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Guter Junge

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18.06.2015
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Guter Junge

Luca steht vor der Kellertür und wartet. Er zählt auf zwanzig und danach noch einmal, bis Tim ruft, er sei bereit. Luca öffnet die Tür und sieht seinen Kumpel auf einer Picknickdecke liegen.
«Was haben wir denn da?», fragt er, kniet hin und rollt Tim auf den Rücken. «Eine Leiche mitten im Wald!» Die Untersuchung beginnt. Tims Uhr ist nicht mehr am Handgelenk, am Hals sind zwei rote Punkte. «Raubüberfall», sagt Luca nach einer Weile. «Getötet von einem Vampir.»
Tim lacht und hebt einen roten Filzstift in die Höhe. Dann packt er Luca am Arm.
«Und jetzt bin auch ich einer!», ruft er und tut so, als würde er zubeißen.
Später spielen sie Verhör. Luca ist Verbrecher und Tim Polizist. Das Verhör ist streng. Luca muss sich ausziehen, damit man sehen kann, ob er bewaffnet ist. Auf einmal hebt Tim die Kleider vom Boden und rennt aus dem Keller.
«Viel Spaß auf dem Weg nach Hause», ruft er, stampft die Treppe hoch und kehrt erst zurück, als Luca die Tränen kommen.
«Weichei!» Tim drückt ihm die Kleider in die Hand, und er zieht sich an, die Socken zuerst, der Boden ist schrecklich kalt. Tim legt die Hand auf seine Schulter, damit er das Gleichgewicht nicht verliert. Er sagt: «Hast du wirklich geglaubt, dass ich nicht wiederkomme?»

***​

Nach der Schule trifft Luca fast immer auf Tims Vater, der eine Werkstatt im Haus hat. Manchmal ist er drinnen, beugt sich über ein Fahrrad oder steht hinter der Kasse. Die meiste Zeit aber ist er draußen und blickt in die Ferne. Auch dieses Mal sitzt er auf dem Schaufenstersims. In der Hand hält er eine Flasche Bier.
«Willst du?», fragt er.
Luca blickt die Fassade hoch. Hätte seine Mutter einen sechsten Sinn - wie ein Reh vielleicht oder wie dieser Vogel, an dessen Namen er sich nicht erinnern kann - stünde sie jetzt am Fenster, würde es aufreißen und dann so: «Hast du sie noch alle? Einem Zehnjährigen, bist du noch bei Trost, Hans?» Luca kneift die Augen zusammen, die Fensterscheibe spiegelt das Licht der Sonne.
Das Bier schmeckt bitter. Er weiß, man gewöhnt sich daran, also nimmt er noch einen Schluck.
«Danke», sagt er und setzt sich neben Hans.
«Warum kommst du jetzt schon nach Hause?»
«Es ist zwölf.»
«Tatsächlich? Ich habe kein gutes Zeitgefühl, weißt du? Tim isst bei seiner Tante, der kommt immer erst um vier.»
Luca blickt zur Seite. Am Tag zuvor hat er wieder mit Tim gespielt. Danach hat er den Gürtel verkehrt herum durch die Schlaufen gezogen und als er nach Hause gekommen ist, hat seine Mutter gefragt, ob er die Hosen ausgezogen habe und warum. Luca zupft am Etikett, eine Ecke hat sich gelöst. Hans nimmt ihm die Flasche aus der Hand und trinkt einen großen Schluck. Er stellt keine Fragen.
Luca mag die Gespräche mit Tims Vater. Eigentlich sind es keine Gespräche, weil nur Hans redet, und vieles davon versteht Luca nicht, aber das macht nichts, weil sie zwei Männer sind, die eine Pause von der Arbeit machen und zusammen Bier trinken.
Heute aber spricht Hans wenig. Nach seinem Satz über das Zeitgefühl ist er verstummt und dreht die Flasche in seinen Händen. Luca schaut auf die Uhr, er sollte nach oben gehen. Da reicht ihm Hans noch einmal das Bier. In den Bäumen schreien Krähen. Hans hebt den Kopf.
«Üble Viecher», sagt er. «Können einen Körper nicht öffnen. Der Schnabel ist zu schwach, also picken sie Augen aus oder machen sich am Arschloch zu schaffen.»
«Igitt!»
Hans lacht. «Bist ein guter Junge», sagt er und legt die Hand auf Luca Schulter. Dann blickt er verwundert zur Straße. «Was machst du denn hier?», fragt er.

***
Tim muss bei Tante Silvia essen. Sie ähnelt seiner Mutter. Dunkle Haare. Dünne Augenbrauen. Eine Nase, über die man mit dem Finger gleiten kann, und der Finger ist ein Skispringer. Aber bei Silvia würde Tim das nie tun. Wenn er mittags die Wohnung betritt, steht sie in der Küche, hat eine Schürze umgebunden und seufzt. Stellt sie einen Topf auf den Tisch, tut sie so, als wäre er hundert Kilo schwer. Sie fragt, was Vater macht und wie die Auftragslage ist. Was für ein komisches Wort. Tim zuckt dann immer mit den Schultern. Er isst schnell. Er sagt, dass er noch Hausaufgaben zu erledigen hat.
Heute hat Silvia einen Zettel an die Tür gehängt. Musste dringend weg! Tim rüttelt an der Türklinke. Würde Vater ihm ein Handy erlauben, dann hätte Silvia ihn anrufen können, und er wäre nicht vergebens … Alle in der Klasse haben eines, außer Karin. Wie sie dasitzt, in der hintersten Reihe, die Haare, als hätte ein Vogel ein Nest gebaut und mittendrin die Lust verloren. Wenn sie was nicht begreift, schließt sie die Augen und wippt mit dem Oberkörper. Die krümlige Karin.
«Wir haben Geld nur für Dinge, die wir brauchen», hat Vater gesagt. Na also! Er braucht ein Handy, weil er sonst im Getto vor verschlossenen Türen steht. Zwanzig Minuten muss er nun zur Werkstatt laufen.
Tim setzt sich auf die Stufen. Im Treppenhaus ist es kühl, der Schweiß auf seiner Oberlippe kitzelt. Er reibt sich den Nacken, trocknet die Hand am T-Shirt ab. Sein Puls beruhigt sich und auf einmal kommt dieses Gefühl aus der Mitte des Körpers, als wäre er ein Ballon, als würde man ihn aufblasen. Das ist eine Mission! In der Wüste, kurz vor dem Verdursten. Sie finden das Grab des Pharaos. Im Innern Tonnen von Gold und eine Wasserquelle. Aber dann: Der Eingang verschüttet. Jetzt geht's ums Überleben! Hundert Kilometer zurück über den heißen Sand. Einer wird dran glauben müssen. Den werden sie fressen und sein Blut in Feldflaschen füllen. Junge, da musst du hart sein.
Tim muss bei Silvia essen, weil Vater mittags arbeitet. Gerade dann müsse die Werkstatt offen sein, sagt er. Da wollen die Leute nach Hause fahren und merken, dass sie einen Platten haben oder dass die Bremsen hinüber sind, und dann kommen sie zu ihm, weil der Gander dann geschlossen hat. Als Tim ihn gefragt hat, wie die Auftragslage ist, hat er gesagt: «Der Gander, das Arschloch, macht alles billiger. Und er kommt von hier.»
Nach der Schule putzt Tim manchmal Ketten und ölt sie, Schläuche wechseln kann er auch. Er fegt den Boden, während Vater hinter der Kasse sitzt und Rechnungen schreibt. Meistens aber gibt es nichts zu tun. Abends ist Vater müde. Er redet wenig und lacht nie. Er sitzt auf dem Sofa und schaut fern. Tim hat einen eigenen Sessel, auf dem Sofa ist nicht genug Platz für zwei.
Vor ein paar Tagen hat Tim noch einmal nach der Auftragslage gefragt. «Warum willst du das wissen?», hat Vater geschrien. «Ich hab dir gesagt, was du antworten sollst!»
Tim stapft durch die Hitze. Die Schatten der Autos, die ihm entgegenkommen, sind rasierklingenscharf. Zehn Zentimeter über dem Boden gleiten sie über den Gehsteig, und wenn Tim nicht hoch genug springt, muss er auf blutigen Stümpfen weitergehen. Jedes Mal, wenn er landet, schlägt der Rucksack gegen den Rücken und der Atlas sticht zwischen die Schulterblätter. Soll er den Rucksack öffnen und das Buch verschieben? Nein, das gehört zur Mission. Heißer Wüstensand und schwebende Klingen und Stiche in den Rücken, das ganze Programm. Schau her, Papa! ich bin durch die Wüste gelatscht und beklage mich nicht und bereite mir etwas zu essen zu, kein Problem. Oder soll ich Sandwiches holen? Für uns beide? Gefressen haben sie übrigens einen anderen. Nicht mich, Papa. Nicht mich!
Tim schafft es in sechzehn Minuten. Er biegt um die Ecke und sieht seinen Vater mit Luca vor dem Schaufenster sitzen. Die Tür zur Werkstatt ist geschlossen. Vater arbeitet nicht. Er hat die Hand auf Lucas Schulter gelegt. Luca hat eine Bierflasche in der Hand und kichert. Vater lacht. Als er Tim sieht, hört er damit auf. «Was machst du denn hier?», fragt er.

