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Nur zugeschaut

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15.12.2020
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Nur zugeschaut

I – Der Jäger

Es war ein warmer Sonntagnachmittag im Herbst, als er im Park am Stadtrand zum ersten Mal den Impuls vernahm, die Kinder auf der silbernen Rutsche abzulichten. Kaum hatte er die Sonnenreflektionen auf dem Edelstahl in Fokus, erschienen die Kinder als Silhouetten, und die vollen Bäume im Hintergrund als lauerndes Gebirge, das jederzeit als Lawine über den Kleinen zusammenbrechen könnte.

Peter verabschiedete sich an jenem Sonntagnachmittag hektisch von seiner Freundin Gabriela, die wie jedes Wochenende zur Nachtschicht ins Krankenhaus musste. Zwei grobe Küsse verpackte er mit dem Versprechen, für ihr Abendessen, das sein Frühstück sein würde, Lasagna alla Bolognese zu kochen.
„Versuch‘ aber heute Nacht mal, ein paar Stündchen zu schlafen, ja? Du willst ja morgen früh nicht vor deinen Schülern wegnicken. Die Bolognese kann man ruhig mal für ein paar Stunden aus den Augen lassen.“
Gedanklich schon mit der Entscheidung beschäftigt, welche Objektive er später mitnehmen würde, setzte Peter ein Lächeln auf, nickte und schloss die Tür.
Es war kurz nach fünf, als er der Sonne entgegenlächelte. Das Ragout für die Lasagne war bereits am Köcheln. Die Bäume leuchteten in warmen Farben, doch der Himmel gähnte in eintönigem Azur, also packte er für seinen Streifzug zusätzlich zur Kamera mit Kit-Objektiv nur die alte 55-210mm Linse. Normalerweise trug er alle Objektive im Rucksack mit sich. Nur das altes Zoomgeschoss trug er aus Tradition stets in einer Hülle am Gürtel. Das war nach einer Weile unbequem, doch für blitzschnelle Reaktionen während der Jagd ungemein praktisch.
Diesmal also mit leerem Rucksack unterwegs, um das Zoom-Objektiv, falls es nicht gefragt war, von seinem Gürtel abzulegen, durchstreifte Peter mit wie immer wachen Augen ihren Vorort. Unter den Bekannten, die an ihm vorbeihuschten, registrierte er Eltern ehemaliger Schüler von ihm auf dem Weg zum Fußballplatz am Waldrand, sowie einen benachbarten Polizisten, den er besonders wenig ausstehen konnte. Keiner von ihnen sättigte den Hunger seiner Augen.
Einmal mehr erreichte er den Park am Stadtrand. Er hatte ihn schon oft passiert, ohne jemals etwas Interessantes zu finden. Heute ließ er sich dennoch zu einem Blick durch den Sucher hinreißen.
„Ist das denn eine spezielle Kamera?“
Der beißende Duft zu viel billigen Parfums. Patschuli und Jasmin?
Weiterhin mit Blick durch sein Objektiv, wandte sich Peter zur Seite. Eine ältere Frau mit jungen Augen hatte sich dermaßen dicht vor ihn gestellt, dass er selbst mit 16mm-Blick jede einzelne ihrer Furchen abfahren konnte.
„Früher habe ich auch gern fotografiert“, sprach die Dame weiter, „auf Jamaica habe ich echt ein paar tolle, tolle Bilder gemacht…aber dann kamen irgendwann immer mehr Leute in den Weg, das wurde ja gerade in der Zeit ein ganz beliebter Urlaubsort. Wer weiß, wo solche Bilder überall landen könnten, dachte ich mir dann. Wo die heutzutage landen könnten, darüber will ich gar nicht erst nachdenken.“
Peter senkte seine Kamera und lächelte.
„Sie haben recht. Man muss vorsichtig sein.“
Die alte Dame zögerte, dann erzählte sie weiter von Jamaica. Peter nahm eine Detailaufnahme von ihrem linken Auge und ließ sie wortlos stehen. Ihr panischer, finaler Blick in Richtung seines Lichtgewehrs ließ ihn schmunzeln.
Ein paar Minuten später am inneren Rand des Parks, wehten ihm Kinderstimmen entgegen. Sie schienen fern, doch er wusste sofort, dass sie von dem Hügel zu seiner Linken kamen, der in wenigen schnellen Schritten zu erreichen war. Durch sein fleischliches Auge kaum eines Blickes würdig, zückte er das Zoom-Geschoss. Mit einem Kribbeln im Bauch ging er durch den Sucher spähend in Richtung Hügel. Gleich der erste Anblick ließ ihn stocken: Inmitten der Kinderköpfe klaffte ein abscheulicher, schwarzer Fleck.
Fluchend entfernte er das Zoom-Objektiv. Beim Versuch, die Quelle des Flecks unter der Linse auszumachen, durchkreuzten ein paar verirrte Sonnenbündel sein Vorhaben – dann aber lenkten sie seinen Blick zurück in Richtung des Spielplatzes. Das Schimmern auf der silbernen Rutsche ließ seine Knie weich werden.
Peter sah sich um, dann pirschte er sich Stück für Stück näher an den Spielplatz heran. Erst als er den Spielplatz schon betreten hatte, merkte er, dass er das Zoom-Objektiv noch immer in der Hand hielt. Aus den Augenwinkeln spähte er nach argwöhnischen Eltern. Niemand weit und breit.
Sein Blick auf die kleinen Gestalten auf der Rutsche fixiert, öffnete Peter langsam seinen Gürtel. Er entfernte die Hülle des Zoomobjektivs, ließ das Geschoss hineingleiten, und verstaute beides hinter seinem Rücken. Trotz seiner Nähe nahmen die Kinder keine Notiz von ihm. Ein letztes Mal überprüfte er die Lichteinstellungen, dann setzte er zum Schuss an.
Alles andere verstummte und verschwamm. Jedes störende Geräusch, jeder heimliche Zeuge.
Einmal mehr gab es nur ihn und die Schatten und das Licht.
Peter schoss.
Einmal, zweimal, dreimal.
So oft, bis er jedes Lachen, jeden Sprung und jede Drehung der kleinen Silhoutetten eingefangen hatte. Erst, als er schon dabei war, den Spielplatz zu verlassen, wehte ihm neben dem Duft bevorstehenden Regens eine neuerliche Welle aus Paschuli und Jasmin hinterher, von der er gehofft hatte, sie in Zukunft meiden zu können.


II – Die Mutter

„Wir sind doch beide geimpft, Mäuschen, was willst du denn noch?“
Petra betrachtete ihre alte Mutter. Sie war schon wieder außer Atem.
„Eine Spritze, und du fühlst dich sicher? Weißt du, wie viele trotz Doppelimpfung schon verreckt sind?“
„‘Verreckt‘? Und ich dachte, du bist Autorin.“
Petra lachte kopfschüttelnd und ließ ihre Mutter ins Haus.
„Redakteurin, Mama. Redakteurin. Und verrecken ist, finde ich, ein gutes Wort dafür, was bald mit uns allen passieren wird, wenn wir nicht auf uns und unsere Geliebten aufpassen.“
Ihre Mutter betrachte sie mit Sorge.
„Du bist ja ganz bleich, Kind. Wann warst du denn das letzte Mal draußen?“
„Die ganze Pandemie nicht ein einziges Mal!“, preschte der mittlere Sohn, Luis, ins Wohnzimmer und umarmte grinsend seine Großmutter. Petra hielt die Luft an. Ihre Augen weitere sich.
„Luis, sofort lässt du Oma los! Dein letzter Test ist schon drei Tage her!“
Luis sah hoch zu seiner Großmutter, diese zuckte mit den Schultern, lächelte und nickte in Richtung Küche. Luis drehte sich zu Petra, streckte ihr die Zunge heraus, und verschwand die Treppe hoch nach oben. Petra seufzte. Nur noch ein paar Stunden bis zum nächsten Montag. Der Blick von Herrn Maibe, der aus dem Klassenzimmer abgeführt wird, schwirrten ihr nach über dreißig Jahren noch immer einmal wöchentlich im Kopf herum.
„Du übertreibst mit dem Virus-Zeugs, aber trotzdem würde ich mir das von dem kleinen Scheißer nicht gefallen lassen. Du warst schon immer zu locker mit ihnen. Einerseits hast du immer Angst um sie, dass ihnen irgendwas passiert, falls du sie mal drei Sekunden aus den Augen lässt. Anderseits lässt du sie so mit dir umgehen. Wenn die das Mal bei jemand falschem machen, kann ihnen das Lachen aber ganz schnell vergehen…“
Petra kehrte zurück in die Gegenwart.
Du willst mir mal wieder sagen, wie ich meine Kinder zu erziehen habe? Du hattest Glück, dass ich nicht misshandelt wurde, während du auf Jamaica tagsüber schöne Männer abgelichtet hast, und abends mit ihnen herumgevögelt.“
„Wie redest du schon wieder mit deiner armen, alten Mutter? Dich müsste man erziehen, Mädchen, dich…“
„Dafür ist es leider zu spät, Mama.“
Sie schwiegen für ein paar Sekunden, dann setzte sich Petras Mutter auf den Sessel am anderen Wohnzimmerende und seufzte.
„Ich hätte es besser machen können, klar…aber dich will ich mal sehen, wenn dein ach so toller Ehemann die Fliege macht“ –
„Das wird er nicht, Mama, keine Sorge.“
Petras Mutter nickte vor sich hin.
„Hoffen wir‘s, wir wollen‘s hoffen…“
„Was hat dich eigentlich hergebracht, Mama, hm? Du warst schon wieder ganz schön außer Atem. Sag bloß, du bist her gejoggt?“
Ihre Mutter sah verdutzt auf.
„Was mich hergebracht hat? Muss man jetzt schon einen Grund haben, sein Kind und seine Enkelkinder sehen zu wollen? Diese blöde Pandemie macht euch echt alle gaga.“
Petra lachte. Wärme floss in ihre Burst. Sie überlegte, wann sie das letzte Mal aufrichtig gelacht hatte. Wahrscheinlich bei dem letzten Besuch ihrer Mutter.
„Obwohl, Moment – ich glaube, es gab doch irgendetwas, das ich dir erzählen wollte…“
Petras Antennen registrierten sofort, dass dieser Tonfall nichts Gutes verheißen konnte. Unter ihren Schläfen begann es zu Sticheln und zu Stochern.
„Dieser Kinderschänder in der Nachbarschaft…nein, nein, das war gestern in den Nachrichten, heute war irgendetwas anderes…“
Ein kalter Schauer ergoss sich über Petras Nacken.
„Ah ja, genau, eben im Park“, fuhr ihre Mutter fort, „da war…da war ein merkwürdiger Mann.“
„Ein merkwürdiger Mann?“
„Ja, ein merkwürdiger Mann. Ein Mann mit Kamera.“
Petra fuhr hoch.
„W – wer?!“
Ihre Mutter gestikulierte.
„Woher soll ich das wissen? Ich, ich weiß nicht, ich habe ihn bestimmt schon mal gesehen, du wahrscheinlich auch, aber du kennst mich: ich vergesse die Namen, und, weißt du, immer mehr auch die Gesichter…der Mann, er war höflich, aber – irgendwas an ihm war…komisch.“
„Und?“
„Was und?“
„Was hat er gemacht?“
„Nichts. Zumindest erstmal…“
„Und dann?“
„Na was wohl?“
„Was?!“
„Ich bin ihm gefolgt.“

