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Heimfahrt

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19.04.2020
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Heimfahrt

Da stand er, ganz einsam auf seine Rückkehr wartend. Der Blaue, er hatte tapfer ausgeharrt, während seine morgens noch rücksichtslos dicht gedrängte Nachbarschaft den Nachmittag hindurch immer gefräßiger werdende Betonlücken hinterlassen hatte. Spät abends im Laternenlicht erinnerte er Lars immer an ein ausgesetztes Haustier. Unbarmherzig hart warf der Boden seine Schritte zurück. Er hasste es in die lautverkniffene Spätabendstimmung einzufallen, wie auf eine eng umstandene Bühne, die mucksmäuschenstill jemand ganz anderen erwartet.

Er griff in seine Jackentasche und zog den Schlüsselbund aus einem Gewühl von Taschentüchern, Aspirin-Paletten und 50 Cent Stücken hervor. Ein prachtvolles Eisblumenmuster überzog den Wagen. Er steckte den Schlüssel ins Türschloss und war verwundert als sich die Fahrertür problemlos öffnen ließ. Während er sich über den Beifahrersitz beugte und in dem Berg von angeknüllten Postwurfsendungen nach dem Eiskratzer Ausschau hielt, fiel ihm der kleine Zwischenfall vom vorangegangenen Morgen wieder ein. Kein Kratzer also, dachte Lars, nun gut, muss eben die Scheibenheizung ran.

Als er sich ganz langsam der Parkplatzausfahrt näherte stellte er sich vor mit diesem Eisblumenfilter vor seinen Augen auf die Autobahn zu fahren, wie das Kristallnadelkunstwerk in dem Wechselspiel der Gegenfahrbahnlichter ein organisches Funkeln annehmen würde. Eindrucksvoller kann kein Buntglasfenster der Welt die Wunder Gottes preisen. Er dachte an das bunte Durcheinander im Chorfenster, gestern während der Zeremonie. Als sich ihre Lippen öffneten floh sein Blick auf den roten Kegelschnitt im rechten oberen Achtel. Vor 20 Jahren als er mit großen Erwartungen angefüllt seine Erstkommunion entgegennahm, befand sich dort noch die Lanzenspitze des heiligen Georgs, bereit in einen schwarzgrünen Drachenleib gestoßen zu werden. Früher erzählten ihm diese Fenster Geschichten. Wovon können geometrische Körper schon erzählen, hatte er sich gefragt als seine Johanna mit einem furchtbar glücklichen Lächeln am Arm von Karl VII vorüberging. In seinem Magen rumorte es. Er schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und dachte an das Gästezimmer im Haus seiner Eltern, das früher einmal sein Zimmer gewesen war, an die schweren Rollläden vor den Fenstern und das Buch in seinem Rucksack.

Keine Sekunde zu früh hob er die Lider und erkannte den Umriss des Wegweisers am abtauenden rechten Scheibenrand. Hecktisch drehte Lars das Steuer nach links und bremste reflexartig. Durch das heruntergekurbelte Beifahrerfenster späte er den Abhang zum Tannenwäldchen hinunter. Schwarz und feucht dampfte es ihm entgegen.

Fünf Minuten später passierte er mit klarer Sicht und erträglicher Innentemperatur das Ortsausgangsschild.

Schweinheim, was für ein Name, dachte Lars, er könnte noch 1000-mal hier vorbeikommen, ihn 1000-mal schreiben, nicht ein einziges Mal würde dieser Name den Beiläufigkeitsgrad anderer Ortsnamen annehmen. Als er vor knapp 2 Jahren zusammen mit Johanna hier zum ersten Mal vorbeikam prustete sie lauthals ihre Sandkuchenkrümel gegen die Windschutzscheibe. Keine 100 m weiter mussten sie anhalten, weil seine Augen in Lachtränen schwammen.

Er dachte an die tapfere Jeanne, wie sie auf einem Kongress umringt von internationalen Geistesgrößen das Wort für einen anderen ergriff und mit einem einzigen kristallklaren Gegenargument alle Zweifel vom Tisch fegte.

Seine heimliche Jeanne wie sie vor 4 Jahren im Ausklang eines Spätsommernachmittags, 10 Schritte entfernt von Gelächter und Unterhaltungen, eingefangen von den letzten weinroten Strahlen, am Flügel freihändig Chopins Walzer in A-Moll spielte, ihr langes, kastanienrotes Haar aufgelöst im Sonnenuntergangslicht.
Den Regenschauer unter der geteilten Jacke, die durchredeten Nächte im Institut mit Kaffee und Geschichten, Tee und Westentaschenpsychologie.
In ihrer Gegenwart hatte er ununterbrochen geredet, nur gesagt hatte er nichts.
Ein schrilles Bremsgeräusch von links zerriss ihm die Erinnerung. Im Rückspiegel blendete ihn eine Lichthupensalve.
Er versuchte sich zu erinnern ob er jemals zuvor eine rote Ampel überfahren hatte.

Seine Brust verkrampfte sich und er spürte kleine kalte Schweißtropfen auf der Stirn.

Genau wie bei meinem Großvater dachte Lars. Konzentrationsmangel, Schweißausbrüche, Kopfschmerzen. Dann am Morgen vor Heiligabend Gesicht und Haare vom Schnee kaum noch zu unterscheiden, bis auf die Lippen, zwei violette Striche unter eisblauen Augen, die durch den Schneefall hindurch der Ionosphäre entgegenstarrten. Der gleiche Blick mit dem sie beim Abendessen kaum 10 Stunden zuvor aneinander vorbeigesehen hatten. Schaut mal hatte hinter ihm ein kleines Mädchen zu seinen entsetzten Eltern gesagt, der alte Mann da macht einen Schneeengel.