***​

Es gibt Braten mit grünen Bohnen. Kartoffelstock liegt auf Lucas Teller. Mit der Gabel fabriziert er ein Loch in die Mitte, die Mutter gießt Sauce hinein, ein Bergsee entsteht.
«Wie war’s in der Schule?», fragt sie und Luca erzählt, dass die Lehrerin einen Jungen angeschrien hat, obwohl er bloß eine Minute zu spät gekommen ist.
«Aber zu dir ist sie nett?»
«Geht so.»
«Du sagst es mir, wenn sie böse zu dir ist?»
«Ja.»
Das Bratenstück ist ein U-Boot. Langsam taucht es auf, das Wasser fließt an den Seiten herab, und dann geht es wieder nach unten, bis Lucas Mutter sagt, er soll endlich essen.
Später räumt Luca Teller und Besteck in die Spülmaschine, die Mutter zieht Frischhaltefolie über die vier großen Scheiben Fleisch, die sie für den Vater übriggelassen haben, weil er am Abend immer einen Riesenhunger hat.
Heute hat Hans nicht vor der Werkstatt gesessen. Luca hat durch das Fenster geschaut, die Hände über den Augenbrauen an die Scheibe gepresst. Eine Reihe Fahrräder ganz vorne, hinten war es zu dunkel, um etwas zu sehen. Vielleicht war Hans gar nicht da. Vielleicht hat er zugemacht. «Der wird bald dichtmachen», hat Lucas Vater einmal gesagt. «Der ist faul wie Fallobst, bald geht ihm das Geld aus.»
«Und dann?», hat Luca gefragt.
«Dann gibt’s Ramschverkauf und wenn er Glück hat, stellt ihn Gander ein.»
«Kannst nicht du ihn einstellen?», hat Luca gefragt und der Vater hat gelacht.
Bevor er wieder zur Schule geht, spielen Luca und seine Mutter eine Partie Rummikub. Früher hat er immer verloren, jetzt nicht mehr. Er mag es, die Plättchen zu verschieben, und dann wieder zurück, bis sein Plan aufgeht. Die Sonne scheint durchs Fenster, Mutter zieht die Vorhänge zu, damit es im Wohnzimmer nicht zu heiß wird. Als sie sich wieder hinsetzt, hat Luca herausgefunden, wie er die Zwei und die Fünf loswerden kann. «Gewonnen!», ruft er und reißt die Arme in die Höhe.

***
In der Werkstatt gibt es nichts zu tun. Vater sitzt auf seinem Bürostuhl und trinkt Bier. Tim geht zu ihm hin.
«Darf ich einen Schluck haben?», fragt er.
Vater zieht die Flasche weg. «Geh nach Hause», sagt er. «Ich komme später nach.»
Als Tim die Tür zur Werkstatt schließt, sieht er Luca nach Hause kommen. Tim stellt sich ihm in den Weg.
«Wen haben wir da! Stehen bleiben, Beine auseinander!» Er legt die Hand auf Lucas Schultern, mit der anderen greift er in seine Hosentasche, kneift ihn in den Oberschenkel, zieht die Hand wieder heraus. «Aha!» ruft er. «Heroin? Kokain? Sag’s gleich, wir finden es so oder so heraus!»
«Keine Ahnung, wovon Sie reden», müsste Luca jetzt sagen, so wie immer, wenn sie Verhör spielen. Er dreht sich aber bloß um, blickt nach oben und macht drei Schritte zurück.
«Kein Bock?», fragt Tim.
Luca zuckt mit den Schultern.
«Keine Widerrede! Hände über den Kopf und Abmarsch!» Tim zieht den Kellerschlüssel aus der Tasche und lässt ihn vor Lucas Gesicht baumeln. Dann packt er Lucas Arm und dreht ihn hinter den Rücken. «Ich hab ein paar neue Tricks, Verhörtechnik eins a», sagt er, schiebt Luca vor sich her, den ganzen Weg bis zum Haus, wo Tim wohnt. Wenn Luca zu langsam läuft, drückt er seinen Arm nach oben.
Tim schließt das Kellerabteil auf, schubst Luca hinein und löscht das Licht. Er kann ihn atmen hören, ein leichtes Pfeifen, als hätte er ein Loch im Hals. Er knipst die Taschenlampe an, die trotz schlankem Griff schwer in der Hand liegt, und lässt den Lichtkegel über das Gerümpel gleiten, über die Skis und über das Bügelbrett, an dem früher seine Mutter gestanden hat, und im TV lief Werbung oder ein Liebesfilm. Stühle unter staubigen Tüchern. Spinnweben in den Ecken.
«Riechst du es?», fragt Tim. «Kannst du den Typen riechen, den ich letzte Woche verhört habe? Er muss irgendwo da hinten liegen.» Tim zielt mit der Taschenlampe in eine Ecke. «Zumindest die Hälfte davon, den Rest hab ich gefressen.»
Luca kichert, so wie am Tag zuvor, als er mit Tims Vater Bier getrunken hat. Tim sagt, er soll damit aufhören. «Wo hast du die Drogen versteckt?», fragt er. «Im Rucksack? Am Körper etwa? T-Shirt ausziehen und Hose runter!»
Während Luca den Gürtel löst, schiebt Tim einen Fuß zwischen seine Beine, und dann ein Tritt nach links, und einer nach rechts, beinahe fällt Luca um. Wie eine Giraffe beim Saufen steht er jetzt da, die Arme gegen die Wand gestemmt. Tim zieht ihm den Gürtel aus den Schlaufen, sagt: «So, dann wollen wir mal», und lässt die Schnalle baumeln. Er knipst die Taschenlampe aus und peitscht den Gürtel zweimal aufs Bügelbrett.
Das Abtasten erledigt er schnell, denn er hat einen Plan. Der Plan ist in Tims Bauch entstanden, als Luca auf Giraffe gemacht hat. Er ist die Brust hochgekrochen und nun steckt der Plan im Hals fest, der sich anfühlt, als würde Tim auf die Zähne beißen. Dabei hat er den Mund weit offen. Das Spiel ist noch nicht zu Ende. Heute nicht.
«Hab ich gesagt, du sollst dich bewegen?» Tim legt die Hand auf Lucas Rücken, etwas oberhalb des Hinterns, der Strahl der Taschenlampe zeigt zwischen die Arschbacken und der Kegel wird kleiner, und im Keller wird es dunkel, und als Tim die Taschenlampe blitzschnell umdreht und zustößt, beißt er tatsächlich auf die Zähne, erwischt dabei ein Stück seiner Zunge.

***
Zwei Tage ist es her. Luca kommt von der Schule, Hans sitzt vor der Werkstatt und hat ein Bier in der Hand.
«Durst?», fragt er und streckt Luca die Flasche hin. Er blickt ernst. Weiß er, was passiert ist? Wird er es den Eltern erzählen? Weshalb hast du bloß die Hose ausgezogen, werden sie fragen.
«Lieber nicht», sagt er und geht zur Tür.
«Guten Appetit!», ruft Hans ihm nach. Als Luca oben ist, dreht er sich um und will Danke rufen, aber er krächzt bloß wie ein Vogel, er versteht nicht mal selbst, was er ins Treppenhaus schreit.
Er öffnet die Tür, der Duft von Fleischkäse dringt in seine Nase. Nachdem er die Schuhe ausgezogen hat, rennt er in die Küche und gibt der Mutter einen Kuss auf die Wange.
«Alles klar, mein Kleiner?», fragt sie. «Hat dich die Lehrerin in Ruhe gelassen?»
Luca nickt und setzt sich hin. Es tut fast nicht mehr weh, er spürt fast gar nichts mehr. Er holt einen Comic aus dem Zimmer und setzt sich wieder an den Küchentisch. Arthur und Richard entdecken ein Gehirn, so groß wie ein Haus. «Ich werde euch vernichten», sagt es. «Allein mit meinen Gedanken.»
Der Fleischkäse schmeckt gut, der Kartoffelsalat nicht so.
«Spielen wir Rummikub?» fragt Luca nach dem Essen.
«Wenn du möchtest. Aber dieses Mal kommst du mir nicht so leicht davon, das sag ich dir.»
Die Mutter irrt sich. Luca hat schon zu Beginn einen Joker und später zieht er noch einen und als er reinen Tisch macht, hat sie dreiundvierzig Minuspunkte auf der Hand.
«Wo bleibt dein Jubel?» fragt sie. Luca hebt die Arme.