III – Das Lamm


Pauls Lieblingsfach in der Schule war Deutsch, sein Lieblingslehrer Herr Ebian, der sich während der Stillarbeit immer hinter seinen großen Büchern versteckte, um zu schlafen.
Herr Ebian dachte, niemand wusste davon, doch Paul und seine Klassenkameraden hatten es durch Herr Ebians Schnarchen schnell herausgefunden, kurz nachdem Herr Ebian Herr Faust ersetzt hatte, der man wegen Elternbeschwerden von der Schule geschmissen hatte.
Über Herrn Ebian gab es nie Beschwerden. Die Schüler liebten ihn nicht nur wegen seiner Nickerchen im Unterricht, sondern auch, weil er nie übers Wochenende Hausaufgaben gab; und vor allem deshalb, weil die Geschichten, die er aussuchte, immer solche waren, die den Kindern von den Eltern verboten wurden – weshalb sie im Unterricht immer zwei Geschichten parallel lasen, und Herr Ebian mit den Kindern einen Pakt geschlossen hatte, zu Hause nur von der harmloseren zu erzählen.
Paul lag an einem stürmischen Samstagabend im Herbst in seinem Hochbett und las heimlich eine von Herr Ebians ‚verbotenen‘ Geschichten. Die ausgedruckten Seiten der harmloseren Alibigeschichte griffbereit unterm Kopfkissen, lauschte er zwischen den Zeilen abwechselnd dem Unwetter, das auf seine Dachschräge einschlug, und den Schritten seines Vaters im Erdgeschoss, die am Abend vor einem wichtigen Fußballspiel immer besonders unruhig waren. Sein Vater war Trainer, und Paul der Kapitän des Teams. Paul dachte am Vorabend eines Spiels nie an bevorstehende Taktiken oder die Stärken und Schwächen des nächsten Gegners. Stattdessen wurmte er sich durch dieselben vertrackten Labyrinthe aus rissigem Asphalt, verdächtigen Gesichtern und Spiegelbildern schöner femmes fatales in Neonlicht-getränkten Regenpfützen, wie die lässig-zynischen Privatdetektive aus Herr Ebians verbotenen Noir-Geschichten.
Auch an diesem Abend einmal mehr in schwarzem Parker und mit wachen Augen unterm Hut auf der Jagd nach Unterweltlern, zuckte Paul zusammen, als die Treppenstufen unter seinen Zimmerdielen knarrten.
„Du musst schlafen, Capitano“, kam der Trainer zu ihm.
„Ich brauche dich morgen früh topfit, okay? Wir müssen echt mal wieder gewinnen.“
Er wollte Paul einen Kuss auf die Stirn geben, Paul aber drehte sich schnell weg und versuchte, die Augen fest genug zuzudrücken, um die glänzenden, eingefrorenen Augen seiner Mutter zu zersplittern.
Der Trainer stand noch eine Weile am Bett seines Sohnes, seines Capitanos, seines einzigen verbliebenen Ankers. Dann ging er nach unten und begann ein weiteres Mal von vorne, an der Taktik für das morgige Spiel zu tüfteln.

Anpfiff.
Zuckende, sonnengeblendete Gesichter. Gliedmaßen, die verkrampfen und sich strecken. Paul, verbissen wie noch nie auf der Jagd, nach dem Gegner, nach dem Sieg. Ein versteckter Tritt vom von hinten – eine Sense von Grätsche zur Revanche. Wild maulende Väter; ihre Frauen, die sie davon abhalten, den Platz zu stürmen. Freistoß. Ein Anlauf, ein Schuss – Tor. Kollektiver Jubel. Der Trainer schreit vor Freude und hält seinen Sohn gen Himmel, bis er merkt, dass er besser auch den anderen Spielern gratulieren sollte, um nicht unfreiwillig seinem Ruf gerecht zu werden.

Gegen siebzehn Uhr an jenem schönen Sonntagnachmittag im Herbst brachen die ersten, frisch geduschten Jungs vom Sportplatz am Waldrand auf in Richtung Spielplatz im Park. Paul, noch im Trikot, ging zu seinem Vater, um zu fragen, ob er mitkönne – sein Vater war mitten im Gespräch mit den Eltern von Timmie, der während des Spiels mehrmals ohne Ball in der Nähe den Gegner geschubst und getreten hatte.
„Warte kurz, wir sind gleich fertig“, speiste der Trainer seinen Capitano ab, bevor dieser sprechen konnte.
„Wir haben Timmie noch nie so wütend gesehen“, erklärte Timmies Vater dem Trainer, „aber ich glaube, es war vielleicht sogar ganz gut für ihn. In letzter Zeit ist er echt komisch drauf, er…“
„Er hat uns schon mehrmals von einem merkwürdigen Mann erzählt“, fuhr Timmies Mutter ihm dazwischen.
„Der Mann hat Timmie schon mehrmals beobachtet: In der Nähe der Schule, beim Warten auf dem Bus, auch schon einmal beim Fußballtraining, als ich Timmie ein bisschen zu früh beim Sportplatz abgeliefert hab‘, weil ich am Abend noch ein Meeting hatte.“
„Wir müssen ihn jeden Morgen zwingen, in die Schule zu gehen“, fügte Timmies Vater hinzu. „Nur das Training und das Spiel am Sonntag wecken ihn aktuell aus seiner Paralyse – du solltest also ab und zu ein Auge zudrücken, wenn er mal ein bisschen aggressiv ist. Klar, wenn der Schiri im Spiel keine Lust mehr hat, wie heute, ist es das eine – aber solange er niemandem wehtut, gib ihm nicht das Gefühl, dass er seine aufgestaute Energie nicht rauslassen kann. Kannst du uns den Gefallen tun, Olli?“
Olli nickte.
„Klar, Olaf. Ich werde tun, was ich kann.“
„Wir sind schon in Kontakt mit der Schulleitung“, erklärte Timmies Mutter.
„In der nächsten Konferenz steht die Sache ganz oben auf der Tagesordnung, das hat man uns versichert. Und schon vorher wird einzeln mit allen Lehrkräften gesprochen. Vielleicht weiß jemand was, hat was gesehen oder gehört, vielleicht ist sogar einer der Lehrer“ –
„Dass einer der Lehrer, ehm…involviert ist, davon wollen wir an dieser Stelle natürlich nicht sprechen“, schnitt Timmies Vater, ein Lokalpolitiker, ihr das Wort ab.
„Aber die Schule ist ein vulnerabler Ort – die Gerüchte allein hätte man noch ignorieren können, aber dann die Sache mit Timmie…wir haben sogar schon überlegt, ihn untersuchen zu lassen. Ob er – du weißt schon. Es geht uns einfach nicht in den Kopf, wie nur beobachtet zu werden, so etwas auslösen kann. Wir können nicht mehr ausschließen, dass mehr passiert ist. Aber uns lässt er einfach nicht mehr an sich heran.“
Olli spürte, wie ein Anflug von Schwindel in seinen Kopf stieg und langsam begann, sich darin auszubreiten. Er nickte so verständnisvoll er konnte, und schweifte mit den Augen nervös zwischen Olaf und Tina hin- und her, bis sich der fluktuierende Fokus seiner Linsen endlich auf einen fernen Fleck zerpflügten Rasens in der Leere zwischen den beiden fixieren konnte.
„Habt ihr eigentlich…“, begann er, doch er musste abbrechen und zweimal tief durchatmen. Tina öffnete vorsichtig den Mund, um zur Frage nach seinem Befinden anzusetzen, als ein plötzlicher Impuls Olli herumfahren ließ – mit suchendem Auge blickte er zum Ende des Sportplatzes.
„Wo…wo sind denn alle hin…“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Olaf und Tina, als habe er vergessen, dass die beiden noch immer vor ihm standen. Dann eilte er in Richtung Kabine.
Ich habe dir gesagt, du sollst warten, Junge.
Wehe, du bist wieder weggelaufen.
Nächstes Training: da kannst du laufen, keine Sorge. Zwei Runden für jede verdammte Minute, die ich dir jetzt schon wieder hinterherjagen muss.