Da, die Autobahnauffahrt. Im letzten Moment wechselte er die Spur und bemerkte erst einen Augenblick später, dass hinter ihm die Fahrbahn frei gewesen war.
Zu dieser Zeit war die A3 schon wieder befahrbar. Keine Lastwagenkolonnen, kein Stau, nur hin und wieder ein ungemein wichtiger Überholstreifenpächter.
Das hatte sein Vater immer gesagt, Überholstreifenpächter. Das erste Mal sagte er es auf Kreta. Alle hatten sie gelacht. Als er noch ein Kind gewesen war kamen ihm die Sprüche seines Vaters noch komisch vor. Überhaupt war damals alles noch anders gewesen. Auf eine Art anders, die nicht so recht zu den üblichen nostalgischen Kindheitsbetrachtungen passen wollte. Vor Kreta hatte Lars viele Freunde gehabt, Jungs wie Mädchen inszenierten gemeinsam mit ihm ihre Wunschbilder und Erwartungen an die Erwachsenenwelt. Damals war er Geschichtenerfinder und Weltenerbauer, Drehbuchautor und Regisseur, der seine Mitspieler mit Abenteuern und Gedankenexperimenten fütterte. Die Welt war voller Möglichkeiten, voller unentdeckter Geheimnisse, die seinen Namen riefen. Jeder Tag brachte neue Ideen, dehnte den Horizont um ihn herum weiter aus.

Nach Kreta begann seine Welt einzulaufen. Zunächst schrumpfte sie auf dunkle 27 m2 zusammen. Mit jedem hinzukommenden Frustrationserlebnis reduzierten sich Fläche und Helligkeit. Mittlerweile drohte sie sich zu einem Punkt mit leidlicher Aufenthaltswahrscheinlichkeit in seinem Brustkorb zu verdichten.
Das Wasser war kalt gewesen an jenem Tag. Der Hotelpool wurde gerade mit frischem Wasser befüllt, während Lars und Alexa ungeduldig am Rand auf seine Freigabe warteten. >>Du bleibst bei den Wasserspeiern<< hatte Alexa ihn angezischt. >>Wehe ich sehe dich hinter den Bojen<<. Lars schaute sehnsüchtig auf die Leine mit den munter schaukelnden rot weiß gestreiften Kunststoffbojen, die den flachen Bereich vom Schwimmerbecken abgrenzte. Er dachte an Tom, wie er sich beim Hallenschwimmen großspurig kopfüber ins Schwimmerbecken gestürzt hatte und seine Sprüche vor der Umkleidekabine. >>Mein großer Bruder hat mir noch ganz andere Sachen beigebracht<< hatte er gesagt und feierlich auf den 10 m Turm gezeigt. Lars blickte zum 5`er hoch und stellte sich vor wie er lässig das Geländer zum Sprungturm hochklettern und von dort oben mit einem Köpper pfeilgerade ins Schwimmerbecken eintauchen würde, um schließlich seiner unschlüssig am Geländer zum 3m Brett stehenden Schwester aus dem Wasser zuzuwinken. Aber er wusste das dies nicht geschehen würde, dass sich schon beim Anblick des 1m Bretts am unteren Beckenrand ein Gefühl in seinen Magen schlich, als würde er sich wieder auf der schwankenden Fähre befinden, mit der sie vor knapp einer Woche hier angekommen waren.

Nach einigen Minuten hatte sich ein schwarzhaariger Junge zwischen ihnen aufgebaut und dem 5 Jahre jüngeren Lars versprochen zu zeigen wie man taucht, ohne sich die Nase zuhalten zu müssen. Hin und wieder sah er für einen kurzen Augenblick zu Alexa, die ihnen beiden betont desinteressiert den Rücken zuwandte. Als der Pool freigegeben wurde, lief sie sofort zur Leiter des 3-Meter Bretts. Groß und mutig kam ihm seine Schwester vor, mit 12 Jahren fast schon eine Jugendliche. Zumindest behauptete sie das immer, wenn ihre Eltern sie zusammen bei ihren Großmüttern ablieferten.

Der Junge gab Lars seine Taucherbrille und schob ihn ins Wasser. Er zog sie sich sofort über den Kopf, musste sie aber 4 Löcher enger ziehen, bevor sie dicht anhaftete. >>Komm hier rüber<< sagte er >>im Babybecken kann man nicht tauchen lernen<<. Im eiskalten Wasser folgte Lars dem langsam am Beckenrand entlanggehenden Jungen, zunächst mit großen schnellen Schritten, dann immer langsamer watend bis es zu mühsam wurde die Beine auseinander zu grätschen und er sich mit Hechtsprüngen weiter vorkämpfen musste. Einige Meter hinter der Bojengrenze, nur wenige Schritte vor dem 1 Meter Brett blieb der Junge stehen und zeigte auf ein Mosaik, dass die tiefste Stelle des Pools markierte. Alexa stand noch immer auf dem Sprungbrett und zupfte an ihrem Badeanzug herum, ohne zu bemerken, dass Lars sich Meter um Meter auf die Trennleine zu bewegte.
Lars schluckte, so nah hatte er sich noch nie an den Schwimmerbereich herangewagt.
Er hangelte sich nun am Randlauf entlang und hüpfte auf und ab, um festzustellen an welchem Punkt er mit den Zehen nicht mehr bis zum Boden reichte. Da, beim letzten Hüpfer war das Wasser über seinem hochgereckten Gesicht zusammengeschlagen und hatte sich für einen kurzen Augenblick in Ohren und Nase ausgebreitet. Er zog die Beine an und klammerte sich am Randlauf fest. Seine Füße rutschen immer wieder von den weißen Kacheln ab. Lars blickte unsicher zum 1M Brett hinüber und bemerkte wie der Junge den Kopf schräg in den Nacken gelegt zu Alexa hochsah und ihr zuwinkte.

