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Haferflocken

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10.02.2000
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Haferflocken

Auf dem Kühlschrank entdecke ich die Haferflocken. Eine 500g-Packung. Sie steht auf dem Abluftgitter und ich rücke sie einige Zentimeter nach vorne. Mir fällt plötzlich ein, was meine Oma mir fast täglich als Mittagessen auf den Tisch stellte, wenn ich gegen halb eins vom Kindergarten kam: Haferflocken mit Kondensmilch und Zucker. Der klebrig-süße Geschmack hängt mir heute noch im Mund und seitdem esse ich Haferflocken nur noch, wenn sie einen verschwindend kleinen oder unsichtbaren Anteil an der Speise einnehmen. Aus einem Reflex heraus zwirble ich den Drahtverschluss auf und schaue in die blaue Verpackung. Zwischen den Haferflocken tummeln sich Larven von Lebensmittelmotten und deren Spinngeflecht hat Flocken und Larvenhüllen zu einem kunstvollen Gebilde verbunden. Ich schmeiße die Packung in den Mülleimer und sehe auf die Uhr. Halb sieben. Der Radiowecker auf der Ablage springt an und im Flur höre ich Elisas Schritte. Sie tritt in die Küche und schaltet die Kaffeemaschine ein.

»Morgen«, sagt sie zum Hängeschrank vor ihrem Gesicht.
»Morgen«, antworte ich. »Da standen Haferflocken auf dem Abluftgitter vom Kühlschrank. Hab sie weggerückt. Die warme Luft muss ja weg.«
»Schön«, entgegnet sie. »Und wo sind die Haferflocken?«
»Im Mülleimer. Waren voller Motten.«
»Toll. Müsste man halt mal essen, die Haferflocken.«
»Ich esse keine Haferflocken. Das weißt du doch.«
»Was ich alles so weiß …«
Sie drückt auf den Knopf „Extra starker Kaffee“ und die Maschine beginnt zu mahlen. Ich schweige. Gegen die Maschine komme ich nicht an. Lieber schalte ich den Radiowecker aus.
»Warum schaltest du aus?«, will Elisa wissen und holt die Milch aus dem Kühlschrank.
»Zu viel Lärm. Kaffeemaschine und Radio. Ich hätte es gerne ruhig.«
Sie stellt die Milchpackung ein wenig zu laut auf den Kühlschrank, dreht sich kurz um und blickt mich mit eindringlichem Blick an. Ich kann förmlich die Unmenge an Gedanken hinter diesen Augen sehen und wie sie wilde Kombinationen formen, die mir ausgesprochen bestimmt nicht gefallen. Es klackt und die Maschine wirft das ausgepresste Kaffeepulver aus. Elisa gießt einen Schluck Milch in die Tasse. Sie setzt sich an den Tisch, knabbert einen Nagelfetzen von ihrem Daumen und trinkt einen Schluck Kaffee.
»Was machst du heute?«, will sie wissen. Es ist ihr Code, mit dem sie andeutet, dass sie arbeiten geht und ich zuhause rumsitze. Ich beschließe, das Spiel heute Morgen nicht mitzumachen, denn meistens antworte ich mit „Nichts“, was der Realität recht nahe kommt.
»Ich geh rüber zu Hartmanns und geb dem Jungen ein wenig Computerunterricht.«
Elisas Hand, in der sie die Tasse hält, stoppt auf halbem Weg zum Tisch.
»Warum das?«
»Na, Heinz hat mich gebeten, seinem Jungen zu helfen. Der braucht ja irgendwie mal ein paar Perspektiven. Hauptschule abgebrochen, von hier nach da durchgereicht, CJD, Caritas, AWO, alle verdienen sie Geld an ihm auf Staatskosten, aber er kommt immer in dieselben Kurse, die nichts bringen. Der Junge braucht individuelle Förderung.«
Elisas Blick ist seltsam ausdruckslos. Sie schlürft an ihrem Kaffee.
»Und du bist der individuelle Förderer?«, fragt sie mit spöttischem Unterton. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein. Trotzdem schweige ich.
»Wenn du für dich selbst oder mich oder uns genau so viel tätest, wäre das ja mal ein Lichtblick.«
Ich denke an die Haferflocken im Mülleimer. Ich muss später unbedingt den Müll runtertragen, bevor die Motten aus der Tüte entkommen.
»Hab schon verstanden«, sagt Elisa in ätzendem Tonfall. »Der Herr schweigt.«
Ich ziehe tief die Luft ein. Also doch im Spiel.
»Was soll ich deiner Meinung nach denn heute tun?«
Elisa verdreht die Augen.
»Was eben wichtig ist! Geh zum Venenarzt. Wie lange ist das schon her? Sechs oder sieben Jahre? Vielleicht hat sich ja was getan mit deinen Venenklappen. Da muss man doch mal wieder draufschauen!«
»Da hat sich aber nix getan. Sieht immer noch gleich scheiße aus. Tut immer noch gleich weh, wenn ich knie oder lange stehe. Was sollen die Ärzte mir Neues sagen?«
Ich stülpe ein wenig die Lippen vor und imitiere meinen Hausarzt. 'Joa, immer schööön de Strömp anzieje, damit et Wasser nit in de Beine bliev.'
Elisa schüttelt den Kopf.
»Und was ist mit der Klinik? Du wolltest doch eine andere Klinik aufsuchen und mal fragen, ob die mit deinen Dingens, deinen Depressionen umgehen können.«
»Das Dingens nennt sich Rezidivierende depressive Störung, mittelgradig
»So etwas kannst du dir merken. Aber wenn ich dich bitte, dieses oder jenes zu erledigen, das vergisst du immer.«
»Nicht immer«, erwidere ich, bereue es aber sofort. Wir sind schon wieder über die Linie hinaus. Also starre ich auf ihre Tasse. Ihre Hände, die schlanken Finger. Sie hat schöne Hände, denke ich. Immer noch. So etwas verschwindet wohl nicht. Auch wenn wir beide uns kurz vor den Sechzigern befinden.
»Ich muss gehen!«
Elisa steht mit einem Ruck auf, stopft Schlüssel und Handy in ihre Tasche und verschwindet im Flur. Kurz danach höre ich ihr „Tschüss“ und das Zuschlagen der Wohnungstür. Ich schalte das Radio wieder ein und wechsle von WDR II zum Deutschlandfunk.
»… ich verstehe gar nicht, was die Leute wollen?«, fragt der Interviewte. Der Morgenmoderator ist ziemlich schlecht. Der AfD-Mann, den Namen habe ich schon wieder vergessen, soll erklären, warum die AfD immer noch kein Rentenkonzept hat. Doch der Reporter bringt es nicht. Also drehe ich dem Radiowecker wieder den Saft ab und dem Küchenlicht ebenso. Vorsichtig stelle ich mich hinter den Vorhang des Küchenfensters und schaue hinunter auf die Straße. Nicht viel los. Merheimer Straße in Nippes, gegenüber der Luther-Kirche. Die Kastanien auf dem Kirchenvorplatz sind immer noch Wintergerippe. Mit Heinz habe ich ausgemacht, dass ich gegen zehn Uhr zu ihm rüberkomme. Zeit genug, um noch mal ins Bett zu gehen.