IV – Die Jagd

Auf dem Hügel am Rande des Spielplatzes wollte Peter gerade der Jasmin-Patschuli-Fahne hinterherschnüffeln, als die zweite perfekte Harmonie des Nachmittags sich wie von selbst zu komponieren begann: dem fast heimlichen Auftakt der Percussion in der Form flüchtiger Regenfussel, folgte das Erscheinen einer kleinen Silhouette unter einem Baum im Tal, sowie der erste Atemzug eines Regenbogens, der sich über der Baumkrone andeutete. Vom Zoom-Objekt verlassen, bemühte sich Peter, mit den eigenen Augen das Schauspiel in der Ferne zu schärfen. Der feine Sprühregen, illuminiert von den wenigen Sonnenstrahlen, die es schafften, sich zwischen den Wolken hindurchzustehlen, erschien ihm nun wie eine dünne Schicht Filterglas vor der Silhouette, deren ungefilterte Erscheinung die Natur vor ihm bewahren wollte. Es war dieser Gedanke, der ihm den nächsten, entscheidenden Impuls gab.

Knapp zwei Kilometer zurück in Richtung ihres kleinen, ruhigen Vororts, rannte Petra, so schnell sie nur konnte. Zu dieser Zeit, wusste sie, waren viele der Kinder und Eltern aus der Nachbarschaft auf dem Sportplatz versammelt, also war es die perfekte Gelegenheit, die verstörende Erzählung ihrer Mutter als Warnung in die Welt zu setzen. Während Petras Beine schwer wurden, ihr Atem sich zu überschlagen begann, und sie sich dafür verfluchte, sich während des Lockdowns so wenig bewegt zu haben, blitze vor ihrem inneren Auge immer wieder diese eine Szene auf: Die Kinder spielen unbekümmert auf den glänzenden Geräten. Ihr Mittlerer, Luis, im Alter von fünf oder sechs, mit einem breiten Grinsen, erwidert vom schüchternen Lächeln der Nachbarstochter. Die Schulter des Fremden ohne Gesicht, der in Wahrheit womöglich ein Bekannter war. Ein schwarzer Lederhandschuh, der zu seinem Gürtel fährt, und dessen Schnalle langsam öffnet.

Seine Beute fest im Blick, stürmte Peter in das Tal.
Die Symphonie aus Licht und die Umgebung speisenden Schatten, begleitet vom Rhythmus seiner Schritte und Atemzüge, ließ das Blut in seinen Adern bis an die Poren seiner Haut überquellen. Ein warmes Kribbeln durchfloss seinen Körper, schärfte seine Sinne, beflügelte die Füße. In vollem Lauf, ließ sein motorisches Gedächtnis wie von allein die Finger die Rädchen an der Kamera streicheln, als sein fleischliches Augenpaar einen Riss registrierte: Als habe sie Peters Kommen längst bemerkt, kehrte die Silhouette ihm den Rücken zu und riss das Bild entzwei, sodass auch etwas in Peter irreparabel riss. Mit rasendem Herzen und einem Pochen unter den Schläfen hetzte er der Silhouette hinterher – er musste sie zurückholen, das perfekte Bild wiederherstellen, solange die Sonne und die Schatten und die Leere für ihn sangen; solange der Regenbogen sich nur für ihn wölbte, um alle Farben in sich zu bannen und sie allein nach seinem Belieben zu brechen.

Die Kinder.
Wo sind die Kinder?

Petra hielt die Luft an. Der Sportplatz war verwaist.
Allein die Spuren der kleinen Füße auf dem Rasen hatte das Monster von ihnen übriggelassen.
Unsinn. Reiß dich zusammen.
Petra fuhr um sich, schnüffelte. Wonach sie roch, war ihr selbst nicht klar. Die Ausdünstungen ihrer eigenen Angst hinterließen einen Brechreiz in ihrer Kehle. Hinter ihr erklangen Schritte.
„Das Spiel ist vorbei, Petra.“
Tina, Mutter von Timmie, einem Freund von Petras Jüngstem, Oliver. Daneben ihr Ehemann Olaf, dem Petra sofort ansah, dass er Tina erst kürzlich einmal mehr betrogen hatte.
„Wo – wo sind denn alle so schnell hin? Das Spiel ist doch gerade erst fertig geworden!“
Olaf zuckte mit den Schultern. Petra spürte einen Stich in der Brust. Von jetzt auf gleich erhob sie ihre Stimme und raste in Richtung Olaf.
„Kapiert ihr eigentlich, was hier momentan abgeht?! Herr Ebian misshandelt unsere Kinder, und ihr zuckt mit den Schultern?!“
Olaf runzelte die Stirn.
„Herr Ebian?“
Tina nahm eine Hand vors Gesicht und schaute durch ihre zitternden, knochigen Finger.
„Du willst doch nicht…das heißt – es sind wirklich nicht nur Gerüchte? Es könnte wirklich mehr passiert sein, als nur stalken?“
Petra, nun mit lodernden Augen, nickte.
„Aber, er…er wohnt so nah, von mir sind es nicht einmal“ –
„Das ist der Punkt, Tina, verdammt, genau das ist der Punkt!“
Petras Stimme überschlug sich.
„Ich kann von unserem verdammten Balkon aus fast in seine Küche schauen!“
Erneut roch Petra ihre Angst, und sah vor sich ihre Haustür, die von einer schwarz vermummten Hand geöffnet wird. Auf der blanken Leinwand Tinas nun leichenähnlichen Gesichts erblickte sie den blutigen Hinterkopf ihrer Mutter auf dem Boden vor der Haustür – sie wollte schreien, mit ihren Stimmbändern die Bilder zerreißen, doch der überschnelle Ansatz zum nächsten Atemzug schnürte ihr den Hals zu.
Beruhige dich. Sie sind sicher.
Sie sind sicher.
Lass die Angst nicht gewinnen. Du die Nachricht verbreiten.
Lass die Angst nicht gewinnen.
Atme.

Nur ein paar hundert Meter entfernt: Kinderrufe.
„Papa, Papa! Hilfe!“
Paul rannte weiter, so schnell er konnte, indem er sich vorstellte, in der letzten Minute eines Spiels dem Ball hinterherzujagen. Im nächsten Wimpernschlag erblickte er tatsächlich den Sportplatz.
Papa ist bestimmt noch da. Papa wird den komischen Mann stoppen.
„Papa, er holt mich ein!“
Das Spiel war anstrengend genug, ich kann nicht mehr! Papa, meine Beine werden müde!

Der Sportplatz, erhellt von den sterbenden Sonnenstrahlen, rückte näher; dieses weite, vertraute Energiefeld, auf dem er uneinholbar war, unverwundbar.
Papa – warum ist er immer noch so schnell? Warum wird er nicht auch müde?