Alexa warf unbeeindruckt ihr langes dunkelbraunes Haar nach hinten und steckte es unter ihre Badekappe. Unvermittelt reckte der Junge beide Arme nach vorne über den Beckenrand und sprang kopfüber auf das Mosaik zu. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Lars ein Glitzern aus einem seiner Hände wahrzunehmen. Alexa, scheinbar nicht ganz so desinteressiert wie sie vorgegeben hatte, beugte sich über das Geländer und sah seinem Sprung hinterher. Einige Zeit später tauchte der Kopf des Jungen wieder über der Wasseroberfläche auf gefolgt von seiner rechten Hand, mit der er einen flache Gegenstand nach oben hielt. Er sah aus wie eines der Kachelstücke, die das Schwimmbecken auskleideten. Nur war es nicht weiß, sondern auf einer Seite leuchtend Rot lackiert. Lars dachte daran, wie sie gestern Mittag vom Rand des leeren Schwimmbeckens aus das Kachelmosaik betrachtet hatten. Zwei auf einer Welle tanzende Delphine von denen der eine einen roten, der andere einen grünen Edelstein in seinem Maul trug. >>Schau mal der Rubin da, den hätte ich gerne. Komm kleiner Delphin, wirf ihn her << hatte Alexa nach unten gerufen und gelacht. Unten im Becken hatte einer vom Reinigungspersonal kurz zu ihnen heraufgesehen, ein Junge mit schwarzen Haaren, erinnerte sich Lars.