 

Der Vater sagt, er kaufe nur die Dinge, die sie brauchen. Und Tim denkt sich jetzt, ja genau, ich brauche ein Handy, weil mich dann Tante Silvia hätte anrufen und sagen können, dass sie nicht zu Hause ist.
Ah, okay, mir war an dieser Stelle nicht klar, wer "er" ist, ich war beim Vater und bekam den Zusammenhang mit Getto und verschlossenen Türen nicht auf die Kette. Gruß

 

Lieber @Peeperkorn,

ich habe einen Faible für derartige Milieu-Studien, und deine geht schon gleich gut los. Hans bietet dem zehnjährigen Simon Bier an - da komme ich gleich rein in die "Verhältnisse."
Hans kann ich mir sehr gut vorstellen, auch Simons Mutter. Allerdings wurde mir erst im Laufe der Geschichte klar, wer zu wem gehört, auch Tim und Simon verschwammen ein wenig beim ersten Lesen, ich musste zunächst gucken, wer wer ist. Möglicherweise liegt das unter anderem daran, dass beide ein i in ihrem Namen haben, dann dachte ich, sie wären Brüder, denn am Anfang sah es für mich so aus, als wäre Simons Mutter Hansens Frau.

Simon blickt die Fassade hoch. Hätte seine Mutter einen sechsten Sinn - wie ein Reh vielleicht oder wie dieser Vogel, an dessen Namen er sich nicht erinnern kann - stünde sie jetzt am Fenster, würde es aufreißen und dann so: «Hast du sie noch alle, Hans? Einem Zehnjährigen, bist du noch bei Trost?»
Ich bin hier davon ausgegangen, dass Simon hofft, seine Mutter würde ihn vor dem eigenen Vater beschützen, es aber nicht tut. Dadurch, dass ich dachte, es handele sich bei den Dreien um eine Familie und die Geschichte mit dem Bier trinken beginnt, dachte ich, es ginge hier um die Alkoholabhängigkeit eines Zehnjährigen, der unter dem Verhältnis seiner Eltern leidet, es seinem Vater aber auch recht machen will. Er mag kein Bier, aber
Simon weiß, man gewöhnt sich daran, also nimmt er noch einen Schluck.
er trinkt öfter eines, um dem Vater zu gefallen.

«Warum kommst du jetzt schon nach Hause?»
«Es ist zwölf.»
«Tatsächlich? Ich habe kein gutes Zeitgefühl, weißt du? Tim isst bei seiner Tante, der kommt immer erst um vier.»
Hier dachte ich erst, eine neue Szene beginnt und die Mutter spricht. Und zwölf wäre Mitternacht. Ist nicht deine Schuld, war nur so ein Gedanke, weil ich ja immer noch davon ausging, es ginge um kindliche Alkoholabhängigkeit, u.a. weil die Eltern sich nicht kümmern, die Mutter vielleicht kein Zeitgefühl hat, weil sie tablettenabhängig ist. Ist wie gesagt nur meine Lesart gewesen, du sagst das ja nirgends. Und beim zweiten Lesen war mir auch klar, wer da spricht.
Trotzdem hast du - zumindest mich - in eine Richtung gelockt, in die es gar nicht ging, also musste ich die Dinge in meinem Kopf irgendwann neu ordnen.

Die Missbrauchsszene hat mich kalt erwischt, weil sie so knapp beschrieben wird, da gibt es nichts Reißerisches, und gerade deshalb haut sie voll rein. Das finde ich sehr gut gemacht.
Allerdings habe ich - ähnlich wie einige Kommentatoren vor mir - das Gefühl, dass noch irgendwas fehlt, um die Situation so eskalieren zu lassen. Ich finde, Simon könnte von Anfang an mehr Angst vor Tim haben, er scheint das alles so mitzumachen, ist ja auch manchmal Polizist. Du sagst zwar, dass sie keine engen Freunde sind, aber das wird so nebenbei erzählt, also dachte ich, sie sind halt Nachbarn und spielen zusammen, wenn grad kein anderer da ist. Dadurch wirkte der Übergang von der Nachbarschaftlichkeit zur Missbrauchsszene etwas überstürzt auf mich. Es wird schon klar, dass Tim eifersüchtig auf Simon ist, diese Gewaltphantasien wohl auch hat, weil sein Vater ihn mies behandelt, aber der Schritt, es wirklich zu tun, war mir zu kurz. Für mich hätte das Verhältnis zwischen Simon und Tim schon von Anfang an konfliktgeladener sein können, dass Simon Tim vielleicht aus dem Weg geht, weil er findet, dass der sich komisch benimmt. Und warum sich Hans zu Simon hingezogen fühlt. Simons Sympathie für Hans schien mir klarer, er kommt aus geordneten Verhältnissen, hat eine fürsorgliche Mutter, die sich Gedanken macht und mit ihm Rummikub spielt. Darauf ist Tim sicher auch eifersüchtig, denn seine eigene Mutter scheint ja nicht mehr da zu sein. Während also Simon von seinem Elternhaus gelangweilt scheint und bei dem unkonventionellen Hans nach Abenteuer sucht, sucht Tim Geborgenheit. Keiner von beiden scheint zufrieden mit dem, was er hat. Das finde ich sehr lebensecht dargestellt. Aber was sucht Hans bei Simon? Er (Simon) scheint mir eher der sanftere Typ zu sein, also nicht jemand, in dem Hans einen "richtigen Mann" heranwachsen sieht.

In den Kommentaren habe ich gelesen, dass Tim Simon in der Ursprungsversion als Fotze beschimpft, seine Gewaltphantasien also gegen eine Frau gerichtet waren. Das hast du jetzt geändert, aber für meinen Geschmack hat das die Geschichte verdichtet. Ich hatte eine klarere Vorstellung von Tims Elternhaus, nämlich, dass sein Vater die Mutter ebenfalls missbraucht hat, sie deshalb nicht mehr da ist, sich hat scheiden lassen. Das würde für mich erklären, weshalb Tim den Frauenhass seines Vaters übernommen hat, er fühlt sich im Stich gelassen, muss zudem noch täglich mit ansehen, wie Simons Mutter ihren Sohn behütet. Das brachte für mich mehr Licht ins Dunkel. In der jetzigen Version frage ich mich nämlich, wieso Tim ausgerechnet diese Art von Missbrauch wählt. Er hätte Simon ja auch einfach verprügeln können, aber dann wäre natürlich sofort sichtbar gewesen, dass da Grenzen überschritten wurden. Insgesamt war mir das Motiv aber nicht mehr ganz klar bzw. zu schwach. Wenn da noch ein paar Zwischenschritte kämen im Verhältnis Tim/Simon/Hans, würde sich mir die Situation besser erschließen.

Gepackt hat mich die Geschichte trotzdem, obwohl das eine oder andere eben noch ausgefeilt werden könnte.


Nach seinem Satz über sein Zeitgefühl
würde hier das Zeitgefühl schreiben, um das doppelte sein zu vermeiden.

«Können einen Körper nicht öffnen, der Schnabel ist zu schwach. Also picken sie Augen aus oder machen sich am Arschloch zu schaffen.»
Toller Hinweis auf das, was kommt. Und auch darauf, wie Hans seinen Sohn sieht.

Im Treppenhaus ist es kühl, der Schweiß auf seiner Oberlippe kitzelt.
Schönes Bild.

Mit der Gabel fabriziert er ein Loch in die Mitte, die Mutter gießt Sauce hinein, ein Bergsee entsteht.
Auch ein schöner Hinweis aufs Geschehen, und auch auf den Charakter der Mutter. Für mich hast du hier in einem Satz Simon, seine Mutter und das Gesamtgeschehen charakterisiert. Vielleicht ist das jetzt zu weit hergeholt, aber für mich zeigt das, dass die Mutter gerne alles zukleistert. Löcher werden gestopft, aber nicht mit dem, was wirklich gebraucht wird, sondern eher, damit sie unsichtbar werden. Es wird also über vieles hinweggegangen, obwohl sie sich ständig um ihn zu sorgen scheint. Wegen Leuten, die nicht wirklich gefährlich sind. Der Lehrerin in der Schule. Aber dass Simon immer mit Hans abhängt und öfter mal betrunken ist, scheint sie zu übersehen.

Die Tür aus Beton hat man eingebaut, falls es Krieg gibt.
Auch ein sehr schönes Detail.

Simon kichert, so wie am Tag zuvor, als er mit Tims Vater Bier getrunken hat.
Hier war ich immer noch auf dem Dampfer, dass Simon schon wieder betrunken ist.

Hoffe, du kannst mit meinen Anmerkungen was anfangen und wünsche dir eine schöne Restwoche.

Liebe Grüße,

Chai

 

Liebe @Chai

Vielen Dank für diesen Kommentar. Mir scheint, ich habe nun einen klareren Blick auf die Geschichte.