*​

Elisa kommt fluchend zur Tür herein. Es ist schon seit geraumer Zeit dunkel. Draußen und in der Küche. Sie macht ziemlich viele Geräusche, hustet, die Schuhe fliegen gegen die Sockelleiste, sie zieht die Nase andauernd hoch. Dann geht die Küchentür auf.
»Scheiße«, sagt sie und schaltet das Licht an.
Elisa stutzt als sie mich entdeckt. Sie atmet tief ein.
»Gott! Hast du mich jetzt erschreckt! Muss das sein?«
»Entschuldigung. War keine Absicht.«
»Warum sitzt du hier in der dunklen Küche?«, will sie wissen, wartet aber meine Antwort nicht ab. »Ist ja auch egal. Hilf mir wenigstens die Sachen einräumen.«
»Warst du einkaufen?«
Sie stemmt die Hände in die Hüften und fixiert mich.
»Ja! Ich war einkaufen. Du gehst ja nicht einkaufen und schleppst das Zeug nach Hause. Im Flur stehen zwei Taschen. Vielleicht kannst du den Kram ja einräumen.«
Ich nicke und hole die Taschen, stelle beide auf den Küchentisch und räume ein, was Elisa eingekauft hat. Es wäre jetzt falsch, ihr zu sagen, dass wir noch genug Papiertaschentücher haben und ich beim Kochen nie Gemüsebrühe verwende.
»Wie war es bei der Arbeit?«, frage ich sie.
Elisa schaltet den Wasserkocher an. Für einen kurzen Moment legt sie den Kopf zur Seite. Es hat den Anschein, als dächte sie über den Tag nach oder lauschte einer inneren Stimme. Mit zwei Pack Butter in meiner rechten Hand überlege ich kurz, ob ich sie berühren soll. Ich stelle mir vor, meine freie Hand an ihren Nacken zu führen und mit dem Daumen hin und her zu fahren. Es klackt und Elisa gießt Wasser in eine Tasse, hängt einen Beutel Fencheltee hinein und dreht sich um.
»Was ist? Haben wir noch Butter?«
»Nur ein Päckchen. War gut, dass du Butter gekauft hast.«
Sie setzt sich an den Tisch, stellt die Tasse vor sich und ich räume den Rest weg.
»Wie war es bei Heinz und seinem Jungen? Wie heißt er noch mal?«
»Heinz war da. Sein Junge aber nicht. Er heißt Christoph.«
Elisa lacht kurz, zieht am Teebeutel, lässt ihn wieder los, zieht ihn wieder hoch.
»Das war ja so klar«, flüstert sie.
»Der Junge ist abgehauen«, sage ich.
»Wie? Abgehauen? Wie alt ist er denn? Doch mindestens schon achtzehn oder neunzehn.«
»Neunzehn.«
»Mit neunzehn kann man abhauen. Was sagt Heinz?«
»Heinz ist …«
»Der ist doch schon ein paar Mal abgehauen, wenn ich mich recht erinnere. Oder?«
»Ja«, bestätige ich und vermeide zu sagen, dass wir schon mal gemeinsam nach Christoph gesucht haben, mit Heinz auf dem Rücksitz unseres Autos. Mir fällt gerade auf, wie oft ich Elisa in den letzten Monaten etwas NICHT sage, ihr NICHT antworte, NICHTS erwidere. Als wäre sie das stürmische Meer und ich ein Land ohne Deiche.
»Schon drei Mal in den letzten acht oder neun Jahren. Und Heinz geht es nicht gut. Er trinkt wieder.«
Elisa nimmt den Teebeutel aus der Tasse und wirft ihn ins Spülbecken. Sie schüttelt den Kopf.
»Was heißt ‚wieder‘? Hat er schon mal aufgehört mit trinken?«
»Er hatte es schon mal besser im Griff als im Moment. Ja.«
Elisa nickt und schlürft von ihrem Fencheltee.
»Hast du was zu essen gemacht? Ich habe Hunger.«
Ich nicke, nehme den Topf aus dem Kühlschrank und zünde ein Gasfeld.
»Was gibt es?«
»Ratatouille. Ist gleich fertig. Ruh dich ein wenig im Wohnzimmer aus. Ich bring dir dann eine Schüssel.«
Elisa nickt.