Langsam hangelte sich Lars weiter vor zur Trennleine, noch zwei Meter, dann noch einer, er sah wie der Junge sich am Beckenrand hochdrückte und aus dem Pool kletterte. Dabei ließ er mit seiner rechten Hand ein Stück Metall am Randstreifen aus seiner Hand gleiten.
Alexa war die Leiter vom 3 m Brett heruntergeklettert und lief zu ihm. >> Cool << rief sie, während er ihr das Kachelstück entgegenstreckte.
Lars hakte seinen Unterarm im Randlaufkanal fest, und steckte das Gesicht ins Wasser. Etwa 4 Meter schräg unter seinem frei im Wasser rudernden linken Bein sah er die Umrisse des Mosaiks. Der linke Delphin präsentierte stolz seinen mattgrün schimmernden Edelstein, während im schnabelförmigen Maul des rechten Delphins ein dunkles Loch klaffte. Wasser lief ihm in die Nase und Lars musste sein Gesicht aus dem Wasser ziehen. Noch immer stand Alexa neben dem Jungen und bewunderte das Kachelstück.
Lars hangelte sich weiter vor bis zu der Stelle, an welcher der Junge den Metallgegenstand liegen gelassen hatte. Vorsichtig griff er schräg nach oben und tastete den Randstreifen ab. Seine Finger fuhren über etwas hartes, längliches. Er zog es zu sich herunter und erkannte es als Butterfly-Messer. In der ersten Klasse hatten Knut und seine Schläger ihn und Phillip mit einem solchen Messer auf dem Schulhof bedroht. Es war offen und eingerastet. Während er das Messer in seiner Hand betrachtete dachte Lars an den grünen Diamanten im Maul des anderen Delphins. Im Nichtschwimmerbecken konnte er an der tiefsten Stelle auf den Boden gleiten und ziemlich lange unter Wasser bleiben, wenn er langsam die Luft aus seinem Mund entweichen ließ. Vor zwei Wochen hatte er sich im Hallenbad dabei sogar auf den Rücken legen können. Natürlich hielt er sich immer noch die Nase zu, aber solange ihm keiner beim Tauchen zusah.
Viel schwerer als das Hinlegen kann das auch nicht sein, dachte Lars und blicke noch mal mit dem Gesicht unter Wasser auf das Mosaik. Kurz entschlossen atmete Lars 3-mal kräftig ein und aus und hielt beim 4 Mal die eingeatmete Luft an während er sich nach unten gleiten ließ. Luftblasen wirbelten um seinen Kopf und keine zwei Sekunden später sah er den Boden des menschenleeren Pools bedrohlich groß und tief unter sich liegen. Er ließ etwas Luft aus seinem Mund aufsteigen, um weiter zu sinken, wobei er darauf achtete die Poolwand in Reichweite zu haben. Natürlich würde es ihm nichts nützen, wenn ihm die Luft ausging, aber die Wand an dessen Randlauf er sich zuvor festgeklammert hatte, gab ihm noch immer ein Gefühl von Sicherheit. Seine Ohren begannen unangenehm zu drücken. Je näher er dem Boden kam desto quälender wurde der Druck.
Luft holen musste er noch nicht, so dass er sich trotz der Ohrenschmerzen weiter fallen ließ. Schließlich merkte er wie seine Füße den Boden berührten. Er machte ein paar Schwimmbewegungen nach vorne, die ihn bis zum Rand des Mosaiks brachten. Die Ohrenschmerzen waren unerträglich, auch spürte er wie sich ein merkwürdiges Schwindelgefühl in seinem Kopf ausbreitete. Lars schwamm zum linken Delphin und ließ die letzten Luftblasen aufsteigen, um mit dem Oberkörper näher ans Mosaik heranzukommen. Er stach mit dem Messer auf die Umlaufkanten der grünen Kachel ein, drang jedoch keinen Millimeter in den Mörtel. Jetzt hatte er das Gefühl seine Ohren würden jeden Augenblick explodieren und mit einem Mal wurde ihm so übel, dass er würgen musste. Reflexartig zogen seine Lungen Wasser nach und ihm wurde schwarz vor Augen. Das Messer glitt ihm aus der Hand und er versuchte wild mit Armen und Beinen strampelnd an die Wasseroberfläche zu kommen. >>Hilfe, ich kriege keine Luft mehr<< schrie alles in ihm.
Nie hatte er sich so allein gefühlt. Alexa stand keine 15 Schritte entfernt bei diesem
Angeber. Sie musste ihn doch längst gesehen haben. >>Alexa bitte…<<
Genau zwischen den Bojen schoss sein Kopf aus dem Wasser. Mit immer noch wild herumfuchtelnden Armen versuchte er sich an den Bojen festzuhalten. Panik breitete sich in ihm aus, obwohl er mit dem Kopf aus dem Wasser ragte bekam er noch immer keine Luft. Ein heftiger Krampf in seiner Brust ließ ihn Wasser und Schleim hervorwürgen. Erst nachdem er 2-mal gewürgt hatte füllten sich seine Lungenflügel unter heftigem Husten nach und nach wieder mit Luft.
Ein paar Minuten lang klammerte sich Lars noch am ganzen Körper zitternd an zwei nebeneinanderliegenden Bojen fest, bevor er sich an der Grenzkordel entlanghangelnd auf den Beckenrand zubewegte. An einer der Leitern zog er sich zwei Stufen nach oben.
Sie waren verschwunden, hatten ihn einfach im Pool gelassen. Dieser Angeber hatte ihm von Anfang an nicht zeigen wollen wie man taucht, hatte ihn in den Pool geschickt, um seine Schwester für sich allein zu haben. Hatte sie dem dummen kleinen Jungen weggenommen, einfach so. Wahrscheinlich hatte sie nur auf jemanden gewartet, der sie von ihrem kleinen nervigen Bruder befreit. Er wusste, dass er sie lieber hatte als sie ihn. Sicher, wenn es darauf an kam war sie immer für ihn da gewesen, hatte ihm als einzige in der Familie vor dem Einschlafen Geschichten vorgelesen und manchmal bei langen Autofahrten durfte er seinen Kopf in ihren Schoß legen. Lars dachte an die vielen Nächte in denen er weinend in ihrem Zimmer gelegen hatte, wenn sie im Zeltlager oder auf Klassenfahrt war. Tränen schossen ihm in die Augen und er dachte an den Stoffhund der vor ein paar Monaten noch ihr Lieblingstier gewesen war und nachdem sie einen echten Hund bekommen hatten im Regal vor sich hin staubte.
Mit einem Mal wusste er, dass er diesen Jungen hasste; er hatte noch nie jemanden oder irgendetwas so gehasst. Als er letzten Winter während einer Prügelei mit seinem Cousin gebrüllt hatte er würde ihn hassen, hatte ihn sein Vater zur Seite genommen und erklärt, dass Hass viel stärker sei als Wut oder Zorn, dass er einen aber nicht ganz so kopflos handeln ließ, wie Lars mit seiner Prügelei gezeigt hatte. Es würde sich mehr so anfühlen als hätte man eine ganze Ladung Kieselsteine im Magen, die mit jeder Bewegung gegen die Magenwände reibt, die man weder ausspucken noch verdauen kann und sich zu einem Felsbrocken verdichtete, wenn man der betreffenden Person begegnete. Dann würde man sich immer wieder vorstellen wie es wäre, wenn man ihr den Felsbrocken wie einen Softball entgegenwerfen könnte. >>Sei wütend, zerreiße Zeitungspapier oder boxe in dein Kissen<< hatte er nachgesetzt >>aber gib Hass keine Chance seine Kieselsteine in dir abzuladen. Was auch immer durch ihn geschieht oder nicht geschieht, wird dich zwischen ihnen zermalmen<< Damals war er schulterzuckend in sein Zimmer gelaufen und hatte sich zusammen mit seinem Cousin und einer Tüte Erdnussflips eine Folge Roadrunner angesehen und diesem bei jedem auftauchenden Felsbrocken eines der Couchkissen gegen den Kopf geworfen. Jetzt fühlte er die Kieselsteine in seinem Bauch mit jeder Wasserbewegung aneinanderschlagen.

Mit zittrigen Knien stieg er aus dem Wasser, zog sein Handtuch vom Liegestuhl und trocknete sich, am ganzen Körper zitternd, ab. Er schaut sich noch mal nach den beiden um, konnte aber nur eine Gruppe älterer Frauen sehen, die unter Sonnenbrillen und komischen Hüten ölig eingecremt einige Liegestühle zurechtrückten.