Peter stoppte abrupt und stolperte und fing sich und schnappte nach Luft und hievte seine schweren Beine weiter der Silhouette hinterher.
Treib sie in Richtung Wald. Auf dem Sportplatz wimmelt es von neugierigen Augen, die nur das sehen werden, was sie sehen wollen, ohne zu verstehen.
Tina, Olaf und Petra erreichten mit böser Vorahnung den Sportplatz. Die Kinder auf den Wippen und Schaukeln, auf den Gerüsten und im Karussell, waren unbeirrt in ihre kleine Welt vertieft.
„Petra, dort drüben, schau!“ – Tina zeigte auf die andere Seite des Spielplatzes, von der aus ein Mann in Richtung der spielenden Kinder blickte, ohne sich zu regen. Petra preschte los.
„Hey, Sie da, lassen Sie verdammt noch mal ihre dreckigen Finger von“ –
Der Mann drehte sich so plötzlich um, das Petra zusammenfuhr. Das von Sorgen zerfahrene Gesicht, das sie erblickte, ließ sie erleichtert seufzen. Es war nur Pauls Vater, Olli.
„Er…er ist nicht hier.“
Unsicher, ob sie Ollis Murmeln richtig verstanden hatte, kam Petra ihm langsam näher. Nun war es seine Angst, die sie roch, nicht ihre. Seine Angst war nicht die tollwütige Panik, die ihr so vertraut war; vielmehr roch Olli nach Resignation, nach der Furcht vor der Schuld der Zukunft, dem ewigen Leugnen der eigenen Fehler, die ihn erst die Frau gekostet hatten, und vielleicht schon das einzige Kind.
„Er ist nicht hier.“
Petra nahm Ollis Hand und sah ihm in die müden Augen.
„Keine Sorge, er ist bestimmt nicht weit weg. Wir werden ihn finden.“
Kaum hatte sie ihren Blick von Ollis gelöst, verpuffte jegliche innere Ruhe, und die Panik floss zurück in ihre Adern.
„Hey, ihr da!“, eilte sie in Richtung der Kinder auf der Wippe.
„Wo ist Paul? Habt ihr Paul gesehen? War jemand hier, der komisch war?“
„Paul ist blöd, er will nie passen, nur selbst schießen!“, beschwerte sich ein kleiner Junge, der noch Fußballerde im Gesicht hatte. Petra ging weiter zur Rutsche, zur Schaukel, zum Karussell.
„Da war ein komischer Mann“, meinte schließlich ein kleines Mädchen, dass ihr bekannt vorkam, ohne dass sie sich an ihren Namen erinnern konnte.
„Er hat Bilder gemacht, aber nur ganz kurz, dann ist er ganz schnell weggerannt.“
„Wie sah der Mann aus?“
„Ehm – also er hatte glaube ich schwarze Klamotten gesehen, aber, aber, er war ganz schnell wieder weg, und vor dem Gesicht war die Kamera, alsooo“ –
„Danke, Kleine, das hilft uns schon mal weiter.“
Petra kehrte um, packte den weiter starren Olli am Arm und schleifte ihn mit sich. Dann wandte sich an Olaf, der mit Tina in ein heikles Gespräch vertieft schien, während Timmie neben ihnen mit gesenktem Blick mit dem Fuß in den Holzschnitzeln auf dem Boden herumstocherte.
„Wenn du ein Kind misshandeln würdest, wo würdest du es tun?“
Olaf schnaubte empört auf.
„Was zum – was denkst du eigentlich, wer du bist, hm? Du spinnst doch! Hast seit Monaten nicht das Haus verlassen, und denkst, du könntest jetzt wie eine Gestörte herumrennen, und alle mit deinem Wahnsinn anstecken!“
Petras Augen zuckten manisch. Ein Grinsen verzog ihre Lippen zur Grimasse.
„Ich bin also die Verrückte, klar, klar...“, murmelte sie leise vor sich hin. Olaf begann erneut, über sie herzuziehen, doch seine Worte rückten für Petra in die unhörbare Ferne. Stattdessen wandte sie sich Tina zu, die mit traurigem, abwesendem Blick zu Timmie schaute, als bekomme sie vom Streit ihres Mannes direkt neben ihr rein gar nichts mit.
Was ist das für eine Frau, dass sie einfach so
„Im Wald.“
Petras Kopf schnellte zur Seite. Olli, scheinbar aus seiner Trance erwacht, wartete mit bohrendem Blick auf ihre Antwort.
„Wenn“ –
Er zögerte, atmete tief durch, versuchte es erneut.
„Wenn ich ein Kind misshandeln würde, würde ich in den Wald gehen.“
Petra nickte, packte Olli erneut am Arm und eilte mit ihm los. Olaf, der sich noch immer über Petra beschwerte, spürte einen Tritt auf den Fuß.
„Hey, was soll das – hat die Spinnerin dich jetzt auch angesteckt?!“
Tinas Augen funkelten. Sie nickte, wandte sich von ihrem Mann ab und folgte mit entschlossenen Schritten Olli und Petra.
Olaf, kurz verblüfft von seiner Tina, deren Blick er soeben nicht wiedererkannt hatte, brauchte noch einen Moment, dann nahm er seinen Sohn an die Hand und schloss sich widerwillig der Jagd nach Herrn Ebian an, wohlwissend, dass es abgesehen von den Erzählungen zweier verrückter alter Frauen keinerlei Beweise dafür gab, dass wirklich irgendjemand misshandelt worden war – auch nicht Timmie, den vielleicht jemand beobachtet hatte, aber mehr als das war nicht passiert, zumindest nicht seinem Timmie, da war er sich mit einem Mal ganz sicher.

Kurz vorm Wald war Peter seiner Beute so nah, dass ein verirrter, fahler Lichtstrahl ihn mit einem Mal erkennen ließ, wen er seit Minuten wie ein Wahnsinniger jagte – es war Paul Kleinmann, einer seiner besten Schüler. Paul Kleinmann, den er erst vor ein paar Wochen gegenüber seinem Vater im Elterngespräch so hoch gelobt hatte…
Von einem Kälteschauer überwältigt, musste Peter innehalten.
Was tust du hier?
Er ließ Paul davonrennen.
Du benimmst dich nicht normal. Du benimmst dich wie ein
Die Luft roch plötzlich anders. Peter sah auf. Der Regen war davongezogen. Ohnehin längst weit entfernt vom Baum, vom Regenbogen, von jeglichen Puzzleteilen des perfekten Bildes, machte er sich enttäuscht auf den Weg nach Hause. Erst, als er wieder den Park passierte, erinnerte er sich, dass er beim Soffritto für das Ragout den Sellerie vergessen hatte. Fluchend kehrte er um und eilte in Richtung Innenstadt.

Petra und Olli, ein paar Meter dahinter Tina, Olaf und Timmie, erreichten mit Einbruch der Dämmerung den Waldrand. Auf dem nassen Waldboden unter einer alten Kastanie entdeckte Olli vor den anderen eine in sich eingesunkene Gestalt. Es war sein Paul, sein Starspieler, sein ein und alles.
„Paul, verdammt, was machst du denn für Sachen?!“
Er ging vor Paul auf die Knie, rüttelte ihn an den Schultern, wartete mit flehendem Blick darauf, dass sein Sohn endlich zu ihm aufsah. Paul reagierte nicht. Erst als Olli mit beiden Händen sein Gesicht umfasste, hob Paul seinen Blick. Alles, was Olli in den Augen seines Sohnes finden konnte, war eine stille Abwesenheit; der Rückzug in sich selbst, vor sich selbst und allen anderen.
Es war der Anblick der Ohnmacht dieses Vaters gegenüber seinem eigenen Sohn, welcher Petra sofort umkehren ließ. Sie brauchte keine Beweise, um zu wissen, warum Paul nicht sprach; warum er durch seinen Vater hindurchsah, in Richtung eines Ortes, der nicht existierte, an dem er sicher war; an dem man alles Geschehene umkehren konnte. Mit pochendem Herzen und einem trockenen Ekel in der Kehle eilte sie nach Hause. Bei jedem Schritt flackerte ihr Küchenfenster vor ihr auf, welches viel zu viel des Innenlebens ihrer heimischen vier Wände preisgab.
Olli sah Petra eine Weile hinterher. Dann versuchte er aufs Neue, auf seinen Paul einzureden, irgendetwas aus ihm herauszubekommen, das seine schlimmsten Ängste beschwichtigen könnte – Paul aber blieb verriegelt, blieb weiterhin nicht wiederzuerkennen. In die Lehre starrend, spürte Olli eine Hand auf seiner Schulter. Gereizt fuhr er herum. Tina erschrak, doch riss sich schnell zusammen.
„Du bist nicht allein, Olli“, erklärte sie ihm sanft.
„Wir alle müssen jetzt zusammenhalten, damit die Kinder heilen können.“
Olli wimmelte sie ab.
„Was erzählst du da, du Spinnerin?!“
Olaf hob drohend den Zeigefinger, Olli ignorierte ihn.
„Paul ist einfach müde, vom Spiel – stimmt’s, Kumpel?“
Er klopfte Paul auf die Schulter. Paul sah mechanisch zu ihm auf und nickte benommen. Dann starrte er zurück in das schwarze Loch im Waldboden.
Olli grinste gezwungen zu Tina.
„Siehst du? Alles wie immer.“
Olaf schüttelte den Kopf, Tina lächelte traurig.
„Olli, ich weiß, es ist hart zu akzeptieren, aber bei Timmie war es genauso – erst die Gerüchte, dann Timmies Erzählung, das kann nicht einfach“ –
„Kümmere du dich um dein Kind und lass meins verdammt nochmal in Ruhe.“
Olli zerrte Paul nach oben.
„Komm, wir gehen.“
Tina und Olaf sahen einander wortlos an. Gemeinsam blickten sie nach unten zu ihrem Timmie, der in der Zwischenzeit unbemerkt Pauls Platz auf dem Waldboden eingenommen hatte. Von dort sprach Timmie seinen ersten Satz des Tages:
„Vielleicht hat Paul auch den komischen Mann getroffen.“
Olaf winkte ab.
„Unsinn. Den komischen Mann hast du dir eingebildet.“
Er reichte seinem Sohn die Hand, ignorierte den perplexen Blick seiner Frau und meinte in plötzlich fast jovialem Tonfall:
„Ich geh noch schnell mal pinkeln, dann geht’s nach Hause und gibt’s heiße Schokolade. Ja?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, ließ er Frau und Kind allein. Seit einer halben Stunde mit voller Blase, erleichterte er sich mit geschlossenen Augen zwischen zwei Tannen. Als er seine Augen wieder öffnete, starrten ihm aus einer schwarzen Maske zwei leuchtende Augapfel entgegen. Olaf hielt kurz inne, dann verwies er den maskierten Mann nur mit seinem Blick in die Untiefen des Waldes. Er begann zu pfeifen, schüttelte lässig die verbliebenen Tropfen Urin von seinem Glied, und kehrte zurück zu seiner Familie, um in der warmen Obhut ihres Heims diesen missratenen Sonntag versöhnlich ausklingen zu lassen.


