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Hang over

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10.09.2014
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Hang over

Jean-Pierre Witteborn, 46,5, ist ausgebildeter Grafiker. An der einstigen Grenze zwischen den damaligen Erb- und Erzfeinden geboren, in der herrlichen Landschaft des Oberrheins, ist er Alemanne mit Leib und Seele. Er betreibt mit großem Erfolg die einzige Sauerkraut-Boutique der Welt und ist als Sauerkraut-Missionar oft interkontinental unterwegs. Sein geschäftsfördernder Titel ist „ Premier Ambassadeur de vraie Choucroute“.
Die gestrigen und erfolgreichen Verhandlungen über die Integration elsässischen Sauerkrauts in die kongolesische Schulspeisung wurden im RED CROCOPHANT, Brazzavilles unseriöses Aushängeschild, ausgiebig gefeiert.
Verbürgt ist, dass die schwer angeheiterten Gäste in diverse Taxis und Pick-ups verladen wurden, als die Morgensonne schon ziemlich hoch am zentralafrikanischen Himmel stand.

Wenn Feuernebel mir die Sicht verspieren,
feurige Nebelschlieren danach gieren,
mich fassungs- und orientierungslos zu machen und mein Hirn verwieren,
wenn Granaten detonieren
als stechende Schmerzen in meinem Kopf und schwarze Männer mit Pfeil und Bogen und den aufgespießten Köpfen ihrer demzufolge unterlegenen Feinde den großen Fleischsuppenkessel mit dem immer seltener werdenden Regenwaldholz anheizen, wenn aus einem regenbogenfarbenen Iglu ein Zulumädchen im Naturkleid tritt und mir in meiner geliebten alemannischen Mundart die Geschmacksrichtungen all der bunten Iglueisbausteine erläutert, die hier von dressierten, bereits in ihrer Berufskleidung geborenen Pinguinen mit und ohne Waffel serviert werden – dann lechze ich nach Kühlung und Balsam für meine Wunden und entscheide mich für Mango, Melone und Caramel, weil diese zarten Farben so schön miteinander korrespondieren. Bon.

Doch sofort rufe ich den befrackten Kellner zurück. Gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, dass die von mir gewählten Pastellfarben ihrer Zartheit wegen auf einen willensschwachen Menschen hindeuten könnten, der unsicher, unerwachsen – und wohl auch mit einem laxen Lebensgefühl und weichen Knien unterwegs ist.

Nein, ich bin eher der deftige Typ. Für Deutschland, pour la France. Ich brauche stärkere Farben: Blau (Schlumpf), Rot (Erdbeere) und Schwarz (Lakritz). Schon kommt der Herr Ober mit dem Gewünschten angewatschelt. Er muss hier wohl gut verdienen, denn ich registriere XL-Brillis auf seinen Schwimmhäuten. Das rotblauschwarze Eis mit etwas Blattgold stellt er auf mein Tischchen und plötzlich durchzuckt es mich ganz fürchterlich, eine Krampfattacke schüttelt mich durch und durch – wie in Murano beim Blasen bunten Glases verändern sich die schrillen Farben irrsinnig schnell, auch ihre Formen wechseln in hektischem Tempo. Heiß und Eis, Gänsehaut und Schweiß. Meine Augen brennen, meine Hände und Füße wollen sich von mir ablösen und ich behaupte frech, dieses grellbunte Zeugs nie im Leben bestellt zu haben – zu stark ist die optische Erinnerung an die tausend tropisch-schönen Cocktails der letzten Nacht: ‚Biss der Mamba’, ‚Dschungel-Pipi’, ‚Head off!’, gemixt aus dem Saft exotischer Früchte, Eiswürfeln aus Kongowasser mit Krokodilschuppen und gepanschtem Sprit.

Ich wimmere den Herrn Frackober auf Knien an, doch möglichst schnell dieses widerliche Farbspektakel zu entfernen. Viel lieber hätte ich jetzt etwas Neutrales, Unverfängliches, mit keiner schlechten Erinnerung Angereichertes.
Vanille vielleicht, dann noch Sour Cream und als drittes White Chocolate, bitte.