Möglicherweise liegt das unter anderem daran, dass beide ein i in ihrem Namen haben, dann dachte ich, sie wären Brüder, denn am Anfang sah es für mich so aus, als wäre Simons Mutter Hansens Frau.
Ja, ich achte immer darauf, dass die Namen nicht ähnlich klingen, aber hier habe ich irgendwann mal einen Namen durch einen anderen ersetzt und nicht aufgepasst. Ich lasse das mal im Forum so stehen, aber für meine Version werde ich es ändern.
Die Missbrauchsszene hat mich kalt erwischt, weil sie so knapp beschrieben wird, da gibt es nichts Reißerisches, und gerade deshalb haut sie voll rein. Das finde ich sehr gut gemacht.
Danke! Das ist mir wichtig.
Für mich hätte das Verhältnis zwischen Simon und Tim schon von Anfang an konfliktgeladener sein können, dass Simon Tim vielleicht aus dem Weg geht, weil er findet, dass der sich komisch benimmt.
Das würde bedingen, dass ich die beiden schon vorher interagieren lasse. Und ich glaube inzwischen, dass das sowieso das Hauptproblem des Textes darstellt: Die beiden Figuren müssten zunächst gemeinsam eingeführt werden, danach wären auch die Familienverhältnisse klarer und die Leser wären besser vorbereitet auf das, was geschieht. Ich fand es reizvoll, das erste Aufeinandertreffen (im Text) gleich zum Höhepunkt zu machen. Hat nicht funktioniert, ich müsste die Geschichte wohl klassischer erzählen.
Das finde ich sehr lebensecht dargestellt. Aber was sucht Hans bei Simon? Er (Simon) scheint mir eher der sanftere Typ zu sein, also nicht jemand, in dem Hans einen "richtigen Mann" heranwachsen sieht.
Das ist ein guter Punkt. Ich habe mir gedacht, dass er zu Simon ein entspannteres Verhältnis aufbauen kann, weil er nicht für ihn verantwortlich ist. Und er ist halt einfach da, am Mittag. Hans macht sich selbst ja auch etwas vor, wenn er sagt, dass er mittags keine Zeit hat. Aber das kommt alles wohl nicht so richtig rüber.
Wenn da noch ein paar Zwischenschritte kämen im Verhältnis Tim/Simon/Hans, würde sich mir die Situation besser erschließen.
Ja, das ist die Quintessenz. Momentan steht der Text auf der Kippe. Entweder trete ich den ganz in die Tonne, was mir am wahrscheinlichsten erscheint, oder aber ich erweitere ihn auf mindestens die doppelte Länge. Manchmal funktioniert erzählerische Verdichtung, manchmal funktioniert sie halt nicht. Wieder was gelernt.
Gepackt hat mich die Geschichte trotzdem, obwohl das eine oder andere eben noch ausgefeilt werden könnte.
Danke dafür!

Hat mir sehr weitergeholfen, liebe Chai. Merci!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Lieber @Peeperkorn ,

ich starte einfach rein: Es fällt mir schwer, die Figuren auseinanderzuhalten. Vielleicht liegt das an meiner Art zu lesen, aber anfangs kriege ich nicht mal Hans und Simon auseinander. Mir würde es wahrscheinlich sehr helfen, wenn ich mehr äußerliche Beschreibungsmerkmale hätte, etwas, woran ich festhalten kann, was ich der Person zuordne. Denn zumindest zu Beginn erscheinen mir die beiden Jungen fast wie Brüder. Das hat dazu geführt, dass ich den Anfang mehrfach gelesen habe und auch später nochmal zurückgegangen bin.
Die Idee bietet guten Zündstoff, finde ich. Ein Konflikt zwischen Eltern, der dann plötzlich von den Kindern ausgetragen wird. Die Krähe kann rückwirkend als Symbol der Vergewaltigung/des Übergriffs gedeutet werden. Du hast das insgesamt sehr szenisch umgesetzt. Ich finde auch, dass das sehr dicht ist. Es fällt mir aber auch ein bisschen schwer, diese Geschichte beim Lesen wirklich zu verdauen, ich habe konstant das Gefühl sie ist schneller als ich, wesentlich komprimierter als mein durchschnittlicher Lesefluss es bewältigt. Viel auf engem Raum. Stark ist sie natürlich schon. Aber ich frage mich auch, was ich von der Verbindung dieses sexuellen, gewalttätigen Übergriffs mit dem Konflikt der Eltern, der ja wirklich nur angerissen wird, halten soll. Es wirkt schon sehr dramatisch, sehr zugespitzt.

auf dem Sofa hat es nicht genug Platz

Wusste jetzt nicht, ob du den Dialekt drin haben wolltest. Sonst wäre es: auf dem Sofa ist nicht genug Platz

Atlas sticht zwischen die Schulterblätter.

Das ist nochmal so ein Punkt die Verschmelzung der Figurenrede und des distanzierten Erzählers, die eine Verortung der Erzählstimme erschwert. Manchmal wird da umgangssprachlich und mal sehr elaboriert erzählt. Die feinen Cuts, die du sicher gesetzt hast, entgleiten mir bisweilen.

Wasser fließt auf den Seiten herab

Wahrscheinlich auch Dialekt? Sonst: von den Seiten herab.

Das Bratenstück ist ein U-Boot. Langsam taucht es auf, das Wasser fließt auf den Seiten herab, und dann geht es wieder nach unten, bis Simons Mutter sagt, er soll endlich essen.
Später räumt Simon Teller und Besteck in die Spülmaschine, die Mutter zieht Frischhaltefolie über die vier großen Scheiben Fleisch, die sie für den Vater übriggelassen haben, weil er am Abend immer einen Riesenhunger hat.

Das zwar (wie alles andere auch ;) ) sprachlich hochwertig. Die Syntax aber finde ich hier in der Länge etwas überstrapaziert.

Heute ist Hans nicht vor der Werkstatt gesessen

Dialekt, sonst: hat gesessen.


Schaufenster geschaut

kleine Dopplung

Dann gibt’s großen Ramschverkauf

finde, es funktioniert in der Kürze genauso gut oder besser.

wenn er Glück hat, stellt ihn Gander ein und wenn nicht, dann nicht.

Diese Art Tautologie würde ich ihn hier nicht verwenden lassen. Das ist so intellektuell hintersinnig, passt für mich nicht zum Kontext. Da würde ich einfach schreiben: ... wenn er Glück hat, stellt ihn Gander ein, wenn nicht, hat er ein Problem.

trotz schlankem Griff

trotz schlanken Griffs (oder Griffes) – oder etwa nicht?

Die Tür aus Beton hat man eingebaut, falls es Krieg gibt.

Hier kippt es für mich, auch wenn sich das dann noch geschmeidig und zugleich sehr spannend fortentwickelt. Da ist es wieder, das beneidenswerte Gespür für Wendungen.

Ich finde, bei dem Stoff könnte man noch wesentlich mehr rausholen. Bei der Heftigkeit hätte ich mir wohl einfach etwas mehr Story gewünscht. Der Background (die Väter) sind wie darauf zugeschnitten, die Gewalttat zu erklären und geben dem eine politische Brisanz, bei einem eher geringen Umfang.

Hoffe du kannst mit meinen Punkten was anfangen. Ich will aber auch nicht müde werden, dir zu sagen, dass ich dein Schreiben für sehr hohes Niveau halte.

Gruß und bis bald!

 

Hallo @Peeperkorn,


eigenartig. Ich versuche gerade, mich zurückzuerinnern, mir all das, was ich bisher von dir gelesen habe, noch mal vor Augen zu führen. Warum? Weil ich ergründen will, was für eine Art von Autor du eigentlich bist. Was ich an deiner Schreibe immer so spannend finde. Es hat wohl irgendetwas mit ... Kontrolle zu tun. Selbstkontrolle, Schreibkontrolle. Siehe Igel: Über 250 Seiten Kontrolle. Aber nicht die langweilige Art von Kontrolle, die bis-hier-hin-und-nicht-weiter-Kontrolle, sondern die genau-so-weit-wie-ich-will-Art von Kontrolle, die weil-ich-genau-weiß-wie-weit-gut-ist-Art. Und das spiegelt sich vor allem auch in der Sprache wider. "Wortgirlanden" - das Wort verfolgt mich gerade noch von anderswo - suche ich bei dir in aller Regel vergeblich. Erwarte ich auch nicht, will ich auch nicht. Und deshalb: Eigenartig. So was hier nämlich:

Hätte seine Mutter einen sechsten Sinn - wie ein Reh vielleicht oder wie dieser Vogel, an dessen Namen er sich nicht erinnern kann - stünde sie jetzt am Fenster, würde es aufreißen und dann so:

Simon blickt zur Seite, als er Tims Namen hört. Zusammen spielen sie manchmal Polizeiverhör und Simon ist der Polizist und Tim der Verbrecher und beim nächsten Mal umgekehrt

So richtig Freunde sind sie aber nicht, von wegen Fußball und gemeinsam in den See.

Die Gespräche mit Tims Vater mag Simon. Eigentlich sind es keine Gespräche, weil nur Hans redet, und vieles davon versteht Simon nicht, aber das macht nichts, weil sie sind zwei Männer, die eine Pause von der Arbeit machen und zusammen Bier trinken.

Weißt du, was ich meine? Ich habe da sehr gefremdelt. Und ich möchte da eigentlich auch nicht überinterpretieren, finde auch, dass es unglaublich langweilig wäre, wenn der Schuster, egal wie gut er ist, immer nur bei seinen Leisten bleibt, aber ich hoffe, das ist keine Reaktion auf eventuelle Fragen, die du dir in Bezug auf dein Schreiben stellst. Ob so ein "kontrolliertes Schreiben" eigentlich ... spannend ist.