*​

Ich spüle beide Schüsseln und koste noch einige Löffel von der köstlichen Ratatouille direkt aus dem Topf, bevor ich ihn wieder in den Kühlschrank stelle. Es ist schon kurz nach einundzwanzig Uhr. Aus dem Wohnzimmer kommen gesetzte Stimmen. Das heute-Journal vielleicht, im Fernsehprogramm bin ich nicht so bewandert. Ich schalte das Licht aus und stelle mich ans Fenster. Alles sieht aus wie heute Morgen. Dunkel, ob früh oder spät, das macht wohl keinen Unterschied. Kastanien und Kirche sind wie aus einem Brei, kaum Konturen, wäre da nicht der gelb angeleuchtete Kirchturm. Ich muss mich setzen. Meine Beine tun weh. Wie ein dauernder Muskelkrampf. Vielleicht hat Elisa recht, und ich sollte mal wieder einen Arzt aufsuchen. Gut möglich, dass sich medizinisch was getan hat, so schnell wie sich die Medizintechnik seit einigen Jahren entwickelt. Ja, vielleicht, denke ich, eventuell nächste Woche, wenn ich mehr Zeit habe. Dann stehe ich auf und gehe ins Wohnzimmer.
»Ich habe doch Zeit«, flüstere ich leise.
Elisa schläft und schnarcht dabei wie ein Holzfäller. Der Hauptgrund, warum wir getrennte Schlafzimmer eingerichtet haben. Ich schnarche wohl auch, behauptet Elisa. Vorsichtig tippe ich auf ihre Schulter.
»Elisa. Aufwachen. Komm, geh ins Bett. Sonst bist du morgen früh wieder gerädert.«
»Hm.«
»Aufwachen. Elisa!«
Ungehalten dreht sie sich auf die Seite.
»Lass mich einfach. Ich geh dann schon ins Bett.«
Es noch einmal zu probieren, würde sie ziemlich reizen. Also lasse ich sie liegen. Wie meistens.
»Ich mach den Fernseher aus. Gute Nacht.«
»Hm.«
Das Licht dimme ich auf ein Minimum, schalte die Steckerleiste aus und mit einem Blick auf Elisa unter ihrer roten Steppdecke verlasse ich das Wohnzimmer.

Es war ein Fehler, die Kompressionsstrümpfe nicht auszuziehen. Manchmal kommt es vor, dass ich mich dazu beim Zubettgehen nicht aufraffen kann. Klasse-III-Strümpfe sind wie Stahlmanschetten. Die Uhr zeigt kurz nach zwei und ich bin wieder wach. Die Entwässerungstabletten sorgen dafür, dass ich wesentlich öfter pinkeln muss als noch vor Jahren. Aber Kompressionsstrümpfe im Bett nicht auszuziehen, verstärkt diesen Effekt noch. Seufzend stehe ich auf. Das Rollo ist noch offen und im schwachen Schein der Straßenlaterne zeichnet sich die blütenlose Orchidee auf dem Fensterbrett ab. Leise trete ich hinaus auf den Flur, werfe einen Blick in Elisas Schlafzimmer, aber das Bett ist leer. Dafür kommen aus dem Badezimmer Geräusche, die elektrische Zahnbürste. Licht fällt durch die nicht komplett geschlossene Tür. Ich räuspere mich laut, bevor ich hinein gehe, um sie nicht zu erschrecken. Elisa schaut in den Spiegel, schaltet die Zahnbürste aus. Ihr Blick geht durch mich hindurch.
»Ich habe versucht dich zu wecken«, erkläre ich ihr, »aber du bist nicht aufgestanden.«
»Mhm.«
Sie spuckt aus, spült nach und trocknet sich ab. Langsam setze ich mich auf den Rand der Badewanne. Elisa nimmt sich eine ihrer Cremetuben aus dem Spiegelschränkchen, drückt etwas auf ihre linke Hand und verreibt es im Gesicht.
»Warum schläfst du nicht?«, will sie wissen.
»Ich hab vergessen die Strümpfe auszuziehen. Jetzt muss ich wieder pinkeln.«
»Wie kann man vergessen, diese Folterinstrumente auszuziehen? Die schnüren doch alles ab!«
Ich hebe meine Unterschenkel an. Die Knöchel sind trotz allem noch ein wenig geschwollen.
»Du hattest einfach mal wieder keine Lust, nicht wahr?«, fährt sie fort.
»Kann gut sein.«
Sie zieht deutlich die Luft ein und verdreht ihre Augen. Die olivfarbene Creme steht ihr im gelben Licht des Spiegelschränkchens nicht sehr gut.
»Wird es wieder schlimmer mit dem Nichtaufstehen und der Unlust?«
»Langsam.«
»Du weißt, was ich davon halte. Du lässt dich hängen. Deswegen schaffst du es noch nicht mal mehr, den Ablauf unter der Spüle zu ersetzen, weil du dich nicht mehr hinknien kannst, ohne gleich Schmerzen zu bekommen. Wir müssen extra Geld ausgeben für den teuren Klempner.«
»Ich kann es eben nicht mehr.«
Elisa stellt Zahnpasta und Creme ins Schränkchen, fährt mit dem Handtuch über das Waschbecken und wirft es in den Wäschekorb.
»Du kannst gar nichts mehr«, sagt sie mit dem Rücken zu mir gewandt. Sie verlässt das Bad und das Licht geht aus. Bevor ich protestieren kann, schaltet sie es wieder ein. Mein Drang zu pinkeln ist verschwunden. Es riecht nach dieser olivfarbenen Creme.