Jetzt aber packen mich zwei tonnenschwere Seeelephanten, die hier als Rausschmeißer engagiert sind, am Hals und hinten etwas weiter unten und ich lande dort, wo ich in dieser meiner Verfassung - following the Kongolesian Way - auch hingehöre: auf dem Müll, directement hinter dem Great-Brazzaville-Ice-Cream-Palace. Ein ausgewachsener Hang Over ist schlimmer als der Tod.

 

AWM: schrieb:
Eine lyrische Zusammenfassung der verkaterten Gefühlslage.
Ist sie nicht auch ein bisschen episch?
Aber Spaß beiseite. Hola @AWM!

Auf gar keinen Fall habe ich mit einem ernsthaften Kommentar gerechnet – jedenfalls muss ich jetzt ernsthaft antworten:
Das von Dir Angemerkte leuchtet mir ein und ich hab’s verbessert. Entschuldige meine Albernheiten. Ich hätte ‚Humor’ taggen können, aber Humor ist unendlich schwierig (wie wir an diesem Beispiel sehen:Pfeif:). Kleiner Scherz am Rande – das ist alles.

Sommerliche Grüße!
José

 
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Hallo José,

Jean-Pierre Witteborn, 46,5,
Hm, das sagt sicher niemand im wahren Leben. Ich sehe keinen Mehrwert oder verstehe schlicht nicht den erwünschten Effekt, der diese Altersdifferenzierung in halbe Jahre bringen soll. Was willst du damit aussagen?

Alemanne mit Haut und Haaren.
"Mit Haut und Haaren gefressen" ist mir ein Begriff. Hier wäre für mich "Mit Leib und Seele" stimmiger.

„ Premier Ambassadeur de vraie Choucroute“.
:lol:
Leerzeichen zuviel, vor Premier.

Die gestrigen und erfolgreichen Verhandlungen über die Integration elsässischen Sauerkrauts in die kongolesische Schulspeisung wurden ...
Das "und" gibt eine Betonung auf das "erfolgreiche", die sich mir jetzt nicht so richtig erschließt. Weshalb ich mir alternativ „Die gestrigen, erfolgreichen …“ vorstellen könnte. :shy:


und den aufgespießten Köpfen ihrer demzufolge unterlegenen Feinde
Das "demzufolge unterliegenden", ist ziemlich erklärend.

José, was für´n Trip. Unterschätze niemals den Restalkohol! :silly:
Durch die Adjektivüberschwemmung kommt die Geschichte etwas aufgeblasen rüber.
Beispiel:

Die gestrigen und erfolgreichen Verhandlungen ... wurden im RED CROCOPHANT, Brazzavilles unseriöses Aushängeschild, ausgiebig gefeiert.
Wie, unseriös? Wie, ausgiebig? Da fände ich reduzierte, aber aussagekräftige Bilder dieser Szenen schöner.

Hang over
Den Titel finde ich clever. Ich dachte, okay, warum nicht Hangover oder Hang-over? Aber die Geschichte geht in der Tiefe über den schlichten Kater hinaus.

Viel lieber hätte ich jetzt etwas Neutrales, Unverfängliches, mit keiner schlechten Erinnerung Angereichertes.
Hm. Ersticktes Moralempfinden und das eigene Gewissen können manchmal unerträglich plagend sein. Da setzte der ‚Dschungel-Pipi’ vielleicht eine gewisse Reflexion in Gang.

Ein ausgewachsener Hang Over ist schlimmer als der Tod.
Dennoch würde ich hier auf die reguläre Schreibweise gehen.