Mit einer wilden Handbewegung riss er sich die Taucherbrille vom Kopf und warf sie ein paar Meter weiter in den Pool. >> Ist alles in Ordnung mit dir Junge? << rief eine der Frauen von der anderen Seite des Beckens besorgt zu ihm herüber. Sie trug einen ausgeleierten violetten Badeanzug und erinnerte Lars mit ihrer aschgrauen Dauerwelle ein wenig an seine Großmutter >>Ja, Ja alles in Ordnung<< entgegnete ihr Lars trotzig.

Aus dem zusammengefalteten Handtuch seiner Schwester ragte der Zimmerschlüssel.
Lars zog ihn hervor und ging mit bloßen Füßen die heißen Steinplatten entlang die um das Hotel herum auf die andere Seite führten. Unter einem der Sonnenschirme saßen seine Eltern und aßen Streuselkuchen. Er lief an ihnen vorbei in die Eingangshalle hörte aber noch die Stimme seiner Mutter >> Lars Schatz, alles in Ordnung? Es gibt Streuselkuchen, da ist Pudding drin <<.
>>Ja, Ja, JA, alles in Ordnung << rief er zurück und war auch schon auf dem oberen Treppenabsatz angelangt, von dem aus der Korridor zweimal rechts abbiegend, zu ihrem Hotelzimmer am Ende des Ganges führte.

Er fühlte nichts außer die vielen kleinen Kieselsteine in seinem Magen übereinander purzeln.
Wieso soll ich euch mit mir rumschleppen, sagte Lars halblaut. >>Ich brauche euch nicht<<. Er schloss die Tür auf und trat in das lichtdurchflutete Balkonzimmer, in dem er und seine Schwester schliefen. Die Kanten der aufgezogenen Gardinen blähten sich leicht in seine Richtung und eine Briese strich von der offenen Balkontür über seine Haut. Unten hörte er die Hotelgäste reden, hörte Kuchengabeln auf Tellerböden, roch Pfeifenrauch und Sonnencreme.

Ruckartig bewegte er sich zur Balkontür und schloss sie, dann zog er die orangefarbenen Vorhänge zu bis das Zimmer halbdunkel und still um ihn herum lag. Er setzte sich auf die Kante seines Bettes und überlegte, ob er die Kieselsteine noch fühlte, aber es war ruhig in seinem Bauch. Auf dem Nachttisch seiner Schwester sah er eine Nagelschere. Er nahm sie und begann damit Figuren aus der Pappeinlage eines seiner Comics herauszuschneiden. Als er damit fertig war, drehte er dem Lichtspalt der noch vom Balkon her einfiel den Rücken zu und breitete die Pappfiguren allesamt auf dem Tisch vor sich aus.
Irgendwann klopfte es an der Tür und die Stimme seiner Schwester rief zu ihm herein: Alles in Ordnung? Ja, antwortete er ruhig und öffnete die Tür.

Ein leises Dröhnte breitete sich um Lars herum aus. Es setzte einen Moment aus und schwoll erneut an, nur deutlich lauter als zuvor, so laut, dass es in seinem Kopf schmerzhaft nachhallte Seine Augen begannen zu flatterten. Vor ihm rückte eine Felswand ins Blickfeld. Lars riss das Steuer nach links. Dann hörte er Metall auf Metall reiben. Einige Sekunden lang ergoss sich von der rechten Fahrzeugseite her ein Funkenregen über die Leitplanke, dann lag der Wagen wieder in der Spur. Noch einmal dröhnte die Hupe des LKWs der jetzt auf den Mittelstreifen wechselte. Im Augenwinkel sah Lars wie das Beifahrerfenster heruntergelassen wurde. Als er sein Fenster einen Spalt breit öffnete ließ ihn das plötzlich aufflammende Fahrgeräusch zusammenzucken. >>Alles in Ordnung da drinnen?<< polterte eine raue Stimme im beißenden Strom hereinpeitschender Nachtluft. >> Ja, vielen Dank, kurzer Anfall von Sekundenschlaf<< rief Lars durch den Fensterschlitz zurück.
>> Sie sollten lieber eine Pause einlegen<< entgegnete ihm der LKW-Fahrer.
>> Mach ich, Danke nochmals<< gab Lars zurück und drosselte die Geschwindigkeit auf 80 km/h. Der LKW fuhr seitlich an ihm vorbei und wechselte dann wieder auf die rechte Spur.

Lars behielt die Geschwindigkeit bei und sah den LKW kurze Zeit später vor sich im Morgennebel verschwinden. Aus dem Nebel tauchten hinter ihm wieder ein paar Scheinwerfer auf. Rasch kamen sie näher und schwenkten nur wenige Meter hinter ihm nach links. Lars ließ den Kleinlaster vorbeiziehen und wunderte sich zunächst nicht, als dieser 3 Wagenlängen vor ihm wieder auf die rechte Spur wechselte. Nun schien das Fahrzeug jedoch langsamer zu werden. Obwohl Lars noch immer die 80 km/h beibehielt verringerte sich der Abstand zu seinem Vordermann stetig.

Als das Scheinwerferlicht das Heck des Fahrzeugs erfasste erkannte Lars, dass er einen Abschleppwagen vor sich hatte. Der aufgeladene PKW war kaum noch als solcher zu erkennen. Es hätte auch ein riesiger Klumpen formlos zusammengeknautschtes Metallblech sein können. Einzig die links und rechts herausragenden Reifen ließen auf seine frühere Identität schließen. Das Blech des Totalschadens schimmerte im Scheinwerferlicht blau.