Na, wie auch immer. Zurück zur Geschichte. Die meine Sorgen dann schnell in den Wind schießt, als sie Fahrt aufnimmt, die mich fast dazu verleitet, alles bisher Geschriebene wieder zu löschen, aber nein, ich lass es mal noch stehen.

Ich finde das ziemlich großartig, was ich da lese. Den Sound, das Tempo vor allem, die Sprache, auch den Inhalt, wenn man das so sagen kann, das ist wahnsinnig harmonisch alles. Und wahnsinnig ... innereienzusammenziehend. Weil das so Schlag auf Schlag geht, temporeich eben, und dann ... Dann ist das halt passsiert ... Und man weiß nicht, was man damit jetzt anfangen soll, mit dem Passierten, so wie Simon das nicht weiß, vermutlich noch die nächsten Jahre nicht, nehme ich an, es geht ja schon so los: Comic lesen, Rummikub, Arme hoch, weitermachen. Ein ekliges Gefühl, das die Geschichte in mir auslöst. Und gleichzeitig toll, eben weil sie etwas auslöst. Danke dafür!

Zwei Szenen noch, die ich nicht ganz gekauft habe, wo der Anfangseindruck wieder aufkam:

Er mag es, die Plättchen zu verschieben, und dann wieder zurück, weil nicht aufgeht, was er vorhatte, und dann geht es doch auf.

Die Tür aus Beton hat man eingebaut, falls es Krieg gibt.

Erschien mir beides zu konstruiert. Ansonsten - nichts zu meckern, tolles Ding!

Bas

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @Carlo Zwei

Vielen Dank fürs Reinschauen, deiner und Robs Kommentar gaben mir den Kick, die Geschichte nicht aufzugeben, sondern mich nochmal ranzusetzen. Ich hoffe, in den folgenden Tagen eine grundsätzliche Überarbeitung einstellen zu können.

Es fällt mir schwer, die Figuren auseinanderzuhalten. Vielleicht liegt das an meiner Art zu lesen, aber anfangs kriege ich nicht mal Hans und Simon auseinander.
Es fällt mir aber auch ein bisschen schwer, diese Geschichte beim Lesen wirklich zu verdauen, ich habe konstant das Gefühl sie ist schneller als ich, wesentlich komprimierter als mein durchschnittlicher Lesefluss es bewältigt. Viel auf engem Raum.
Ich finde, bei dem Stoff könnte man noch wesentlich mehr rausholen. Bei der Heftigkeit hätte ich mir wohl einfach etwas mehr Story gewünscht.
Die Überarbeitung soll diese drei Fliegen gleichzeitig erschlagen. Ich plane, eine Szene vorzuschalten, in der Simon und Tim im Keller miteinander spielen, harmlos, aber schon mit der einen oder anderen irritierenden Komponente. Dann kennt man die beiden Figuren und weiss, dass sie Kumpel sind. Anschliessend die Szene, die jetzt am Anfang steht. Da kann ich "Hans" durch "Tims Vater" ersetzen. Damit sollte die Figurenkonstellation geklärt sein. Wie viel ich danach noch ausbaue, mehr erzähle, muss ich noch schauen, ich hätte schon Lust dazu.
Stark ist sie natürlich schon. Aber ich frage mich auch, was ich von der Verbindung dieses sexuellen, gewalttätigen Übergriffs mit dem Konflikt der Eltern, der ja wirklich nur angerissen wird, halten soll.
Der Konflikt der Eltern ist ja nicht wirklich ein offener Konflikt. Da sind bloss zwei Lebenswelten im selben Haus oder in derselben Nachbarschaft, was eine Art Hintergrundfolie darstellen und Anlass dazu geben soll, ob dieser Übergriff nun auch soziologisch erklärt werden könnte. Aber in erster Linie wollte ich das als Eifersuchts-/Rachegeschichte konzipieren. Tim sieht sich durch seinen Vater im Stich gelassen und zurückgesetzt. Dass er ihn dann mit Simon lachend vor dem Laden sieht, führt schliesslich zum Übergriff, zur Rache am Schwächeren.
trotz schlanken Griffs (oder Griffes) – oder etwa nicht?
Hab ein wenig gegoogelt und erfahren, dass "trotz" früher den Dativ verlangt hat. Mittlerweile ist der Genitiv üblicher, der Dativ aber nicht falsch. Als Feinheit habe ich zudem gesehen, dass der Dativ vor allem dann gebraucht wird, wenn der Artikel weggelassen wird: "trotz schlankem Griff" vs. "trotz des schlanken Griffs". Das deckt sich mit meinem Sprachgefühl.
Deine anderen Vorschläge habe ich umgesetzt. Seltsam, ich dachte, ich hätte mittlerweile die hochdeutschen Bildungen mit "hat" statt "ist" im Griff, das waren ein paar Flüchtigkeitsfehler.
Ich will aber auch nicht müde werden, dir zu sagen, dass ich dein Schreiben für sehr hohes Niveau halte.
Das ist sehr nett von dir. Gut schreiben heisst halt noch nicht: gut erzählen. Vor allem in diesem Bereich habe ich zu lernen und brauche weiterhin Hilfe und Unterstützung. Ich danke dir!

Hey @Rob F

Vielen Dank für deinen Kommentar! Ich habe alle deine Vorschläge umgesetzt, dein gutes Auge war mir da sehr hilfreich. Die Doppelungen der Satzanfänge: Manchmal mache ich das absichtlich, weil es einen sehr eigentümlichen Rhythmus ergibt, das wirkt dann irgendwie nachhaltiger, habe ich das Gefühl. Im zweiten Fall, den du angemerkt hast, war das aber nicht so. Ich bin auch hier deinem Vorschlag gefolgt.

Dennoch finde ich, dass es zu viele Personen sind. Es werden ja recht schnell genannt:

Hans, Simon, Simons Mutter und Vater, Tim, Silvia, seine Klassenkameradin Karin ...

Vielen Dank für den Hinweis! Ich glaube nicht, dass es zu viele Personen sind. Aber ich führe sie ungeschickt ein. Es wäre wohl besser, mit den beiden Jungs zu beginnen, dann Tims Vater vorzustellen etc. Einfach etwas mehr Raum und mehr Text. Ich versuche das, in der grösseren Überarbeitung, die ich vorhabe, entsprechend zu gestalten.

Lieber Gruss euch beiden, habt einen guten Start in die Woche!
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber @Bas

Ich finde das ziemlich großartig, was ich da lese.
Das wiederum finde ich extrem okay, so als Rückmeldung. :)
Weil ich ergründen will, was für eine Art von Autor du eigentlich bist. Was ich an deiner Schreibe immer so spannend finde. Es hat wohl irgendetwas mit ... Kontrolle zu tun. Selbstkontrolle, Schreibkontrolle. Siehe Igel: Über 250 Seiten Kontrolle. Aber nicht die langweilige Art von Kontrolle, die bis-hier-hin-und-nicht-weiter-Kontrolle, sondern die genau-so-weit-wie-ich-will-Art von Kontrolle, die weil-ich-genau-weiß-wie-weit-gut-ist-Art. Und das spiegelt sich vor allem auch in der Sprache wider.
Mensch. Ich finde ja, dass wir uns mehr auf der Metaebene austauschen sollten. Was wir machen, ist in den meisten Fällen ein ziemlich krasses Learning-by-Doing: Stellst eine Geschichte ein, nimmst an Rückmeldung, was du brauchen kannst, und hoffst, dass du es das nächste Mal irgendwie besser machst. Ich glaube, dass das tatsächlich die effektivste Weise ist, etwas zu lernen. Und doch vermisse ich manchmal den Blick aufs Allgemeine. Was für ein Erzähler will man sein? Wie entwickelt man sein Schreiben? Was tut man, wenn das Gefühl hat, auf der Stelle zu treten? Wie geht man mit Krisen um? Und weshalb dreschen alle auf die Adjektive ein und am Ende liest man sie doch in jedem Roman?
Die Gefahr ist halt, dass solche Diskussionen sehr schnell in Allgemeinplätzen enden. Um konkreter zu werden, müsste man sich mehrere Geschichten einer Autorin, eines Autors anschauen, sich vergegenwärtigen, zu einer Synthese gelangen. Das gibt es selten. Und es ist ganz wunderbar, dass du mir auf dieser Ebene eine Einschätzung gibst und daher werde ich relativ ausführlich antworten.
Ich habe da sehr gefremdelt.
Im Frühling 2019 habe ich für den Totentanz ein Schreibstipendium ergattert und da dachte ich mir, dass es sinnvoll wäre, einen Teil der Summe für ein Mentorat auszugeben. In dieser Zeit las ich ein Interview mit einem Schweizer Schrifststeller, der fand, man gehe viel zu nett mit den Nachwuchsleuten um. Okay, habe ich mir gedacht, dem schreibst du eine Mail. Und so hat er etwa fünf oder sechs Texte von mir gelesen und wir haben uns ein paar Mal getroffen. Erwartungsgemäss hatte er wenig Lob im Gepäck, aber das wollte ich ja so. Immerhin hat ihm Antons Versuch ganz gut gefallen. Mein Hauptproblem aber sah er, du wirst lachen, in meiner kontrollierten Art zu schreiben. Literatur muss mehr zulassen, mehr an Sprache, mehr an Freiheit, Syntax brechen, aber auch inhaltlich, die Katzen nicht so schnell aus den Säcken lassen, die Karten nicht so schnell auf den Tisch legen! Er hat mir denn auch geraten, ich solle mich im freien Schreiben üben, am Morgen, zwei Stunden, direkt nach dem Aufstehen, ohne Zensur, alles, was mir einfällt. Er hat mir auch Lektüre empfohlen, George Saunders zum Beispiel und tatsächlich gehören drei seiner Geschichten zum besten, was ich je gelesen habe.