V – Hinterlassene Spuren

Der nächste Morgen.
Petra sitzt in der Dämmerung allein am reich gedeckten Frühstückstisch.
Ein weiterer Montag. Nach über dreißig Jahren wird dieser graue Herbsttag dem Montag endlich eine neue Bedeutung geben. Montag wird ab sofort der Tag sein, an dem dank ihrer Hilfe eines der vielen Monster dort draußen gefasst und für immer weggesperrt wurde.
Ein paar Häuser weiter verabschiedet sich Timmies Vater von Frau und Sohn. Auf dem Weg zur Arbeit stoppt er an einer Müllhalde und lässt eine kleine, desinfizierte Handkamera inmitten der Millionen Einzelteile eines Abfallbergs verschwinden.
In ihrer Wohnung nahe des Sportplatzes, welche Olli nach dem Verrat seiner Frau mit seinem Paul bezogen hat, frühstücken die beiden stumm. Nach dem Spülen versucht der Vater aufs Neue, mit seinem verstörten Sohn zu sprechen. Paul bleibt verriegelt.
Der Trainer rollt einen Ball in Richtung des Fußes seines Capitanos, der Fuß zeigt keine Regung, der Ball prallt ab.
Beobachtet von Petra auf dem gegenüberliegenden Balkon, klingelt Gabriela, die länger als sonst im Krankenhaus bleiben musste, an der Tür ihrer und Peters Wohnung. Peter erwacht aus seinem Halbschlaf, öffnet ihr verträumt. Sie riecht die Lasagne, grinst, küsst ihn liebevoll.
„Du bist der Beste.“
„Ich gebe mein Bestes.“
„Ich weiß.“
Die Polizei fährt vor. Peters Augen füllen sich mit Panik. Gabriela dreht sich um zum blaugelben Auto, wendet sich zurück an ihren Partner, ihren Liebhaber, ihren besten Freund, den Vater ihrer ungeborenen Kinder. Sie schüttelt den Kopf, Peters Lippe erbebt. Er wendet sich von ihr ab und eilt ins Haus.
Überall sucht er seine Kamera.
Die Bilder sind privat.
Während zwei Polizisten aus dem Auto steigen – einer davon der protzige Nachbar, den Peter besonders wenig ausstehen kann – jagt Gabriela Peter hinterher. Was ist los, fragt sie, was ist passiert, was hast du getan, wieso tust du mir das an – Peter hört die Worte, doch versteht sie nicht. Sie sind weit entfernt.
Du musst nur die Kamera finden, dann wird alles gut. Dann bleibt alles wie es ist.
Als sei gegenüber nichts Besonderes in Gange: Petra und ihre Familie seelenruhig beim Frühstück. Es ist der erste Tag nach all den Monaten, an dem der Mittlere und die Älteste wieder Präsenzunterricht haben. Petras Mann steht auf, um die beiden zur Schule zu bringen, als Petra niesen muss.
„Corona, Corona!“, schreien die Kinder, ihr Vater weist sie zurecht, dass sie über so etwas keine Witze machen sollten.
Petra schnüffelt, muss erneut niesen. Sie steht auf, geht zu ihrem Mann, schnüffelt an seinem Haar.
„Schatz, du riechst – nach Kastanien…“
Ihr Mann runzelt die Stirn.
„Kastanien?“
Ein paar Sekunden lang starren sei einander wortlos an. Petra sucht in seinen Augen eine Antwort, doch findet nur eine weiß-braun-schwarze Mauer.
„Da fällt mir ein, das Meeting heute wurde eine halbe Stunde nach vorne geschoben – Luis, Anna, kommt – ich kann wirklich nicht zu spät sein.“
Zu spät. Zu spät.
„Ach so, jetzt fällt es mir wieder ein“, wendet ihr Mann sich wieder an Petra, „ich habe beim Spaziergang gestern Kastanien gefunden – im Ofen mit ein bisschen Honig sind die bestimmt superlecker.“
Er gibt ihr einen Kuss, und spürt, wie dieser nicht erwidert wird.
„Tom – wie lange sind wir jetzt verheiratet?“
„Neunzehn – was meinst du?“
„Du weist genau, dass ich gegen Kastanien allergisch bin.“
Das Lächeln ihres Mannes weicht. Sein Blick verändert sich. Petra sieht die weiß-braun-schwarze Mauer fallen, und erkennt das rohe, nackte Fleisch unter der Maske.
Peter, in Handschellen, wird von den Polizisten ins Auto gepfercht.
Wieso hast du nicht alle Bilder auf die Festplatte verschoben. Wieso nur die, die dir am besten gefallen…
Gabriela steht kopfschüttelnd auf der Türschwelle und starrt zum blaugelben Auto. Tränen bilden sich auf ihrer Netzhaut, doch weigern sich, zu fließen. Ihr verschwommener Blick schaut durch alles hindurch, irgendwo hin, wo alles still ist, alles körperlos schwebt, ohne morgen, ohne gestern.
Der protzige Polizist am Steuer will gerade losfahren, als ein Anruf reinkommt.
Gabriela beobachtet, ohne zu sehen, wie der Blick des Polizisten von ihrer und Peters Wohnung hin zum Haus mit dem Balkon gegenüber schweift. Sie versucht, sich zu erinnern, wer in diesem Haus wohnt, doch im Ordner Unser Zuhause auf ihrer Festplatte sind schon alle Daten endgültig gelöscht, auch die der Nachbarn.
Der Polizist auf dem Beifahrersitz betrachtet Peter hin- und hergerissen.
Peter schaut fragend. Die beiden Polizisten geleiten ihn aus dem Auto und zurück zu seiner Wohnungstür.
„Entschuldigen Sie. Sie waren wohl der Falsche.“
Gabriela beginnt starr und still zu weinen. Peter will ihr um den Hals fallen, sie weicht zurück und schiebt ihn durch den Türrahmen hinein ins Haus. Ein verächtlicher Blick in Richtung der Bullenschweine, dann wendet sie sich von ihnen ab.
„Kennt ihr die Familie dort drüben?“, hakt einer der Polizisten hastig nach. Gabriela schlägt die Tür zu.
Peter, mit Teller im Schoß zitternd auf der Couch im Wohnzimmer, neben sich seine Kamera. Gabriela geht in die Küche, um die Lasagne zu holen.
Peter beruhigt seinen Atem.
Du hast nur die Bilder gemacht. Gesichter, Lichter, Schatten. Dieselben Bilder wie immer.
Gabriela, mit der dampfenden Lasagne in der Hand, hält auf der Schwelle zum Wohnzimmer inne. Peter sieht verwundert zu ihr auf.
Während sie zum ersten Mal das rohe, nackte Fleisch unter seine Maske zu erblicken glaubt, registrieren seine Augen das grelle Morgenlicht, das durch das große Wohnzimmerfenster zu ihnen hinein fällt. Nur Gabrielas linke Gesichtshälfte erhellt sich, umspielt vom heißen Dampf, der von der Lasagneform aufsteigt.
Peters rechte Hand greift wie von allein nach seiner Kamera, führt sie nach oben, richtet sie auf die nur für ihn zusammengesetzte Komposition aus Licht und Schatten und Dampf und den zarten Zügen seiner Liebhaberin und Muse, seiner besten Freundin und zukünftigen Ehefrau, der Mutter seiner ungeborenen Kinder. Plötzlich von Schwindel befallen, wagt Gabriela wankend den nächsten Schritt hinein ins Wohnzimmer. All ihre Sinne auf das Halten der schweren, heißen Lasagnenform zentriert, sieht sie verschwommen durch den Dampf hindurch, wie Peter seine freie Hand erhebt – mehr zu sich als zu ihr, meint er mit einer Stimme, die sie noch nie gehört hat:
„Halte still, mein Kind. Halte still.“

 

Der Keim kommender, verstörender Vorfälle begann an einem warmen Sonntagnachmittag im Herbst zu sprießen.