*​

Es klingelt an der Wohnungstür, aber ich öffne nicht. Ich bin noch nicht mal aufgestanden. Vielleicht der Postbote oder Heinz von nebenan. Auf der Seite liegend, die Decke bis auf Höhe der Ohren gezogen, stelle ich mir vor, weit weg zu sein. Nicht auf diesem Planeten. Alleine vor einem der vielen Nebel draußen im All. Bis an mein Ende diese schweigende Schönheit genießen. Es klingelt wieder. Mehrmals hintereinander. Der Postbote kann es nicht sein. Einmal klingeln, dann die Karte. Vielleicht Heinz. Ich habe es ihm versprochen, denke ich. Also stehe ich auf, ziehe mich an und öffne die Tür. Aber es ist niemand zu sehen. Ich drücke mit dem Fuß die Schmutzmatte in den Falz und klingele bei Heinz gegenüber, aber es tut sich nichts. Wohl doch an der Haustür unten. Zurück im Flur drücke ich auf den Knopf für das Öffnen der Haustür und jemand kommt eilig die Treppe hoch. Ein junger Mann mit einer Werkzeugtasche und einem ungeöffneten Beutel voller Teile für den Küchenabfluss.
»Tag«, sagt er, »dachte schon, es sei niemand daheim. Anfahrt hätte dann 25 € gekostet.«
»Ich wusste nicht, dass Sie kommen.«
»Sie haben aber doch angerufen, oder?«
»Das war dann wohl meine Frau.«
»Hat sie die Hosen an, was?«, fragt er süffisant.
»Mir egal, wer die Hosen anhat. Kommen Sie rein.«
Er grinst und ich zeige ihm die Küche. Es dauert keine zehn Minuten.
»So! Wie neu«, meint er und hält mir ein Blatt vors Gesicht.
»Bitte unterschreiben.«
»Da steht, Sie waren 30 Minuten hier.«
»Natürlich stehen da 30 Minuten. So berechnen wir. Angefangene halbe Stunde immer voll.«
Ich unterschreibe.
»Rechnung kommt.«
»Das bezweifle ich nicht.«
Er reißt den Durchschlag ab, schaut mich an und grinst dabei bis über beide Ohren.
»Dafür nehme ich auch die alten Teile mit. Ist Service.« Sprachs und drehte sich um. Die Tür fällt ins Schloss. Stimmt, früher hätte ich es selbst gemacht. Aber ich kann ja nichts mehr. Der Radiowecker zeigt elf Uhr. Ich lege ich mich wieder ins Bett.

Es ist schon wieder dunkel, als ich einen Schlüssel in der Wohnungstür höre. Es ist Elisa mit ihren üblichen Geräuschen, das Hochziehen der Nase, Schuhe klappern an der Sockelleiste, sie geht in die Küche, dann ist es still. Ich drehe mich auf die andere Seite, der Wand zu, das wenige Licht von draußen lässt mich kaum etwas erkennen. Es müsste gegen neunzehn Uhr sein. An was soll ich denken? Welche meiner Erinnerungen ist es wert, hervorgeholt zu werden? Mir fällt nichts ein und denke lieber an Heinz und seinen verschwundenen Sohn. So viele Jahre wohnen wir schon nebeneinander, redeten auf dem Hof miteinander, aber nie kamen Elisa und besonders ich auf den Gedanken, dass mit seinem Sohn etwas nicht stimmen könnte. Die Tür geht leise auf. Ich atme ganz flach. Elisa sieht nach, wo ich bin, kurz nur, dann schließt sie die Tür wieder und ich höre sie ins Wohnzimmer gehen. Sie schaltet den Fernseher an und dank ihrer leicht verminderten Hörfähigkeit stellt sie ihn so laut, dass ich das Programm ebenfalls mitbekomme. Werbung, RTL, dann eine Soap mit seichten Dialogen und schmerzfreien Problemen. Ich spüre Tränen kommen. Das Licht eines vorbeifahrenden Autos streift durch mein kleines Zimmer.

Wieder ist es mitten in der Nacht. Da ist eine nasse Stelle auf meinem Kissen. Ich habe geweint, erinnere mich aber kaum daran. Dann bin ich wohl eingeschlafen? Etwas rumpelt im Flur. Elisa? Meine Blase drückt und das rechte Bein schmerzt, weil es etwas unglücklich auf dem anderen lag, während ich schlief. Druckstellen. Ich stemme mich hoch und seufze. Schon wieder halb drei. Ein großer Teil der Welt schläft, aber ich bin wach. Vorsichtig stelle ich mich auf die Füße, schlüpfe in die Hausschuhe und gehe ins Bad. Elisa steht vor dem Spiegel, die Hände auf dem Waschbecken. Sie stützt sich ab.
»Elisa? Was ist mit dir? Alles in Ordnung?«
Sie antwortet nicht, sieht mich auch nicht über den Spiegel an. Es ist, als stünde eine leere Hülle vor dem weißen Porzellan. Vorsichtig setze ich mich wieder auf den Wannenrand. Nach ein paar Sekunden lege ich eine Hand aufs Waschbecken.
»Elisa? Geht es dir nicht gut?«
Ein leichtes Zittern durchläuft ihren Körper. An der Tür hängt ihr Bademantel. Ich ächze beim Aufstehen. Das verdammte Bein! Mit einer Hand ziehe ich Elisas Bademantel vom Haken und hänge ihn über ihre Schultern.
»Die Firma macht nächste Woche zu«, sagt sie tonlos.
»Du meinst, sie machen dicht? Insolvent?«
Ich setze mich wieder und sie tut es mir nach, sitzt neben mir, so nah, wie schon lange nicht mehr. Ich ertappe mich bei einem Gefühl von Unbehagen, und doch mag ich das Frottee an meinem Oberarm.
»Ja. Insolvenz. Niemand hat irgendwas gesagt von denen da oben. Heute ist die Bombe geplatzt.«
»Wie lange bist du schon dort? Knapp dreißig Jahre, oder?«
»Vierunddreißig Jahre.«
»Ein halbes Leben.«
Elisa nickt.
»Ja, ein halbes Leben. Mein halbes Leben. An die erste Hälfte kann ich mich nicht mehr erinnern, und die zweite Hälfte haben sie mir jetzt genommen.«
Elisa steht auf und verlässt das Badezimmer.
Ich traue mich nicht, ihr zu folgen, leere meine Blase und gehe wieder ins Bett. Liege in der Dunkelheit, starre an die Decke.