„Könnte fast dein Aquamarin sein, was?“ sagte Lars und tätschelte aufmunternd die schwarzen Armaturen, bis auf einmal das hintere Nummernschild im Scheinwerferlicht lesbare wurde und sein Arm abrutschte.

B LU 101 und irgendwas. Die letzte Ziffer wurde durch die abgeknickte Stoßstangenverkleidung abgeschattet.

„Lieblingsfarbe und Geburtsdatum, klar, mit Blau und Bonn ist das machbar“ Er sah sich in dem kleinen stickigen Büro sitzen, sah das öliges Lächeln von den Mundwinkeln des Autohändlers tropfen.
Minutenlang blieb Lars, automatisch der Kurvenentwicklung folgend, im gleichen Abstand hinter dem Abschleppwagen.

Ein Bonner Fiesta in aquamarin und 5 Zeichen. Irrer Zufall, nichts wirklich Weltbewegendes. Und die letzte Zahl, von 1-9 ist alles denkbar. Na klar, irrer Zufall das Ganze. Aber nicht verrückter als damals, als er Platons Apologie gelesen hatte und bei der Passage über Sokrates Todesvorstellung, von seinem Vater zu einem Fernsehinterview mit Maximilian Schell heruntergerufen wurde, gerade in dem Moment, als dieser exakt die eben gelesene Stelle zitierte.

Es gibt eine Wahrscheinlichkeit dafür. Für alles gibt es eine Wahrscheinlichkeit.

Wie weit war er gefahren, hatte er Kreuz Heumar schon hinter sich gelassen? Irgendwie schienen ihm Zeitgefühl und Orientierung abhandengekommen zu sein, so, als ob die Raumzeit um ihn herum mindestens eine Dimension eingebüßt hätte.

Mit plötzlicher Entschlusskraft wechselte Lars auf den Mittelstreifen und trat das Gaspedal für einen kurzen Moment energisch gegen den Boden. Der Wagen heulte auf und zog an der verbeulten Abschleppladung vorbei. Ein Seitenblick zeigte ihm die Stelle, die einmal die Fahrerkabine gewesen war. Zwischen ineinandergeschobenen Metallschichten hing ein Gummifezen laut flatternd im Fahrtwind. Hin und wieder glitzerten Glassplitter zwischen den Metallfalten. Irgendeine dunkle Flüssigkeit tropfte aus der breiten Knautschfalte, die sich zwischen Fahrertür und Rahmen gebildet hatte. Die Fliehkraft einer plötzlichen Rechtskurve trieb einen der Tropfen gegen den rechten unteren Windschutzscheibenrand. Der Tropfen hatte einen dunkeln Farbton. Einem unreflektierten Impuls folgend knipste Lars das Licht in der Fahrerkabine an. Schwarz, nein fast, ein leichter Rot-Ton schimmerte durch. Es könnte eine Mischung aus Rost und Öl sein, argumentierte er halblaut gegen den Kloß an, der langsam die Speiseröhre hinaufglitt und ihm ganz allmählich die Luftzufuhr einschränkte.

Fast hatte er die Steuerkabine des Abschleppwagens erreicht und fragte sich gerade warum er etwas anderes erwarten sollte als einen leicht übermüdeten Fahrer, als das Gefährt ruckartig nach rechts ausscherte. Ganz automatisch folgte er dieser Seitwärtsbewegung auf die Ausfahrtspur.

Die Welt um ihn herum schien dunkler und unübersichtlicher geworden zu sein. Das in Nebelschwaden gehüllte Ausfahrtschild entzog sich seinen Entzifferungsversuchen und die vorbeiziehende Gegend wirkte verschwommen, ungewohnt und wild. Einzig das Heck des Kleinlasters blieb deutlich im Scheinwerferlicht zu erkennen.

Ein Stück weiter vorne leuchteten zwei rote Lichter in den straßenfüllenden Nebel hinein und obwohl Lars nicht damit gerechnet hatte, reduzierte der Abschleppwagen seine Geschwindigkeit, rollte eine kurze Strecke unbeschleunigt weiter und wurde schließlich kurz vor der Haltelinie zum Stehen gebracht. Lars spürte seinen Herzschlag im Hals anschwellen während er ein paar Schritte hinter dem Wagen hielt. Einen Moment lang konnte er sich nicht rühren und starrte einfach geradeaus auf die Heckklappe des Lasters. Sie war mit Aufklebern übersäht, die allesamt fremdartig und skurril wirkten. Auf einem stand >> Du meinst wohl dir könnte so was nicht passieren?! Das hat der Fahrer dieses Wagens auch gedacht<< Auf einem anderen las er >>Frage nicht wem die Stunde schlägt.....<< Lars schluckte und las einen dritten „Nach dem ErTrinken folgt das Zerquetschen“ Ihm wurde heiß, er wollte wegsehen, zur Seite, auf seine Benzinanzeige, irgendwo hin. Stattdessen wurde sein Blick von einen kleinen, abgenutzten Sticker der genau in der Mitte der Klappenfläche platziert worden war angezogen. „Lieber Kieselsteine kotzen als Geröllberge im Darm “ las er. >> Was zum Teufel… <<, entfuhr es Lars, der jetzt trotz laufender Standheizung unkontrolliert zitterte. >>So was Blödsinniges,

<< rief er in die Stille hinein >>ich hab sie doch nicht alle<< Er stellte den Motor ab und öffnete die Wagentür. Er musste sich vergewissern, dass er sich das alles nur einbildete, musste zum Fahrer gehen, mit ihm sprechen. Er griff nach dem Handy und stieg aus. „Ein kleines Orientierungsproblem, kein Netz……kann ja wohl jedem passieren, gerade in dieser Erbsensuppe “ Als er die Heckklappe erreicht hatte, erlosch das rote Ampellicht. Jetzt war es noch dunkler um den Wagen herum und Lars hielt einen Augenblick lang inne. Mit einem Mal erstrahlten die Ampeln im kalten Grün, und der Abschleppwagen fuhr an.