Hallo,

warum sollte ich noch weiterlesen, wenn mir eigentlich schon alles im ersten Satz verraten wird?

Peter verabschiedete sich an jenem warmen Sonntagnachmittag mit hektischer Zuneigung von seiner Freundin Gabriela, die wie jedes Wochenende zur Nachtschicht ins Krankenhaus musste.
Hektische Zuneigung - wie darf ich mir das vorstellen? Also, nach mehreren langen Absätzen geht es da irgendwie los mit Action. Da bin ich aber schon fast eingeschlafen.
Es geschah selten, dass seine Subjekte, die Farben und Formen ihrer Umgebung, und das natürliche, sie umspielende Licht, dermaßen perfekt harmonierten, dass ihr Einklang seine Hände wie von selbst machen ließ, ohne dass er denken, oder gar ein zweites Mal hinsehen musste. Heute, das verstand er schnell, war endlich wieder solch ein Tag. Allein das Fokussieren der frühabendlichen Sonnenreflektionen auf dem grell glänzenden Edelstahl genügte, um die Kinder als dunkle Silhouetten erscheinen zu lassen, und die vollen Bäume im Hintergrund als lauerndes Gebirge, das jederzeit als Lawine über den Kleinen zusammenbrechen könnte.
Ja, da liest man richtig, wie du dir Mühe gegeben hast, aber es liest sich einfach narkotisierend. Um einen Charakter irgendwie plastischer hinzukriegen, müsstest du diesen Charakter bei diesen Beschreibungen zeigen, sie lebendig werden lassen, nicht nur einfach behaupten.

Nach gefühlten zehn Absätzen der erste Dialog. Da bin ich schon ausgestiegen. Da ist keinerlei Geheimnis, keinerlei Dynamik, keinerlei Verführung, nur umständliche Beschreibungen.

„Ist das denn eine spezielle Kamera?“
Das wäre mein erster Satz. Alles, was du vorher schreibst, könntest du ab hier in geschickten Dialogen zeigen.

Zu lang, zu viel, und den falschen Einstieg gewählt meiner Meinung nach. Ich hab es auch nicht zuende gelesen, nur überflogen, und im Großen und Ganzen ist es more of the same.

Gruss, Jimmy

 

Nicht zuende gelesen, aber "more of the same" - of what?

 

Alles klar. Danke für das Feedback. Schönen Tag dir.

 

Hallo @Rob F , danke für dein Feedback. Ich glaube ich habe einen Fehler gemacht, die Geschichte als Krimi zu kategorisieren. Fitzek zumindest war nicht meine angedachte Kategorie. Mir geht es in der Geschichte eher um Obsession, Schuld, stumme Mittäterschaft, das Gesamtbild eines kleinen Orts, in dem vieles leicht vertuscht werden kann. Für diese Dinge erschien mir Psychologie wichtiger als Plot, aber ich verstehe, dass womöglich gerade durch die Kategorisierung als Krimi Erwartungen entstanden sind, die dann enttäuscht wurden.

Tatsächlich dachte ich, der erste Satz würde zum Weiterlesen anregen (und dies war auch erstmal die Reaktion derjenigen in meinem privaten Kreis, denen ich die Geschichte zu lesen gegeben habe). Da du und @jimmysalaryman jedoch deutlich anderer Meinung seid, scheint dem nicht zu sein.

Womöglich muss ich mich intensiver mit der Struktur von Kurzgeschichten beschäftigen. Sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben habe ich mich lange auf deutlich extensivere Formate fokussiert, das macht sich dann wohl hier negativ bemerkbar.

Aber das sind ja Punkte an denen du arbeiten könntest, sofern du daran interessiert bist.
Ich werde definitiv daran arbeiten. Dass ich nicht daran interessiert sein könnte, entnimmst du wohl meiner Antwort auf @jimmysalaryman s Feedback. Ich muss zugeben: da war ich einfach etwas muffig (und unterwegs, weshalb ich vielleicht überschnell geantwortet habe), da ich trotz einiger konstruktiver Kritikpunkte das Feedback als Ganzes doch als etwas herablassend empfunden habe, gerade weil die Geschichte nicht einmal zu Ende gelesen wurde, und alles einfach mit einer abfälligen Handbewegung abgetan. Wahrscheinlich muss ich mir einfach eine dickere Haut aneignen.

Danke für deine Zeit und schönen Abend dir.
Liebe Grüße,
Paul

 

Hallo Rob,

Ja, das leuchtet mir jetzt durchaus ein (obwohl der Titel für mich dennoch irgendwie weiterhin ganz gut rüberbringt, was ich hier erzählen will).

Zu dem ersten Satz: meinst du ohne den Zusatz "verstörend" wäre dies anders, oder geht es vielmehr um die Ankündigung im Allgemeinen?

Vielen Dank für die Ergänzung.

 

Ich muss zugeben: da war ich einfach etwas muffig (und unterwegs, weshalb ich vielleicht überschnell geantwortet habe), da ich trotz einiger konstruktiver Kritikpunkte das Feedback als Ganzes doch als etwas herablassend empfunden habe, gerade weil die Geschichte nicht einmal zu Ende gelesen wurde, und alles einfach mit einer abfälligen Handbewegung abgetan.
Das ist so nicht ganz richtig. Da waren auch konkrete Fragen bei, aber du hast eben einfach nicht geantwortet, bzw bist emotional geworden. Ich habe dir fast wortwörtlich einen ähnlichen Kommentar und einem deiner älteren Texte geschrieben ... dann schreibst du in deinem Profil, du machst einen MA in Filmwissenschaften und überarbeitest deinen Roman, Kurzgeschichten nur so nebenbei ... da erwarte ich dann einfach etwas mehr, als das, was du hier angeboten hast. Understatement geht anders.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Jimmy.

Ich habe ja erwähnt, dass du auch konstruktiv kritisiert hast. Diese Kritik werde ich auch versuchen, umzusetzen. Nur hier, ebenso wie letztes Mal, geht damit bei dir ein negativer Rundumschlag einher, den ich einfach etwas unnötig finde. Letztes Mal war es, dass ich alles falsch gemacht habe, was man nur falsch machen kann. Dieses Mal war alles genauso narkotisierend wie der Einstieg, obwohl du ja gar nicht zu Ende gelesen hast. Das ist mir einfach etwas übel aufgestoßen. Klar, meine Reaktion war (und ist) vielleicht emotional, und das muss ich in Zukunft ändern. Ganz unberechtigt fand (und finde) ich diese Emotion aber nicht.

Bezüglich des Understatements: meinst du die Beschreibung meines Profils? Ich beschreibe da einfach was ich momentan so mache. Verstehe nicht, wieso ich das hier nicht erwähnen sollte. Dachte, die Beschreibung sei dafür gedacht. Vielleicht habe ich das falsch verstanden.

Dass du mehr von mir erwartet hast, hat vielleicht mehr mit dir selbst zu tun, als mit mir. Ich bin 24 und mir bewusst, dass ich noch am Anfang stehe - senkt das deine Erwartungen? Ich habe deine Geschichten kurz überflogen (wenn ich mehr Zeit habe lese ich sie vielleicht richtig), scheint ein ganz anderer Stil als meiner. Trotzdem scheint es mir nicht nötig, nur weil man ein paar Veröffentlichungen hat, auf andere mit weniger Erfahrung herabzublicken. Dieses von oben Herabblicken, was auch in dieser Antwort von dir wieder bemerkbar ist, weil du dir scheinbar nicht verkneifen kannst, mir Selbstüberschätzung zu attestieren, obwohl du mich gar nicht kennst, relativiert leider ein wenig die konstruktive Kritik.

Ich habe hier in diesem Forum erst ein paar Feedbacks erhalten, und ein paar Austausche verfolgt, aber bei keinem anderen habe ich diesen herablassenden Ton empfunden.

Gruß,
Paul

 

Ich habe hier in diesem Forum erst ein paar Feedbacks erhalten, und ein paar Austausche verfolgt, aber bei keinem anderen habe ich diesen herablassenden Ton empfunden.
Wo ist der herablassend? Der ist vielleicht etwas kärger ausgefallen und schmiert einem keinen Honig um den Mund. Aber es ist nun mal, wie es ist. Ich werde nie persönlich, sondern bleibe am Text.
Trotzdem scheint es mir nicht nötig, nur weil man ein paar Veröffentlichungen hat, auf andere mit weniger Erfahrung herabzublicken
Wo tue ich das?

 

Honig um den Mund will ich ja gar nicht.

warum sollte ich noch weiterlesen, wenn mir eigentlich schon alles im ersten Satz verraten wird?
Um zu erfahren was wie passiert. Dir wird nichts Spezifisches gesagt. Auch bei Romeo und Julia weiß man ja a Anfang alles, was passieren wird (ich weiß, anmaßender und anachronstischer Vergleich). Das Feedback mit so einem Satz zu beginnen, suggeriert mir, dass du eigentlich kein Intetesse hast.