*​

Elisa ist weg. Es ist kurz vor zehn Uhr am Morgen und die Türklingel im Flur schrillt. Ich öffne die Tür und Heinz lehnt wie ein Häuflein Elend am Geländer. Seine Wangen sind eingefallen.
»Heinz … komm rein.«
Er stemmt sich vom Metall weg und schleicht mehr als er geht in den Flur. Ich drücke ihn in die Küche.
»Setz dich, bitte!«
Die Tasse in der Kaffeemaschine fülle ich mit einem Espresso und stelle sie vor Heinz auf den Tisch.
»Trink mal einen kräftigen Schluck!«, fordere ich ihn auf. Aber Heinz ignoriert es.
»Mein Sohn hat Scheiße gebaut«, platzt es aus ihm heraus.
»Ist er denn wieder aufgetaucht?«
Heinz nickt.
»Mehr oder weniger. Bei der Polizei ist er wieder aufgetaucht. Er sitzt in U-Haft.«
»Wegen was?«
»Raubüberfall mit Körperverletzung.«
»Raubüberfall mit Körperverletzung?«, frage ich erstaunt, das Bild seines Sohnes vor Augen. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Es hat mit mir zu tun. Mit meiner Sauferei.«
Er wird noch ein Stückchen kleiner, fast liegt sein Kinn auf der Tischplatte.
»Sag das nicht … du hast dir immer Mühe gegeben. Das weiß ich. Mehr Mühe als manch dauernüchterne Pseudoeltern.«
Heinz schließt die Augen, atmet schwer und langsam die Luft aus. Fast sehe ich diese zentnerschwere Last auf seiner Brust, wie sie auf ihm klebt, seit Jahren. Es piept zwei Mal. Er holt sein Telefon aus der Hosentasche, tippt etwas hinein und steckt es wieder weg.
»Ich muss los«, sagt er und steht auf. »Ein Rechtsanwalt von der Anwaltshilfe will sich mit mir auf dem Revier treffen.«
Ich sehe zu ihm hoch.
»Lass es mich wissen, wenn ich dir irgendwie helfen kann.«
Er nickt und verschwindet. Die Tür fällt ins Schloss. Eine unangenehme Stille breitet sich in der Küche aus. Unerträglich fast. Als säße ich zwischen brennenden Holzscheiten und der einzige Weg ins Freie bestünde aus einem Berg Reißzwecken. Da steht immer noch der Espresso. Ich trinke ihn leer und gehe wieder ins Bett. Dieses Mal ziehe ich das Rollo nach unten. Es wird dunkel. Die Strümpfe lasse ich an, drehe mich auf die Seite und stelle mir Nebel und Galaxien vor, wie ich daran vorbeigleite, langsam, relativ. Jemand sagt, ich sei aber bis ans Ende aller Tage alleine. Schön, antworte ich, schmerzhaft schön.

Ein Auto hupt unten auf der Straße. Warum? Vielleicht eine Katze? Die Menschen in der Merheimer Straße haben viele Katzen. Wie viel Uhr ist es? Ich bin steif. Jeder Muskel tut weh. Das Umdrehen fällt mir wirklich schwer. Auf der Uhr ist es halb zwölf. Bald Mitternacht. Ich habe Elisa gar nicht gehört und auch nichts zu essen gemacht. Einfach gar nichts gemacht. Mich meinen Träumen hingegeben. Mühsam stehe ich auf und ziehe mich an, schlüpfe in die Filzschuhe. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Im Flur brennt kein Licht. Die LEDs des Telefons schicken ein wenig Helligkeit an die Wände. Auch im Wohnzimmer ist es still und dunkel, in der Küche ebenso. Elisa muss im Bad sein. Ich klopfe, um sie nicht zu erschrecken und öffne die Tür. Elisa sitzt auf dem Boden, an die Wanne gelehnt. Fast ein wenig zu aufrecht, läge da nicht ihr Kopf auf der Brust, die Haare verdecken das Gesicht. Ihre Haut ist so fahl wie der elfenbeinfarbene Schimmer der Fliesen. Ich bleibe stehen, denn ich spüre die Kälte, die von ihr ausgeht. Vorsichtig drehe ich mich um und schalte das Licht aus, schließe leise die Tür.
»Ich gehe in die Küche, Elisa«, sage ich. »Was möchtest du essen?«
Es bleibt still. Nichts zu hören im Haus.
In der Küche schalte ich das Licht an. Elisa hat ein paar Sachen eingekauft. Kaffee, Tee, ein wenig Obst und Haferflocken. Eine 500g-Packung.

 

Mir hat die Geschichte gut gefallen, die Bilder in meinem Kopf hatten eine depressive Färbung, blaustichig und kalt. Verstärkt durch die derzeitige Situation und Witterung vielleicht intensiver als beabsichtigt.
Ich bin nur über das Alter der Protagonisten gestolpert. Durch die Mietwohnung und den alkoholkranken Nachbarn mit Problemkind habe ich mir eine sozial und wirtschaftlich schwache Umgebung vorgestellt. Die Unterhaltung der beiden wirkte auf mich nicht so, als hätten sie schon eine sehr lange Zeit miteinander verbracht. Meine Schätzung lag bei Ende dreißig, Anfang vierzig. Die Vermutung sah ich dann mit der Erwähnung des Computerunterrichts als bestätigt an. Das ein Fastrentner oder Frührentner aus einer solchen Umgebung einem Neunzehnjährigen Computerunterricht gibt, kommt mir unstimmig vor.

Entschuldigt das off-topic: Das ist mein erster Beitrag, sollte man sich hier irgendwo vorstellen? Falls ja, wo?

 
Zuletzt bearbeitet:

Entschuldigt das off-topic: Das ist mein erster Beitrag, sollte man sich hier irgendwo vorstellen? Falls ja, wo?
Willkommen hier, The Dead Frog,

einen speziellen Vorstellungsthread oder -prozess gibt es hier nicht.
Du kannst aber gerne in deinen Accountangaben die Profildetails füllen und Profilbeiträge erstellen.

Bei Fragen dazu kannst du mir gerne eine persönliche Nachricht schicken.

Viel Spaß hier.
Liebe Grüße, GoMusic

Edit:

Hi Morphin,

so, jetzt habe ich auch deine Geschichte gelesen.

Ich mag deinen Stil.
Eine schöne, ruhige, langsame Geschichte.
Für alle drei Figuren ändert sich etwas. Seine Frau verliert ihren Job, der Sohn des Nachbarn sitzt in U-Haft, der Prota hat nur eine neue Packung Haferflocken.