Weißt schon, alles nur meine spontanen Ideen und Eindrücke.
Viele Grüße
wegen

 

Hola @Tadita,

überrascht und erfreut war ich über Deinen Post:

... für mich ist Dein Text die reine Satire, über die ich mich köstlich amüsiert habe.
Oh, wie schön! Bewusst habe ich keinen tag benutzt, weil der ein Versprechen an den Leser wäre – und ’Satire’ oder gar ‚Humor’ sind furchtbar schwer einzulösen. Da muss sich der Autor voll einbringen, damit’s was wird.
Nein – ich wage es fast nicht zu sagen: Ich hatte tatsächlich nur Blödsinn im Sinn, einfach mal was Lockeres für zwischendurch, auch unter Missachtung einiger Regeln (Adjektivüberschwemmung sagt @wegen; u. a.) – mein großes Oeuvre will und will nicht fertig werden :hmm: .
Tadita: schrieb:
Als 3x-Leser interpretiere ich natürlich (fast) jeden Satz. Zusammenfassend geht es um Herkunft, Nationalbewusstsein, Überfluss, Schnelllebigkeit, das ‚freie‘ Leben und die Vernetzung der Welt.
Warum eigentlich nicht? Wenn das Dein Eindruck nach dreimaligem Lesen ist, dann ist das eben so und nicht anders. Den möchte ich sehen, der widerspräche.
So, jetzt bin ich gespannt, ob ich genussvoll auf dem Holzweg gewandert bin.
Ein Holzweg ist eine feine Sache, meist glatter und komfortabler als viele andere. Und wenn Du den noch genussvoll entlanggeschritten bist, dann frage ich: Welche Wunder sonst könnte ein solch kleiner Text vollbringen?

Liebe Tadita, vielen Dank für Deinen Kommentar!
José


Hola @wegen,

Jean-Pierre Witteborn, 46,5,
Hm, das sagt sicher niemand im wahren Leben. Ich sehe keinen Mehrwert oder verstehe schlicht nicht den erwünschten Effekt, der diese Altersdifferenzierung in halbe Jahre bringen soll. Was willst du damit aussagen?
Bin halt ein korrekter Mensch. Ich zum Beispiel bin 76,8. Was ist daran verkehrt?
"Mit Haut und Haaren gefressen" ist mir ein Begriff. Hier wäre für mich "Mit Leib und Seele" stimmiger.
Wie Recht Du hast! Bin wohl in der falschen Schublade gelandet.
und den aufgespießten Köpfen ihrer demzufolge unterlegenen Feinde
Das "demzufolge unterliegenden", ist ziemlich erklärend.
Claro. In einem seriösen Text hätte ich es nicht getan.
Hang over
Den Titel finde ich clever. Ich dachte, okay, warum nicht Hangover oder Hang-over? Aber die Geschichte geht in der Tiefe über den schlichten Kater hinaus.
Was bin ich doch für ein naives Kerlchen! Wollte nur scherzen, aber Deine Anmerkung über die Tiefe juckt mich doch gewaltig – ich hätte tatsächlich so einiges verpacken können, stimmt. Aber weil die Chinesen Afrika retten werden und nicht die Elsässer, verzichte ich auf Unken und Raunen und missbrauche nicht den Raum zwischen den Zeilen.
Viel lieber hätte ich jetzt etwas Neutrales, Unverfängliches, mit keiner schlechten Erinnerung Angereichertes
Hm. Ersticktes Moralempfinden und das eigene Gewissen können manchmal unerträglich plagend sein.
Hm ... ich seh schon: Wir landen noch bei den alten Philosophen. Aber ohne mich! Es muss doch verdammt noch mal möglich sein, einen harmlosen Text einzustellen, ohne an die Sklavenmärkte erinnern zu müssen, verdammt noch mal (ich glaube, ich sagte es schon). Der Witteborn will bloß sein Sauerkraut verkoofen, weiter nischt - und hat schon einen Termin auf den Tonga-Inseln.

José, was für´n Trip. Unterschätze niemals den Restalkohol!
Bah, nee – auf gar keinen Fall, meine Liebe.
Danke und viele Grüße!
José

 

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