Nach gefühlten zehn Absätzen der erste Dialog. Da bin ich schon ausgestiegen
Seit wann braucht eine Kurzgeschichte überhaupt Dialog? Es gibt etliche ohne, bzw. in denen er nicht das A und O ist. Du erwartest etwas bestimmtes, und wenn das nicht kommt, steigst du direkt aus.

dann schreibst du in deinem Profil, du machst einen MA in Filmwissenschaften und überarbeitest deinen Roman, Kurzgeschichten nur so nebenbei ... da erwarte ich dann einfach etwas mehr, als das, was du hier angeboten hast. Understatement geht anders.
Das finde ich schon persönlich. Hast dir sogar die Mühe gemacht, meine Bio zu studieren, nur um deine Enttäuschung rhetorisch unterfüttern zu können.

Mein Punkt ist einfach, dass dein Feedback, im Gegensatz zu anderen, die ich bisher in diesem Forum gelesen habe, suggeriert hast, dass du eigentlich kein Bock hast, es dich eigentlich nicht interessiert. Ist ja an sich ok, wir alle haben begrenze Zeit. Trotzdem finde ich, man kann das dann mal ansprechen. Falls ich dir mit dieser Unterstellung Unrecht tue, tut mir das Leid.

Vielleicht bin ich durch die Uni auch einfach formelleres Feedback gewöhnt. Mag sein, dass formell in dem Fall auch meint, dass die Kritiken oft direkter, härter sein sollten oder sogar müssten.

Ich weiß ja jetzt bei deinem nächsten Feedback, was mich erwartet. Werde dann weniger emotional sein und versuchen, besser anzunehmen und zuzuhören, bevor ich antworte. Versprochen.

 

Das finde ich schon persönlich.
Das war allerdings aus meinem zweiten Kommentar.

Um zu erfahren was wie passiert.
Dafür müsste aber der Anfang reinsaugen, und das tut er nicht. Es ist auch nur eine Einzelmeinung; du kannst auch sagen, Hör mal zu Depp, ich will das aber so haben und genauso mache ich es auch. In der Liebe und im Krieg ist ja alles erlaubt. Ich würde deinen Text weiterlesen, wenn er nicht so einen lahmen Anfang hätte, ich habe dir begründet, dass es für mich an mangelnder Action liegt und dir sogar mitgeteilt, wo man vielleicht eher anfangen sollte/könnte. Damit kann man schon arbeiten, finde ich. Und natürlich kommentiert jeder unter seinen eigenen Gesichtspunkten, das ist ja vollkommen normal.

 

Okay, verstehe. Ich werde damit arbeiten. Wünsche dir einen schönen Abend.

 

So @jimmysalaryman @Rob F , hab jetzt auch endlich mal begonnen, eure Kritikpunkte ein wenig umzusetzen (bisher nur in ein paar der Absätze am Anfang, mehr in naher Zukunft). Ein besserer Titel fällt mir aktuell noch nicht ein, da kommt hoffentlich auch noch etwas. Euch einen schönen Abend.

 

Das Fokussieren der frühabendlichen Sonnenreflektionen auf dem grell glänzenden Edelstahl genügte, um die Kinder als dunkle Silhouetten erscheinen zu lassen, und die vollen Bäume im Hintergrund als lauerndes Gebirge, das jederzeit als Lawine über den Kleinen zusammenbrechen könnte.
Hallo,

oben der Satz nur mal ein Beispiel. Ich sehe das so, komprimiert etc, das ist sicher Ansichtssache. Was mir auffällt; du beschreibst sehr sorgfältig. Vielleicht hängt das mit deinem Studium zusammen - ich meine das jetzt nicht wertend oder so - wo du wahrscheinlich sehr analytisch herangehst. Vielleicht siehst du auch deine eigenen Bilder eher wie Filmstills - manchmal denke ich, ich lese die Set und Szenebeschreibungen eines Kameramanns oder Regisseur. Du erzeugst dadurch eine sehr volle Oberfläche, aber erstmal keine Tiefe, vor allem keine Charaktere, du erzählst dann nach, wie bei einer Narrative aus dem Off, nur das du nicht das Bild ergänzst, sondern das Bild beschreibst, und damit nimmst du dem Leser, eine eigene Welt sich zu imaginieren ... eine meiner Theorien ist die Zwei-Personen-Raum-Theorie. Ein Mann in einem Zimmer - das ist Stoff für eine Miniatur. Zwei Personen, egal welchen Geschlechts, in einem Zimmer, da kann eine Geschichte draus werden.

Zwei grobe Küsse verpackte er mit dem Versprechen, für ihr Abendessen, das sein Frühstück sein würde, Lasagna alla Bolognese zu kochen.
Hier mal ein Beispiel, wo du mMn Potential verschenkst. Es ist ihr Abendessen, aber sein Frühstück. Versuch das doch mal in eine Szene zu verpacken. Das wäre auch meine erste Szene, wo er ihr dann sagt, wie er wieder Bollo zum Frühstückskaffee essen muss, alleine wahrscheinlich. Das kann ja locker und humorvoll sein, aber es zeigt auch etwas über deine Charaktere, sie ist weg, er hat viel Zeit alleine ... wo führt uns das hin? Ich denke, niemals zuviel verraten am Anfang, so lange den Glutkern deiner Geschichte zurückhalten, bis es nicht mehr geht.

Vielleicht als Tip: so spät einstiegen wie möglich, so früh rausgehen wie möglich. Und lass deinen Protagonisten so wenig Zeit wie möglich alleine verbringen. Für den Anfang. Man sammelt sonst sehr schnell Ballast. Dann tuen die Prots alle möglichen Dinge, nur nicht das, was sie tun sollen: die Handlung vorantreiben. Außer du sagst, ist mir egal, ich scheiß auf Plot, was ich auch sehr gut finde, aber dann musst du trotzdem irgendwie einen Sog entwickeln, durch Sprache, Sound, Setting.

Ich lese morgen weiter und gebe dir nochmal detaillierter Feedback. Ich denke, du suchst einfach nach einem eigenen Zugang, wie du schreiben willst. Das ist nicht einfach. Ich glaube, man sollte selbst am radikalsten sein mit seinen eigenen Texten; was kann weg, was brauche ich wirklich, was will ich erzählen? Wenn du das klar vor dir hast, fällt auf einmal vieles einfach weg, wo du sagst, nee, das gehört da einfach nicht mehr hin. Ich glaube auch, dass du dich noch einmal mit show, don't tell beschäftigen solltest, um das szenische entpacken zu verinnerlichen. Ich weiß, das klingt wie eine Litanei, ist aber wichtig, du kannst dich immer noch dagegen entscheiden, aber ein Leser bleibt eben vor allem dran, wenn die Sensorik bedient wird, und das an den richtigen Stellen.

Bis später

Gruss, Jimmy.

 

Hallo @Henry K., danke für dein Feedback.

Das mit den ersten Schreibversuchen ist ja immer relativ, ich würde schon sagen, dass ich schon ein bisschen schreibe. Eher die Sache mit dem Feedback in Foren wie diesen ist für mich neu, vielleicht ist das der Punkt, dass ich zu lange in einem Vakuum geschrieben habe. Finde es halt etwas billig, wenn man das am Anfang eines Feedbacks nochmal so hervorheben muss, wirkt etwas von oben herab... aber gut. Deine konkreten Beispiele, was ich vermeiden/minimieren sollte, leuchten mir natürlich trotzdem ein (auch wenn ich finde, dass dieses Konzept von Best Practice nur bedingt von Nutzen ist, weil es mir persönlich gefällt, wenn ein Autor seinen Stil für jede Geschichte, jede Figur etc. zweckmäßig anpasst, sodass Form und Inhalt sich decken, anstatt dass Form immer gleich bleibt, egal welcher Inhalt.)

Jedenfalls verstehe ich deine Kritikpunkte, auch wenn dein Gegenbeispiel nicht ganz das ist, was ich suche (viele Dinge/Emotionen zu direkt benannt für den Stil, dem ich hier nachgehen möchte). Ich versuche wie gesagt, für jeden Text den Stil zu finden, der passt; in manchen Geschichten sind es dann eben ganz knappe, straighte Sätze ohne jegliche Schachteln, in anderen wie dieser hier schachtelt es womöglich etwas zu viel.

Ich werde versuchen, alles nochmal herunterzubrechen und zu destillieren.

Bin gespannt auf deine Ergänzungen.

Liebe Grüße, Paul

Hallo @jimmysalaryman

Vielleicht siehst du auch deine eigenen Bilder eher wie Filmstills - manchmal denke ich, ich lese die Set und Szenebeschreibungen eines Kameramanns oder Regisseur.
Interessant Punkt. Einerseits stimme ich dir zu, dass das gut sein kann. Andererseits empfinde ich meine Beschreibungen selbst meist als Externalisierungen der Figurenpsycholgie. Um mal einen etwas anmaßenden Vergleich zu nennen: auch Antonioni bewegt ja seine Kamera scheinbar ziellos im Ambiente herum, aber drückt damit eben die Leere seiner Figuren aus, anstatt nur mit Worten oder Close-Ups.