Die Wiederholungen mit den Schmerzen, dem Gehen und Kommen seiner Frau passen haargenau zur Story. Darum dreht sich im Prinzip ja alles, das Beständige, Andauernde. Zunächst, bis sie dann wohl erst mal nicht zur Arbeit geht (sofern sie nicht sofort eine neue Stelle findet). Sein Schmerz bleibt aber, er schiebt den Arztbesuch vor sich her.
Klasse geschrieben!

Kleinkram:

»Mir egal, wer die Hosen anhat. Kommen sie rein.«
Kommen Sie rein.

»So! Wie neu.« meint er und hält mir ein Blatt vors Gesicht.
... neu", meint er ...

»Da steht, sie waren 30 Minuten hier.«
..., Sie waren ...

»Dafür nehme ich auch die alten Teile mit. Ist Service«, sprachs und drehte sich um.
Hört sich m.E. so richtiger an, weiß nicht wieso:
... Service." Sprachs und ...

Werbung, RTL, dann eine Soap mit seichten Dialogen und schmerzfreien Problemen. Ich spüre Tränen kommen. Das Licht eines vorbeifahrenden Autos streift durch mein kleines Zimmer.
Da hat er mir echt leid getan.

Schönen Geburtstag noch.
Liebe Grüße, GoMusic

 

Moin @rainsen,
ja, die Kulturkirche. Die Welt ist aber auch so was von klein ... Ich danke dir fürs Lesen und Kommentieren und dass Worte wieder zu Worten führen werden. Ein schönes Idealbild in dieser leidenden Welt.

Hi @The Dead Frog,
auch dir meinen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Und ich kann dich gleich beruhigen. Das ist in der Tat eine meiner Einkommensarten, das Vermitteln von Wissen im Umgang mit Betriebssystemen und Anwendungssoftware im Bereich der Jugendarbeit. Im Text gibt es ja den Hinweis auf das Alter, auf die 60er zugehend. Schöne Adjektive für die Geschichte hast du gewählt. Und natürlich mein Willkommen auf diesen Seiten.

Salute @GoMusic,
mein Dank fürs Lesen und Kommentieren kommt stante pede. Hab Vorschläge übernommen ... immer die Kleinigkeiten. Hundert Mal lesen, zweihundert Mal überlesen. Ich mach dir schnell nen Fencheltee, dann können wir anstoßen. Bis die Tage.

Gesund bleiben alle.
Morphin

 

Salü @zigga,
besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Das Ende mit dem Tod ... stammt aus meinen Lebensjahren im Zivildienst und den Jahren bei den Johannitern. Ich hab das vier Mal erlebt, dass Menschen in der Küche sitzen oder im Wohnzimmer oder sogar im Bett liegen. Sie sahen uns an und es fielen Worte wie: "Schönes Wetter draußen." oder "Lassen sie mich einfach liegen", "Ich habe ihr/ihm schon gesagt, dass Besuch kommt" ... das ist kein seltenes Phänomen, vor allem, wenn man schon lange zusammen ist und die Realität eh schon weit außerhalb des wirklichen Lebens festsitzt. Ich denke drüber nach, ob dein Vorschlag in meinem Kopf Platz fände. Da muss aber noch ein wenig Wasser den Rhein runterfließen, also Abstand muss her.

@Setnemides,
long time, no see. Hm, ich weiß nicht nicht, ob Depressionen einen Sinn haben. Erfahrungsgemäß würde ich sagen. Nein. Sie existieren. Ob nun genetische Disposition und im Laufe deines Lebens begegnest du dem auslösenden Moment, oder als Begleitsymptom einer anderen psychischen Krankheit, das ist erst mal egal. Es gibt sicher Menschen, die aus ihren Depressionen, depressiven Phasen, depressiven Störungen auch Sinnhaftes entstehen lassen können, weil sie bspw. besonders kreativ sind, schon immer waren, weil sie kognitiv in der Lage sind, Selbstreflexion bis zum Äußersten zu betreiben und einen Rahmen konstruieren können für Notfälle. Aber je nach Schweregrad der Phasen, zertrümmert dir die Depression alles. Und wenn es schon Jahre so geht, ist jedes Licht am Ende des Tunnels immer ein Schnellzug.
Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren und für alle:

Gesund bleiben.
Morphin

 

Hallo @Morphin,

danke für diese Geschichte. Das Genre/Thema entspricht eigentlich gar nicht meinem Geschmack. Ich lese lieber Fantasy, Schience Fiction, Historisches - alles, um der "reellen Welt" zu entfliehen. Gerade deswegen war es für mich nicht leicht, mich auf so eine realistische/nüchtern beschriebene Alltagsgeschichte einzulassen. Ich habe sie in einem Rutsch durchgelesen, konnte die Verzweiflung und Trostlosigkeit spüren. D. h. die Geschichte ist wirklich gelungen.
Ich frage mich nur: Warum tut er nichts, wenn seine Frau tot im Badezimmer lehnt? Ist seine Depression so stark, dass er sich nicht mal hier zum Handeln aufraffen kann?
Noch einen schönen Sonntagabend.

LG
Marlene

 

Salü @Marlene,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Die Depression muss nicht unbedingt der Grund für das Ignorieren sein. Wobei "ignorieren" ein zu starkes Wort ist. Es ist die Abwesenheit, der Verlust der realen Welt. Der Bezug zum Realen ist so aufgeweicht, der Rückzug ins Innere fast komplettiert, das Ausblenden aller Tatsachen wird einfach. Insofern bist du mit Fantasy und der Flucht aus der "realen Welt" beim Lesen nicht weit weg. Die Probleme sind identisch, ob in Fantasy, SF oder Historienroman. Der Mensch kann seinen Dämonen nicht entfliehen. Er kann sich in sein eigenes Paradigma flüchten.

