nebler, die Weberin, die Färberin und die Stickerin versanken in der aufgeweichten Erde.
Als die Wellen kleiner wurden und zurück ins Meer flossen, flüsterten sie:
„Wenn ihr den Wunsch nach Frieden habt und, statt zu streiten, zu vernebeln, zu weinen und zu klagen, den Frieden halten wollt, so dürft ihr zurück in eure Häuser.“
Sie haben es wohl oft versucht, sagt man. Es ist ihnen bisher aber nicht gelungen.