Hastig stolperte Lars zurück zu seinem Wagen und warf sich in den Fahrersitz. Als er aufs Gas trat erschreckte ihn das Klingeln des Warngeräusches und er tastete wild nach dem Gurt während er versuchte den Scheinwerferkegeln des augenblicklich vom Nebel verschluckten Abschleppwagens zu folgen. Von nun an fuhr er fast blind durch die Waschküche um ihn herum und sah nur dann und wann einen schwachen Lichtpunkt vor sich auftauchen und sich bald wieder auflösen im trüben Schwaden-Meer. Die einzige Orientierung bot das regelmäßige Fadenmuster des Mittelstreifens, der im Scheinwerferlicht einen seltsamen Rotton annahm.

Angestrengt folgte Lars dem roten Faden bis sich der Nebel um ihn herum auflöste und er dem Automatismus der allabendlichen Heimfahrt folgend in seine Einfahrt abbog. Verblüfft stellte er den Motor ab. Alles war still um ihn herum. So still wie ein erfrorener Schneeengel im Dezemberlicht. Er fragte sich ob er bereits tot war, ob er eingeschlafen und verunglückt war und jetzt wie in einem kitschigen Möchtegernhorrorfilm als Geist seiner Blutspur im Unfallwagen gefolgt war.
Blödsinn, er musste geträumt haben, er halluzinierte, ganz klar, aber wie ist er dann heim gekommen in diesem Zustand? Verdammt, die ersten Anzeichen einer Schizophrenie? Aber das gabs nicht in seiner Familie! Das…sein Handy klingelte. Er wand sich um und griff in den Korb auf dem Beifahrersitz. Das Handy fühlte sich kalt und leblos an. Das Ding war aus, kein Saft mehr. Verdammt, das war aber sein Klingelton, da schon wieder, unverwechselbar Seiner. Das Klavierspiel von Johanna im Sonnenuntergang aufgenommen, heimlich und nie gelöscht, selbst nach ihrer Hochzeit mit Prince Charming nicht. Warum hat er ihr nie was gesagt, auch dann nicht als sie ihn bat es zu sagen, als sie drohte zu gehen. Der Ton kam von draußen. Lars stieg aus und folgte dem Klavierspiel, folgte ihm zur offenen Eingangstür. Als er die Türklinke umschloss zog er sie angewidert zurück und betrachtete den Ölfilm auf seiner Handinnenfläche. Was zum Teufel? Das Klingeln kam aus dem Schlafzimmer.

Die Tür war noch angelehnt. Wie in Trance schritt er den Flur entlang und fühlte sich wie in den Fluchtträumen, die er manchmal hatte, in denen man sich anstrengte zu entkommen aber mit jeder Sekunde langsamer wurde und schließlich festfror, ein gefundenes Fressen für den Axtmörder. Plötzlich stand Lars im Zimmer. Und dort stand der Korb, der eben noch in seinem Wagen auf dem Beifahrersitz gestanden hatte und darin, dass verdammt nochmal tote Handy, das den Walzer in A-Moll spielte, wieder und wieder.

Lars hechtete aufs Bett kippte den Inhalt des Korbes über die Steppdecke und fischte aus dem Durcheinander von Büchern und Kleidungsstücken das Handy heraus. Hastig drückte er auf die grüne Taste und krächzte ein wackliges >>Hallo?<<

>>Ist alles in Ordnung? << dröhnte es.

Reflexartig polterte ihm die Antwort wie große Kieselsteine aus dem Mund.

>>NEIN, es ist NICHTS in Ordnung<<

Draußen hörte er einen Motor aufheulen. Er ließ das Handy fallen und hastete zum Fenster. Wild entschlossen einen Blick auf den Fahrer zu werfen zerrte er am Rolladenzug, doch als er die gegenüberliegende Straßenseite einsehen konnte sah er den gelben Laternenlichtkegel über freien Asphalt flackern.

>>Lars?<< rief es aus dem Handy hinter ihm, auf dem Boden.

Erschrocken fuhr er herum und starrt auf das Display. >> Scheiße, LARS, so sag doch was << kreischte das Handy. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm die Stimme bekannt vorkam. Mit weichen Knien ließ er sich auf den Boden fallen, griff nach dem Handy und antwortete >>Alexa?<<
Alexas Stimme entsetzlich heiser und besorgt meldete sich augenblicklich zurück

>>Geht's dir gut? Was sollte diese WhatsApp mitten in der Nacht „Hilfe, ich krieg keine Luft mehr“? Himmel, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt<<
Als er nach 2 Stunden endlich auflegte, federleicht und mit leerem Magen breitete sich am Himmel schon ein blaugraues Licht aus. Lars ging zum Fenster zog den Griff nach oben und ließ die Geräusche des aufkeimenden Verkehrs die dumpfe Stille des Zimmers austreiben. Die eintretende Morgenluft roch nach Schnee und frischen Brötchen.