Griasle
Morphin

 

Hallo @Morphin,

endlich komme ich dazu, auch etwas zu Deinem Text zu schreiben, der mir wahrscheinlich ohne die Empfehlung durchgerutscht wäre, weil ich den Anfang schwächer finde als den Rest. Aber dazu gleich mehr.

Die Stärke des Texts ist aus meiner Sicht, dass die (schräge) Persönlichkeit des Protagonisten so klar durchscheint, was ich sehr gelungen finde, aber natürlich auch sehr erschütternd. Ich kenne mich mit Depressionen nicht aus und frage mich immer (aber das generell), wie viel der Krankheit und wie viel mangelndem Willen geschuldet ist, etwas am Verhalten zu ändern. Aber das ist ein schwieriges Thema.

Der Schluss hinterlässt natürlich einen Kloß im Hals und ich finde, Du baust das sehr gut und behutsam auf, weswegen der Schluss auch diese starke Wirkung entfalten kann.

Also, hat mir wirklich Freude bereitet, in Deinen Text einzutauchen.

Ich habe noch ein paar sprachliche Anmerkungen. Am Anfang bin ich öfters gestolpert, was natürlich immer sehr subjektiv ist, aber wenn ich schon mal hier bin, kann ich Dir das auch noch dalassen und Du wirst als erfahrener Autor wissen, was Du brauchen kannst und was nicht:

Zwischen den Haferflocken tummeln sich Larven von Lebensmittelmotten und deren Spinngeflecht hat Flocken und Larvenhüllen zu einem kunstvollen Gebilde verbunden.

Ich bräuchte diesen zweiten Satz nicht. Allein schon wenn ich an Larven in Haferflocken denke, habe ich dieses Bild vor Augen. Mir war das also zu erklärend.

Ich kann förmlich die Unmenge an Gedanken hinter diesen Augen sehen und wie sie wilde Kombinationen formen, die mir ausgesprochen bestimmt nicht gefallen.

Hier bin ich gestolpert und habe mich lange Zeit gefragt warum. Meine Erklärung ist, dass es an der Redewendung "ausgesprochen gut gefallen" liegt, die man im Kopf hat und deswegen die Verarbeitung der vorliegenden Formulierung verzögert. Das kann aber auch gut sein, dass man als Leser hier gebremst wird.

Mich hat es eher gestört. Eine gute Lösung habe ich leider auf die Schnelle nicht parat.

Es klackt und die Maschine wirft das ausgepresste Kaffeepulver aus.

Sie setzt sich an den Tisch, knabbert einen Nagelfetzen von ihrem Daumen und trinkt einen Schluck Kaffee.

Da kommt zweimal recht kurz Kaffee, die aus meiner Sicht beide gestrichen werden könnten.

Ich muss später unbedingt den Müll runtertragen, bevor die Motten aus der Tüte entkommen.

"aus der Tüte entkommen", finde ich auch etwas ungalant, wegen der Dopplung "aus" und "ENTkommen". Vielleicht redet Dein Protagonist so, aber eigentlich wäre eine der beiden Lösungen besser:

i) aus der Tüte kommen
ii) der Tüte entkommen


»Was soll ich deiner Meinung nach denn heute tun?«

Dass denn ist recht weit hinten platziert. Auch hier kann man sagen, dass das der Protagonist so redet, aber äußert sich das Krankheitsbild darin? Wahrscheinlich nicht.

Daher fände ich flüssiger: Was soll ich denn deiner ..."

Auch wenn wir beide uns kurz vor den Sechzigern befinden.

Denkt er daran, dass er kurz vor "Sechzig ist"? Eigentlich denkt man doch immer eher an "in unserem Alter". Das klingt so nach Hinweis des Autors, dass man das Alter kennen soll. Den braucht es aus meiner Sicht aber gar nicht.

Doch der Reporter bringt es nicht. Also drehe ich dem Radiowecker wieder den Saft ab und dem Küchenlicht ebenso.

Vorsichtig stelle ich mich hinter den Vorhang des Küchenfensters und schaue hinunter auf die Straße.

Hier kommt zweimal direkt hintereinander so eine "und"-Konstruktion. Ich denke auch, dass beim ersten Satz eine gewisse Zeit verstreicht zwischen dem Ausschalten des Radioweckers und des Küchenlichts. Vielleicht statt "und" ein Gedankenstrich? Dann fällt auch die gleichlaufende Konstruktion der beiden Sätzen nicht mehr so auf.

Elisa stutzt als sie mich entdeckt. Sie atmet tief ein.

Hier ist wieder so eine Stelle, wo ich denke, dass man mehr dem Leser vertrauen könnte.

Mir würde reichen: "Elisa atmet tief ein als sie mich entdeckt."

Ich nicke und hole die Taschen

Erst dachte ich, dass das "nicken" ein Streichkandidat ist, aber das kommt später nochmals und da habe ich es als Bezug auf dieses hier gelesen. Also vielleicht doch kein Streichkandidat.


Ich muss mich setzen. Meine Beine tun weh.

ich vermute, dass man erst den Schmerz wahrnimmt und dann die Konsequenz zieht und sich setzen möchte.

Es war ein Fehler, die Kompressionsstrümpfe nicht auszuziehen.

Das "nicht" finde ich ungünstig platziert: "Es war ein Fehler, nicht die ...". Das kommt später nochmals, da fand ich es aber passend.

Manchmal kommt es vor, dass ich mich dazu beim Zubettgehen nicht aufraffen kann.

Ich glaube ja, dass man diese "negativen" Wörter, wie "nicht", recht früh bringen sollte, um den Lesefluss nicht zu stören: "Manchmal kommt es vor, dass ich mich nicht beim Zubettgehen dazu aufraffen kann."

Du siehst, diese Anmerkungen beziehen sich alle auf den Anfangsteil. Später sind mir solche Stolpersteine nicht mehr aufgefallen, weswegen ich eingangs meinte, dass der Anfang etwas schwächer ist als der Rest, was natürlich, wie immer, eine sehr subjektive Sicht der Dinge ist.