Ja, und in diesem Kontext habe ich diese Geschichte hier geschrieben, im freien Modus, der erste Text, den ich vorher nicht geplottet habe. Die Sätze, die du zitiert hast: Aber klar! Da gab es noch mehr davon, die stehen genau aus diesem Grund und vor diesem Hintergrund im Text. Saunders wechselt übrigens häufig die Perspektive, erzählt häufig personal, sprachlich aber ganz nahe bei den Figuren, bis hin zu kaputter Syntax etc. Ich schreibe nie bewusste Imitationen, aber wenn mich etwas beeindruckt, dann färbt es fast immer für eine Weile ab.

Versteh mich nicht falsch, ich denke, die Zusammenarbeit hat mir sehr viel gebracht, sie hat mich herausgefordert und mich zum Nachdenken angeregt. Womöglich habe ich, ganz konkret, Rückschritte gemacht, danach schlechter geschrieben als vorher, gezwungener. Aber im Ende bin ich sicher, dass daraus auch wieder Fortschritte erwachsen. Es war auch eine ziemlich geile Erfahrung, anlässlich eines Treffens zweieinhalb Stunden lang mitzuschreiben, während der Mentor mir erklärt, was alles an den vierzig Seiten nicht stimmt, die ich die Wochen zuvor geschrieben habe. :D

So. Ich bin verblüfft, wie sehr du den Nagel auf den Kopf getroffen hast. Und ich finde es natürlich schön, dass du "Kontrolle" nicht als Schimpfwort verwendest.

Und ich möchte da eigentlich auch nicht überinterpretieren, finde auch, dass es unglaublich langweilig wäre, wenn der Schuster, egal wie gut er ist, immer nur bei seinen Leisten bleibt, aber ich hoffe, das ist keine Reaktion auf eventuelle Fragen, die du dir in Bezug auf dein Schreiben stellst. Ob so ein "kontrolliertes Schreiben" eigentlich ... spannend ist.
Mach dir keine Sorgen, ich zweifle, seit ich schreibe, aber ich werde den Teufel tun, mich zu verbiegen. Entwickeln möchte ich mich aber schon.

Es steht noch eine grössere Überarbeitung an, die beiden Sätze, die du angemerkt hast, werden in diesem Kontext noch mal auf Herz und Nieren geprüft.

Es war mir ein Fest, lieber Bas! Vielen Dank für diesen Kommentar.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

@alle: Die neue Version ist hochgeladen. Simon heisst neu Luca. Der Titel ist geändert, weil ich das "hart" nicht mehr so sehr betonen möchte.

Hey @AWM

Vielen Dank für deinen Kommentar, der hat mir geholfen und mich ein Stück weit auch in meinen Änderungsvorhaben bestätigt.

Jetzt der zweite Durchgang. Habe mitbekommen, dass du einiges geändert hast. Mir gefällt dein Text immer noch, ich muss aber sagen, dass ich die Ursprungsversion besser fand (ich weiß, dass man so etwas nicht gerne hört).
Kein Problem. Ich finde das sehr spannend und es ist gewiss eine Illusion, wenn man denkt, jede Änderung an einem Text sei auch eine Verbesserung. Ich ändere ja jeweils ziemlich schnell und manchmal etwas zu schnell. Der Vorteil ist, dass ich am Ende Rückmeldungen zu zwei oder mehreren Versionen habe.
Das ganze war bedrohlicher. Du hast mehr vorausgedeutet als jetzt (dass das Spiel sexualisiert ist) und ich habe den Text damals mit diesem unguten Gefühl gelesen, genau zu wissen, worauf das hinausläuft.
Die Vorausdeutung sollte jetzt wieder da sein, insofern ich dem Spiel der beiden eine ganze Szene gewidmet habe, und zwar als Einstieg in den Text. Das sollte auch die Probleme lösen, die einige LeserInnen mit der Figurenkonstellation hatten. Ist jetzt klarer, hoffe ich.
Ich finde aber, dass du die Szene im Keller unangenehmer und grausamer gestalten könntest. Damit meine ich nicht, dass du expliziter werden musst. Aber ich würde sie länger schreiben, langsamer aufbauen, wie das alles kippt und wie Simon merkt, dass er in der Falle sitzt und Tim von seinem Machtgefühl übermannt wird.
Das ist ein guter Punkt. Meine Grundprämisse ist ja mit dem Gedanken verbunden, wie schnell so etwas kippen kann, von Spiel zu echter Gewalt und diese Schnelligkeit wollte ich auch im Text haben. Ich denke noch darüber nach, aber ich finde es momentan stimmig. Die Szene ist jetzt aber etwas besser eingeleitet, hoffe ich.
Generell finde ich, dass die Geschichte etwas länger sein könnte. Du könntest mehr zur Beziehung zwischen Simon und Tim schreiben, zeigen wie sich Tim gegenüber Simon hintenangestellt fühlt. Dann würden sie das Spiel einmal machen und Tim würde noch nicht gewalttätig werden, aber diese Grundzüge wären in dieser ersten Szene schon angelegt. Und dann gäbe es irgendeinen konkreten Katalysator für seine endgültige Tat, den ich hier noch etwas vermisse.
Ja, die neue Einstiegszene sollte da etwas ausmachen. Und den Katalysator habe ich etwas deutlicher herausgearbeitet. Ich habe auf eine Idee von Jimmy zurückgegriffen: Tim möchte (zu einem späteren Zeitpunkt) auch Bier trinken, aber der Vater gibt ihm keines und schickt ihn von der Werkstatt nach Hause. Danach dann der Übergriff. Ich hoffe, das ist jetzt stimmiger (und aber auch nicht zu erklärend).
hält er eine Flasche Bier. Wieso so umständlich? Simon weiß ja, dass das Bier ist.
Hast recht. Ich habe auch sonst die meisten deiner Vorschläge übernommen.
Wasserquelle ist so bisschen nüchtern für seine Perspektive. Oase?
Das Problem ist, dass die Quelle im Innern der Pyramide sein muss, sonst kämen sie ja an das Wasser. Es geht so oder so nicht auf, was nichts macht, weil es ja die spontane Fantasie Tims ist. Aber das wäre zu widersprüchlich.
gefällt das "tatsächlich" nicht.
Ja, mir auch nicht so recht. Aber ich finde, es braucht das hier, weil vorher ja gesagt wird, dass Tim sich beinahe auf die Zähne beisst.

Ein sehr wertvoller Kommentar, ich habe mich sehr darüber gefreut!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Lieber @Peeperkorn

ich weiß gar nicht, wie Du das findest, wenn ich so rumbuddle, aber der Text schmorrte jetzt wirklich lang genug in meiner Leseliste. Schätze, er ist gut durch :). Und so einen Leseeindruck, den kann man ja immer mitnehmen. Kein schöner Text. Gar nicht. Mir lief es echt kalt den Rücken runter.

Die Untersuchung beginnt. Tims Uhr ist nicht mehr am Handgelenk, am Hals sind zwei rote Punkte. «Raubüberfall», sagt Luca nach einer Weile. «Getötet von einem Vampir.»
Ja, da denkt man noch an so harmlose Kinderspiele. Aber mit viel Fantasie. Gute Kinder! Bis hier her.

Später spielen sie Verhör. Luca ist Verbrecher und Tim Polizist. Das Verhör ist streng. Luca muss sich ausziehen, damit man sehen kann, ob er bewaffnet ist. Auf einmal hebt Tim die Kleider vom Boden und rennt aus dem Keller.
Oha. Nee, das ist kein schönes Spiel.

Das Bier schmeckt bitter. Er weiß, man gewöhnt sich daran, also nimmt er noch einen Schluck.
«Danke», sagt er und setzt sich neben Hans.
Kleiner Mann ganz groß, oder so :).

«Tatsächlich? Ich habe kein gutes Zeitgefühl, weißt du? Tim isst bei seiner Tante, der kommt immer erst um vier.»
Schätze, das weiß Luca. Die kennen sich ja nicht erst seit gestern.

Am Tag zuvor hat er wieder mit Tim gespielt. Danach hat er den Gürtel verkehrt herum durch die Schlaufen gezogen und als er nach Hause gekommen ist, hat seine Mutter gefragt, ob er die Hosen ausgezogen habe und warum.
Krass.