Vielleicht funktioniert es mit der Externalisierung nur, wenn es knapper und präziser ist. Daran muss ich natürlich arbeiten.

Hier mal ein Beispiel, wo du mMn Potential verschenkst. Es ist ihr Abendessen, aber sein Frühstück. Versuch das doch mal in eine Szene zu verpacken. Das wäre auch meine erste Szene, wo er ihr dann sagt, wie er wieder Bollo zum Frühstückskaffee essen muss, alleine wahrscheinlich. Das kann ja locker und humorvoll sein, aber es zeigt auch etwas über deine Charaktere, sie ist weg, er hat viel Zeit alleine ... wo führt uns das hin?
Hm. Auch wieder ein interessanter Punkt. Ich hatte diese Dynamik glaube ich ursprünglich etwas mehr ausgeführt (also dieses Auseinanderleben wegen unterschiedlicher Tagesrythmen etc.), dachte aber dann, dass es alles zu lange macht, bzw sich zu weit vom Kern der Geschichte wegbewegt (in der diese Beziehung ja absichtlich nur eine Randnotiz bleibt, weil die Obsession der Beziehung den Raum nimmt). Vielleicht muss ich das irgendwie in einen einzigen Satz oder eine knappe Szene verpacken, und dann gucken, ob es etwas bewirkt.

Und lass deinen Protagonisten so wenig Zeit wie möglich alleine verbringen. Für den Anfang. Man sammelt sonst sehr schnell Ballast. Dann tuen die Prots alle möglichen Dinge, nur nicht das, was sie tun sollen: die Handlung vorantreiben. Außer du sagst, ist mir egal, ich scheiß auf Plot, was ich auch sehr gut finde, aber dann musst du trotzdem irgendwie einen Sog entwickeln, durch Sprache, Sound, Setting.

@jimmysalaryman (Forsetzung letzte Antwort, Handy spinnt ein bisschen)

Außer du sagst, ist mir egal, ich scheiß auf Plot, was ich auch sehr gut finde, aber dann musst du trotzdem irgendwie einen Sog entwickeln, durch Sprache, Sound, Setting.
Gut, ganz egal ist mir Plot jetzt nicht, aber ich würde sagen es soll hier eher der Köder sein, oder eben der Beginn des Sogs, und sich zumindest teilweise dann in Atmosphäre, Figuren und ihre Ängste etc. auflösen. Da mir weder das mit dem Köder, noch das mit den Figuren wirklich gelungen zu sein scheint, muss ich wohl nochmal mehr Grundlegendes verändern, als angenommen. Mal gucken, was daraus wird.
aber ein Leser bleibt eben vor allem dran, wenn die Sensorik bedient wird,
Vielleicht ist das das Problem : ich dachte ja, ich hätte mit meinen Beschreibungen die Sensorik bedient, beispielsweise wenn ich versuche, durch gewisse Bilder die körperliche Lust/Sucht von Peter beim fotografieren zu evozieren.

Mein Problem mit diesem show, don't tell ist, dass ich m.M.n. vieles gar nicht so direkt "telle", sondern eher in sehr subjektiven Bilden oder Metaphern aufzuzeigen versuche - aber dies scheint beim Leser (zumindest bei euch beiden) nicht so wirklich anzukommen. Vielleicht ist auch hier der Punkt einfach die Präzision. Selbst wenn ein Bild dann eher indirekt evoziert, als direkt zu nennen, wird es dann vielleicht einfach schon dadurch zum "tell", dass zu viele Worte anneinandergereiht sind?

So, jetzt geh ich erstmal schlafen. Danke schon mal für deine erneute Beschäftigung mit der Geschichte. Bin auch bei dir gespannt, was da noch an Ergänzungen kommt.

Liebe Grüße,
Paul

 

Jetzt steige ich hier in deinen Text ein und habe in mir dieses Gefühl von Dissonanz - sehe aber, dass sich der Text mit fünf Kapiteln auf der Seite ausbreitet. Das ist wie in einem Konzert Platz zu nehmen und die Musiker verspielen sich direkt in einer Tour. Da denkt man sich auch: Was soll das? Warum spielen die uns hier was vor? Sollten die nicht zu Hause sitzen und ihre Akkorde üben?
Interessanter Punkt. In der Musik und in anderen Kunstformen (das erlaube ich mir jetzt mal trotz deiner Mahnung, nicht über das große Ganze zu sprechen, wenn man die Details noch nicht beherrscht) wird ja Dissonanz durchaus auch als legitimes Mittel verwendet. Klar, Dissonanz ist vielleicht schwieriger effektiv zu gestalten, und vielleicht ist mir das hier misslungen. Trotzdem muss es finde ich nicht immer in denselben Harmonien dahinplätschern. Gerade du, der in anderen Kommentaren von der Notwendigkeit von immer Neuem in der Kunst, von Picasso etc. sinniert hast, solltest diesem Grundgedanken doch eigentlich nicht abgeneigt sein, oder?

Aber diese Sprache hast du ja eben noch nicht zur Verfügung, sonst hättest du sie schon genutzt.
Das ist wieder so ein vernichtendes Urteil von oben, nachdem du eine Geschichte von mir gelesen hast (selbst wenn du es in den Absätzen danach beschwichtigst) . Wenn ich dir jetzt sage dass die nächste Geschichte einen ganz anderen Stil, eine ganz andere Sprache hat, ist die dann auch objetiv falsch? So tust du so, als gäbe es für mich so gar keine Hoffnung. Da muss ich ein wenig Schmunzeln. Ich hab ja auch zwei deiner Geschichten kommentiert, einiges kritisiert, einiges hat mir gefallen, aber in beiden habe ich jetzt nichts gelesen, was solchen abschließenden Urteilen wie diesen hier besonders viel Resonanz geben könnte.

Führe Tagebuch, schreibe Gedichte, lies Schriftsteller mit verschiedensten Stilen und versuche zu erfassen, warum sie so klingen, wie sie klingen, und was das bei dir als Leser auslöst. Hör den Lyrics von Rap-Songs, Singer Songwritern und anderer textlastiger Musik genau zu, finde heraus, was dich dabei anspricht, in der Tiefe. Was ist im ganz realen Sinne dein Sound? Welche Musik klingt so, wie sie in deinen Ohren klingen soll? Spiel mit der Sprache, auf dem Papier, in deinem Kopf oder verbal, im echten Leben. Laber scheisse, wirf den Sinn von Worten durcheinander, erfinde neue Worte, bilde wilde Assoziationen, schau dir Kunst an, beschreibe mit Worten das Gefühl, das sie in dir auslöst, beschreibe mit Worten, was du siehst, ohne zu beschreiben, was alles da ist.
Netter Rat. All das mache ich halt schon. Wenn es für Henry K. trotzdem noch nicht einmal für das Lesen von mehr als zwei Absätzen reicht, dann ok, dann muss ich nochmal in mich gehen. Ein Leben auch abseits des Schreibtisches lebe ich auch jetzt schon, ob du es glaubst oder nicht. Vielleicht muss ich ja erst für eine Weile nach Berlin ziehen, um gelebt zu haben, und dann den einen "richtigen" Klang finden zu können.

So, Ende des polemischen Teils der Antwort. Jetzt verdaume ich das Ganze erstmal, und schaue dann später/bald, wie ich es anwenden kann. Ich denke, es gibt durchaus Hoffnung, dass sich da doch noch etwas machen lässt. Dass es dir dann am Ende dann auch noch gefallen wird, kann ich natürlich nicht versprechen.

 

@Henry K.

(und ja ich weiß, Picasso hat erstmal klassische Stile gemeistert, und später experimentiert bzw. "seinen" Stil gefunden. Aber es gibt ja auch genug Gegenbeispiele, in denen Künstler parallel versucht haben, klassisches Handwerk und eine eigene Sprache kontinuierlich weiterzuentwickeln.)

 

(Paul Auster *hust).
Vielleicht liegt hier das Problem - Auster mag ich sehr :D

Naja, unsaubere Akkorde greifen ist halt kein Freejazz. Da besteht schon ein Unterschied, ob man etwas bewusst macht oder aus Unvermögen.
Das Urteil, ob es bewusst ist, oder aus Unvermögen, ist aber halt auch nicht objektiv. Nur tust du so. Bzw. tust du so als sei deine Subjektivität mehr wert, als meine.

Ich fand ja, du hattest einige gute Kritikpunkte, und habe das auch schon vorher so gesagt. Könnte man die arroganten Grundsatzzerstörung davor und dazwischen nicht einfach weglassen? Dann wäre die Kritik genauso konstruktiv, aber noch besser anzunehmen bzw. zu verarbeiten.

Es scheint mir so, hier geht es vielen (und auch dir) einfach um Konkurrenz. Klar, auch meine letzte Antwort hat das reflektiert, aber eben als Reaktion auf deine. Braucht es dieses Gift hier? Oder ist es eher ein Forum zum konstruktiven Austausch?

Grüße,
Paul

 

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