Hoffentlich kannst Du damit etwas anfangen.

Gruß
Geschichtenwerker

 

Hallo @Morphin ,

der Text ist wirklich sehr schön, sehr traurig. Hat mich berüht. Kurz das Kleine, dann etwas allgemeiner.

Sie steht auf dem Abluftgitter

Das Abluftgitter auf dem Kühlschrank? Noch nicht gesehen oder wahrgenommen, konnte ich mir nicht gut vorstellen.

Larvenhüllen zu einem kunstvollen Gebilde verbunden. Ich schmeiße die Packung in den Mülleimer

Das ist schon stark. Diese Beobachtung eines 'kunstvollen Gebildes' und dann im Kontrast die Handlung.

»Was machst du heute?«, will sie wissen. Es ist ihr Code, mit dem sie andeutet, dass sie arbeiten geht und ich zuhause rumsitze.

Das ist mies. An der Stelle dachte ich, das wären einfach Szenen eines Ehestreites. Die Erkrankung ist ja noch nicht im Spiel.

»Hab schon verstanden«, sagt Elisa in ätzendem Tonfall. »Der Herr schweigt.«

Und es entsteht die Frage: Was ist mit ihm?

Ja, vielleicht, denke ich, eventuell nächste Woche, wenn ich mehr Zeit habe. Dann stehe ich auf und gehe ins Wohnzimmer.
»Ich habe doch Zeit«, flüstere ich leise.

eine von vielen Stellen, die mich berühren. Dieses Selbstgespräch. Niemand, der zuhört, niemand der ermutigt. Und alles fällt ihm schwer. Hat mir sehr leid getan, wie es ihm geht. Diese Story ist für mich eben kein Kitsch, das fühlt sich nicht an, wie um irgendeinen billigen Effekt Willen.

»Du kannst gar nichts mehr«, sagt sie mit dem Rücken zu mir gewandt. Sie verlässt das Bad und das Licht geht aus. Bevor ich protestieren kann, schaltet sie es wieder ein. Mein Drang zu pinkeln ist verschwunden. Es riecht nach dieser olivfarbenen Creme.

Das ist auch super traurig. Er wirkt so gebrochen. Die ständigen Demütigungen erreichen ihn gar nicht mehr. Selbst seine Grundbedürfnisse haben kaum Geltung für ihn.

Der Radiowecker zeigt elf Uhr. Ich lege ich mich wieder ins Bett.

Und alles was ihm bleibt sind Träume, die scheinbar leichter sind als der Rest. In denen sein Kopf ihm ein bisschen was von den schönen Bildern zurückgibt.

An was soll ich denken? Welche meiner Erinnerungen ist es wert, hervorgeholt zu werden?

:- (

Ich traue mich nicht, ihr zu folgen, leere meine Blase und gehe wieder ins Bett.

Das ist einfach gut beschrieben in seiner Abfolge. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Er geht bei geringsten Widerstand durch seine Wohnung wie durch ein Labyrinth. Er wirkt orientierungslos und furchtsam.

In der Küche schalte ich das Licht an. Elisa hat ein paar Sachen eingekauft. Kaffee, Tee, ein wenig Obst und Haferflocken. Eine 500g-Packung.

Ich hab das Ende zuerst falsch gelesen. Habe das gar nicht mitgeschnitten. Hatte schon geschrieben: "Wirklich ein offenes Ende?" Okay, alles klar. Dann habe ich nichts weiter.
Ein sehr schöner Text. Hat mich sehr berührt.
Zweiter Text heute und wieder ein Treffer :) Guter Tag.

Viele Grüße
Carlo

 

Moin @Carlo Zwei,

Das Abluftgitter auf dem Kühlschrank?
Zumindest früher hatten die normalhohen Kühlschränke hinten ein Gitter, einmal als Distanz zur Wand, um Pumpe und Abwärmespiralen nicht an der Wand zu zerquetschen, zum anderen, um die Abwärme nach oben abziehen zu lassen, damit sie sich nicht staut und die Wärmetauschereinheit so rödeln muss. Heutzutage hat man ja so Riesendinger, aber ich denke, das Prinzip ist immer noch identisch. Stellt man dieses Gitter zu, muss der Kühlschrank mehr leisten und verbraucht mehr Strom. Schön, wenn es dir gefallen hat und vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Moin @Geschichtenwerker,
besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Da sprichst du etwas an, was tatsächlich ein in der Tat großer gesellschaftlicher Irrtum ist - wo immer der auch herkommt. Die Depression NIMMT dir deinen Willen. Die Diagnosen sind vielfältig, haben unterschiedliche Krankheitsbilder in diversen F-Nummern, aber auch deckungsleiche Symptome sind enthalten. Jemand der PTBS hat, entwickelt auch Depressionen, aber die Depression gibt es auch alleine. Der Schweregrad ist immer mit entscheidend. Trifft sie dich als Bipolare Störung, und du bist in der manischen Phase, kannst du viel Willen an den Tag legen, bis die depressive Phase kommt, dann löst der Wille sich im Nichts auf. Dem Prot. attestiere ich eine F32.1, mittelgradig, allerdings wird das langsam abrutschen in die F32.2, wobei es noch ohne psychotische Symptome ablaufen wird ... hoffe ich für ihn, aber die Suizidrate wird steigen. Aber ganz generell ist es eine affektive Störung, meist mit begleitenden Angstzuständen, häufigen Rückfällen. Oftmals kann man als Beginn belastende Ereignisse oder Situationen schon in jungen Jahren festmachen. Der Wille ist nach jahrelanger Depression (egal welcher) fast nur noch als Ruine vorhanden, der keine kontinuierlichen Handlungen mehr gewährleisten kann. Ein Schicksal Depressiver ist, dass man sie früher bspw. als "faul", "träge", "arbeitsscheu" oder mit sonstigen Vorurteilen belegte.

Deine Vorschläge werde ich mir im Laufe der nächsten Tage zu Gemüte führen und überdenken.

Gesund bleiben alle!
Grüße
Morphin

 

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