... und vieles davon versteht Luca nicht, aber das macht nichts, weil sie zwei Männer sind, die eine Pause von der Arbeit machen und zusammen Bier trinken.
Ich kann gut verstehen, was ihn da zu diesem Mann zieht. Ich verstehe nicht, was ihn zu Tim zieht.

«Wir haben Geld nur für Dinge, die wir brauchen», hat Vater gesagt. Na also! Er braucht ein Handy, weil er sonst im Getto vor verschlossenen Türen steht.
Hehe. Und ich mag tatsächlich seine Fantasyspiele, außer die mit Luca.

Tim muss bei Silvia essen, ... Abends ist Vater müde. Er redet wenig und lacht nie. Er sitzt auf dem Sofa und schaut fern. Tim hat einen eigenen Sessel, auf dem Sofa ist nicht genug Platz für zwei.
Die Eifersucht auf Tim, dem der Vater die Art von Zuwendung gibt, die er vermisst, das kommt für mich für mich gut rüber.

Er biegt um die Ecke und sieht seinen Vater mit Luca vor dem Schaufenster sitzen. Die Tür zur Werkstatt ist geschlossen. Vater arbeitet nicht. Er hat die Hand auf Lucas Schulter gelegt. Luca hat eine Bierflasche in der Hand und kichert. Vater lacht. Als er Tim sieht, hört er damit auf. «Was machst du denn hier?», fragt er.
Ja, hart für den Jungen.

Das Bratenstück ist ein U-Boot. Langsam taucht es auf, das Wasser fließt an den Seiten herab, und dann geht es wieder nach unten,
Diese Spiele sind wirklich wunderbar. Ich hab, glaube ich, auch ganz viel mit dem Essen gespielt. Ja, und Luca hat es mit seiner Übermutter sicher auch nicht leicht. Schätze, dass Tim ihn trotzdem drum beneidet. Er wird nicht zur Tante abgeschoben. Und! er hat eine Mutter, im Gegensatz zu ihm selbst. Mag sein, dass es ihm deshalb s ein Vergnügen bereitet, Luca zu quälen.

Bevor er wieder zur Schule geht, spielen Luca und seine Mutter eine Partie Rummikub.
Da mir das total fremd war, dass Kids zum Mittag nach Hause gehen und danach zurück in die Schule, war für mich bisschen zeitliche Unordnung zwischendurch.
Nach der Schule in der Werkstatt helfen. Nach der Schule war für mich gleich Mittagszeit. Und wie kann Tim da bei Tante und Vater sein? Aber jetzt hab ich es.

«Darf ich einen Schluck haben?», fragt er.
Vater zieht die Flasche weg. «Geh nach Hause», sagt er. «Ich komme später nach.»
Ja, fies.

«Keine Ahnung, wovon Sie reden», müsste Luca jetzt sagen, so wie immer, wenn sie Verhör spielen. Er dreht sich aber bloß um, blickt nach oben und macht drei Schritte zurück.
«Kein Bock?», fragt Tim.
Luca zuckt mit den Schultern.
Ja, Luca! Spiel nicht mehr mit Tim! Das ist ein wirklich schräges Leseempfinden. Man ahnt hier ja schon, dass Tim da irgendwas fieses ausheckt, und eigentlich ist er aber auch der, mit dem man irgendwie Mitleid hat.

Luca kichert, so wie am Tag zuvor, als er mit Tims Vater Bier getrunken hat.
Ja, Luca krieg ich nicht richtig gegriffen.

Während Luca den Gürtel löst, schiebt Tim einen Fuß zwischen seine Beine,
Mag Luca sich gern vor dem "Freund" ausziehen? Wäre ne Erklärung.

... der Strahl der Taschenlampe zeigt zwischen die Arschbacken und der Kegel wird kleiner, und im Keller wird es dunkel, und als Tim die Taschenlampe blitzschnell umdreht und zustößt, beißt er tatsächlich auf die Zähne, erwischt dabei ein Stück seiner Zunge.
Ey, ey, ey. Das ist hart. Da muss Leser schon mal ordentlich schlucken.

Weshalb hast du bloß die Hose ausgezogen, werden sie fragen.
Sucht Luca die Schuld wirklich bei sich? Und wie steht er jetzt zu Tim? Die frage bleibt offen, was ich schade finde. Luca ist ziemlich mit dem Weichzeichner geschrieben.

«Wo bleibt dein Jubel?» fragt sie. Luca hebt die Arme.
Für mich so der einzige Hinweis, dass da irgendwas kaputt gegangen ist in ihm. Aber das hätte ich mir auch so denken können.

Böse Geschichte, wirklich. Kurz, aber die hat es dick in sich. Guter Text. Macht keinen Spaß, aber auf jeden Fall lesenswert!

Liebe Grüße, Fliege

 

Liebe @Fliege

Was für eine nette Überraschung! Vor allem habe ich mich gefreut, von dir zu lesen. Bezüglich der Geschichte erwischst du mich nicht auf falschem, aber doch etwas wackeligem Fuß.

ich weiß gar nicht, wie Du das findest, wenn ich so rumbuddle
Ich auch nicht. Bin letzten Samstag aus dem Militärcamp Lektorat des Totentanzes zurück in die Welt gekehrt und habe mir einen Monat Urlaub gegeben. Keine Literatur, bitte! Weder schreiben noch lesen. Aber ...
Und so einen Leseeindruck, den kann man ja immer mitnehmen.
... da hast du natürlich recht und ich habe mich darüber sehr gefreut. Der Text - muss ich zugeben - ist mir recht fremd geworden, ich musste nachdenken, zu welchem Anlass ich den überhaupt geschrieben habe und was ich mit dem wollte. Ist ein seltsames Ding. Etwas nehme ich aber auf alle Fälle mit:
Ich verstehe nicht, was ihn zu Tim zieht.
Ja, Luca krieg ich nicht richtig gegriffen.
Luca ist ziemlich mit dem Weichzeichner geschrieben.
Das ist ein ständig wiederkehrendes Problem meiner Schreibe. Während ich Nebenfiguren, was die Motivik anbelangt, offenbar recht gut hinkriege, bleiben meine Hauptfiguren diesbezügich oftmals unterbelichtet. Ich empfinde weiterhin Widerstände, Innenleben direkt darzustellen - und lese das auch nicht gerne. Da läuft man natürlich Gefahr, auf der anderen Seite abzurutschen und das passiert mir immer wieder. Na ja, Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung, bei mir offenbar auch der zweite und der dritte. Hab insofern recht herzlichen Dank für diesen Hinweis. Ob ich mich später mal wieder an diesen Text setzen und nachbessern werde, weiss ich allerdings noch nicht.
Man ahnt hier ja schon, dass Tim da irgendwas fieses ausheckt, und eigentlich ist er aber auch der, mit dem man irgendwie Mitleid hat.
Dafür scheint das gelungen zu sein. Ich wollte eine einfache Täter-Opfer-Gegenüberstellung ein wenig aufweichen, ohne dem Opfer eine Mitschuld zu geben.

Vielen Dank, liebe Fliege!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Lieber @Peeperkorn

nur kurz noch, sozusagen Nachschlag oder Kompott :D

Während ich Nebenfiguren, was die Motivik anbelangt, offenbar recht gut hinkriege, bleiben meine Hauptfiguren diesbezügich oftmals unterbelichtet.
Ich finde gar nicht, dass Tim die Nebenfigur ist. Klar, er ist nicht der Erzähler, aber am Ende geht es doch um ihn in dem Text. Vielleicht daher, seine Geschichte wolltest Du ja erzählen und haste auch. Deshalb der Fokus. Ich kenne das jedenfalls gut von mir, dass ich halt bei Figuren, die zwar wichtig sind, aber nicht in meinem Fokus, na ja, die schwächeln halt.

Ich auch nicht. Bin letzten Samstag aus dem Militärcamp Lektorat des Totentanzes zurück in die Welt gekehrt und habe mir einen Monat Urlaub gegeben. Keine Literatur, bitte! Weder schreiben noch lesen. Aber ...
Nee, lass Dich dabei nicht stören. Heißt aber auch, die Totentänze sind auf einem guten Weg in den Handel. Freut mich total für Dich. Und genieße das Loch, in das man nach solchen Projekten gern fällt. Diese wunderbare Leere im Kopf!

Ob ich mich später mal wieder an diesen Text setzen und nachbessern werde, weiss ich allerdings noch nicht.
Musste ja gar nicht. Der Text ist durch und gut ist. So ist das. Und manchmal juckt es einen doch nach Monaten oder Jahren und dann tut man, oder auch nicht. Jeder wie er will und mag.

Liebe Grüße!!

 
Zuletzt bearbeitet:

Lecker Nachschlag, @Fliege. Danke dir!

Ich finde gar nicht, dass Tim die Nebenfigur ist.
Ja. Ich hatte auch an andere Texte von mir gedacht und die in meiner Antwort auch erwähnt, das danach aber wieder gelöscht. Hier für diese Geschichte ist es unglücklich ausgedrückt, da Tim ja ebenso Hauptfigur ist wie Luca.
Und genieße das Loch, in das man nach solchen Projekten gern fällt.
:D Danke dir. Das Loch ist noch nicht so recht da, ich muss noch einen Drehort für ein Interview klarmachen und da möchte ich gerne ins Berner Historische Museum rein, wo ein wunderbarer Totentanz ausgestellt ist. Solche Dinge stressen mich ziemlich. Aber danach ist dann hoffentlich Ruhe im Karton, zumindest für eine Weile.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo @Pepperkorn,

beeindruckende Geschichte. Ich bin deswegen beeindruckt, weil du einerseits dich eines hochbrisanten Themas annimmst und es nicht unter lauter Andeutungen verschwindet, sondern du die Tat schilderst und trotzdem ich nicht eine Sekunde lang den Eindruck hatte, dass du mich zur widerlichen Voyeurin machst. Das wäre nämlich so ein Umkippen der Emotionen, wenn man als Leser denkt, man möchte die Details jetzt wirklich nicht lesen und dann stehen sie da aber trotzdem en detail. Da hörst du gerade im richtigen Moment auf, es reicht meine und die Phantasie aller, die es gelesen haben, um zu wissen, was mit Luca nun passiert und wie schmerzhaft und erniedrigend und freundschaftsvernichtend das alles von jetzt auf gleich ist. Diese Szene ist ziemlich gut austariert, nicht zu viel, nicht zu wenig und bleibt bei allem doch hängen und ist voller Ausdruck. Vielleicht gerade, weil du sie so knapp gehalten hast.

Ich finde deine Geschichte gelungen, sie enthält alles, was es braucht, um auch das Drumherum zu erkennen. Der Vater, der sich eigentlich weder um sein berufliches Fortkommen, noch um seinen Sohn kümmert. Da nützt es auch nicht, dass die Tante ihm etwas zu Mittag kocht.
Der Freund, der das alles nicht oder noch nicht durchschaut und somit auch nicht mal im Ansatz ahnt, welche verstohlenen Aggressionen das alles in Tim auslöst und du deutest zaghaft an, dass Tim eventuell bereits gewisse Neigungen sexueller Art hat, die ihm später noch so einiges im Leben sehr schwer machen werden.
Gefallen hat mir auch, dass du nicht plump das Ende der Freundschaft der beiden Jungen darstellst, denn dass sie beendet ist, dürfte unzweideutig so sein, du packst auch nicht noch ein weiteres Thema rein, dass vielleicht Luca selbst so einsam ist, dass er die Freundschaft aus lauter Furcht, allein sein zu müssen, nicht beendet, nein, du belässt es dabei, die beiden nicht mehr aufeinander treffen zu lassen. Du machst aber sehr geschickt etwas anderes: du zeigst, wie Luca sich nicht mehr in der Gegenwart des Vaters wohl fühlt und das steht stellvertretend für das Ende dieser Freundschaft.
Was mir auch gefällt, ist der knappe und ausdrucksreiche Stil, in dem du das verfasst hast. Es fehlt mir an nichts und dass, obgleich aus solchen Stoffen ganze Romane entstehen, die im Kern aber nicht viel mehr aussagen. Respekt, wie du auch das hinbekommen hast. Zumal ich weiß, wie schmerzhaft es oft ist, mutig auf Sätze und besondere Formulierungen zu verzichten und das nicht nur, weil es die eigenen Darlings sind, sondern weil man sich nicht vorstellen kann, dass der Leser folgen kann. Du hast das Richtige weg und das Richtige stehen gelassen.

Drei Punkte habe ich dennoch:

denn er hat einen Plan. Der Plan ist in Tims Bauch entstanden,
Hat Tim wirklich einen Plan? Oder ist es nicht eher so eine Art Drang, Wunsch, Idee, fixe Idee?
Plan klingt so durchkonstruiert, als hätte er schon eine Weile diese Phantasien, naja vielleicht hat er sie sogar schon eine Weile, aber dann könnte man vielleicht das hinzu fügen, dass das Diffuse in ihm, sich zu einem Plan verdichtet. Also mir kommt jedenfalls an dieser Stelle das Wort Plan zu durchdacht vor. Da fehlt entweder noch ein bisschen Hintergrund oder aber es ist kein Plan und muss dann anders lauten. Nichts desto trotz verstehe ich natürlich, was da gerade in ihm abläuft.
und nun steckt der Plan im Hals fest, der sich anfühlt, als würde Tim auf die Zähne beißen.
Hier auch nochmals Plan, aber mir ging es um den Vergleich, der mir nicht so richtig passend erscheint. Ein Plan, der sich anfühlt als würde man auf die Zähne beißen? Dieses Zähnebeißen ist ja eine Folge der Gedanken und zwar der bewertenden Gedanken Tims. Er weiß, wie ungeheuerlich das ist, was er vorhat. Er könnte auch hektischer atmen, hecheln vor lauter Aufregung, sich fast verschlucken an der Luft, um dir Alternativen aufzuzeigen. Vielleicht fühlt sich der sog. Plan auch so an, dass er ihm im Hals die Luft rau werden lässt, er kratzt im Hals, um dieses ewige Zusammenschnüren des Halses (das finde ich zu klischeehaft) nicht nehmen zu müssen.
er versteht nicht mal selbst, was er ins Treppenhaus schreit.
Ja und hier passt es nicht, dass du "schreit" verwendest, denn er schreit ja nicht, er ruft allenfalls.

Aber schau nur wie wenig ich anzumerken habe an Formulierungen, die mir nicht so super gut gefallen. Selbstredend kann ich damit leben, wenn du sie nicht veränderst, die Geschichte ist und bleibt perfekt, denn Vieles ist auch reine Geschmackssache und oftmals kann man selbst gar nicht trennen, wo es um den eigenen Geschmack geht oder wo noch ganz neutral betrachtet, etwas verbessert werden müsste.

Lieben Gruß

lakita

 

Liebe @lakita

Ich starte damit, dir zu sagen, dass ich mich riesig über deinen Kommentar gefreut habe, auch wenn das, was jetzt kommt, vielleicht anders klingt.
Ich habe schon Fliege geschrieben, dass mir der Text inzwischen seltsam fremd ist, habe nun etwas darüber nachgedacht und erstens gemerkt, dass der ja noch älter ist, als ich gedacht habe. Geschrieben habe ich ihn im August 2019, ihn aber erst ein Jahr später hier eingestellt. Das erklärt ja schon mal was. Und mir ist bewusst geworden, wie platt ich momentan bin. Ich wollte wenigstens deinen Vorschlag, das "schreien" in ein "rufen" zu ändern, in die Tat umsetzen, habe gemerkt, dass im entsprechenden Satz bereits ein "rufen" steht, wollte eine Doppelung vermeiden, und da haben die Zahnräder bereits blockiert. Die vergangenen Wochen haben wirklich ihren Tribut gefordert und es ist klar, dass zwischen mir und dieser Geschichte zum jetzigen Zeitpunkt die dreizehn Totentanz-Texte stehen, an denen ich seit April sehr intensiv gearbeitet, zwei davon neu geschrieben habe.
Ich will aber doch noch etwas zu deinem wunderbaren Kommentar sagen.

Diese Szene ist ziemlich gut austariert, nicht zu viel, nicht zu wenig und bleibt bei allem doch hängen und ist voller Ausdruck.
Das freut mich sehr, es gab da auch andere Stimmen, wenn ich mich richtig erinnere.
Du machst aber sehr geschickt etwas anderes: du zeigst, wie Luca sich nicht mehr in der Gegenwart des Vaters wohl fühlt und das steht stellvertretend für das Ende dieser Freundschaft.
Das war meine Absicht im Sinne eines offenen Endes, das eine Kurzgeschichte ja auch haben soll/darf. Ich finde es immer sehr schwierig, innerhalb des Dreischritts von Krise, Klimax und Konsequenz den dritten Schritt gut und stimmig zu setzen, mir scheint das jeweils der anspruchsvollste Teil zu sein.
Was mir auch gefällt, ist der knappe und ausdrucksreiche Stil, in dem du das verfasst hast. Es fehlt mir an nichts und dass, obgleich aus solchen Stoffen ganze Romane entstehen, die im Kern aber nicht viel mehr aussagen. Respekt, wie du auch das hinbekommen hast. Zumal ich weiß, wie schmerzhaft es oft ist, mutig auf Sätze und besondere Formulierungen zu verzichten und das nicht nur, weil es die eigenen Darlings sind, sondern weil man sich nicht vorstellen kann, dass der Leser folgen kann.
Das freut mich grad am meisten. Ich hadere da immer mit mir selbst und auch mit der einen oder anderen Kritik (von ausserhalb des Forums). Manchmal lese ich einen Text und denke danach: Du musst alles über Bord werfen und einen echt literarischen Stil entwickeln! Der Verzicht auf besonderen Schmuck kann ja immer auch als ein Anzeichen für mangelndes Talent gedeutet werden. So eine Rückmeldung wie die deine ist für mich daher sehr wertvoll.

Vielen lieben Dank nochmals für deine Zeilen!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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