 

Hallo und willkommen @Baskerville,

ich hoffe mal, ich komme morgen dazu, mehr zu schreiben, dann auch zum Inhalt, aber mal so eine Sache, die mich sofort angesprungen hat:

Er griff in seine Jackentasche und zog den Schlüsselbund aus einem Gewühl von Taschentüchern, Aspirin-Paletten und 50 Cent Stücken hervor. Ein prachtvolles Eisblumenmuster überzog den Wagen.
Einer von diesen beiden wäre ein guter Einstiegssatz. Da ist sofort ein Bild da.

Während:

Da stand er, ganz einsam auf seine Rückkehr wartend. Der Blaue, er hatte tapfer ausgeharrt, während seine morgens noch rücksichtslos dicht gedrängte Nachbarschaft den Nachmittag hindurch immer gefräßiger werdende Betonlücken hinterlassen hatte.
Bitte was? Erstmal ein Partizip gleich als Eröffnung und der zweite Satz ist echt ein Rausschmeißer. Dieser Effekt, dass man im zweiten Absatz schnallt, dass es um ein Auto geht, da sind viele Leser schon weg.

Vielleicht bis morgen
JC

 

Hey JC, danke fürs Willkommen heißen und für den ersten Kommentar, ja du hast recht der Einstieg packt nicht so richtig. Die Idee mit dem zweiten Absatz anzufangen ist klasse. Einen Teil des ersten Ansatzes würde ich aber gerne noch mitnehmen.
Wie wäre es damit:

'Er griff in seine Jackentasche und zog den Schlüsselbund aus einem Gewühl von Taschentüchern, Aspirin-Paletten und 50 Cent Stücken hervor. Ein prachtvolles Eisblumenmuster überzog den Wagen. Spät abends im Laternenlicht erinnerte er Lars immer an ein ausgesetztes Haustier. Unbarmherzig hart warf der Boden seine Schritte zurück. Er hasste es in die lautverkniffene Spätabendstimmung einzufallen, wie auf eine eng umstandene Bühne, die mucksmäuschenstill jemand ganz anderen erwartet.
Er steckte den Schlüssel ins Türschloss und war verwundert als sich die Fahrertür problemlos öffnen ließ.'

Gruß,
Baskerville

 
Zuletzt bearbeitet:

So,

da bin ich nochmal. Ich habe das Ende nicht ganz verstanden, weil ich ab der Hälfte nur noch überflogen hab. Das wiederum habe ich aus folgenden Gründen getan:

Einmal dieses Geschnalze, anstatt "Er ging die Straße runter zum Auto" lieber sowas Aufgeblasenes zu nehmen wie "Seine gummierten Sohlen trugen ihn Samson und Deliah aus Gummi gleich den Asphalt hinab, mäandernd dahin zum Kfz, während der glutrote Ball am Firmament droben, aka Sonne", irgendwas Verrücktes machte. Keine Ahnung, wie lange du schon schreibst, aber häufig ist das ein Anfängerding, man vertraut der eigenen Geschichte bzw. dem eigenen Erzählen nicht und fängt deshalb an, überall so glitzerndes Zeug dranzuschrauben, aber geübte Leser sehen das sofort, dass das alles Kitsch und Schrott ist. Diese Sachen würde ich als erstes raushauen, es kommen gleich ein paar Beispiele.

Zweitens die nicht enden wollenden, inneren Monologe des Prots. Er erinnert sich an mehr Sachen, als in der Geschichte passieren. Mit tausend Namen auch noch, von denen eigentlich keiner wichtig ist, keiner in der Geschichte eine Funktion erfüllt.

Drittens sehe ich hier einmal den Beinahe-Unfall und dann diese Schwimmbad-Irgendwas-mit-Messer-Häh?-Episode. Das bekomme ich auch nicht zusammen. Als ich gerade halbwegs drin war, er im Auto, Gedanken an die Freundin, da geht das mit dem Schwimmen los und hört, scheinbar komplett ziellos, einfach nicht mehr auf. Ich würde mich für eines von beiden entscheiden oder mich zumindest auf die Autofahrt konzentrieren und Rückblenden kurz halten.

Dann noch was zu Erwartungen: Seltsam geht wohl klar, mit dieser mitternächtlichen Nachricht, aber wo hier Horror- und Philosophiefans was für sich entdecken sollen, verstehe ich nicht.


Er steckte den Schlüssel ins Türschloss und war verwundert als sich
Er steckte den Schlüssel ins Türschloss und war verwundert, als sich

Als er sich ganz langsam der Parkplatzausfahrt näherte stellte
Als er sich ganz langsam der Parkplatzausfahrt näherte, stellte / Da ist auch klar, dass man auf so eine Ausfahrt nicht zurast.

diesem Eisblumenfilter vor seinen Augen
den Augen, es können nur seine sein

wie das Kristallnadelkunstwerk in dem Wechselspiel der Gegenfahrbahnlichter ein organisches Funkeln annehmen würde.
Das ist so um literarischen Klang bemühtes Geschwurbel (Organisches Funkeln?), ähnlich wie der Anfang und gleich kommt bestimmt noch mehr. Ich würde das alles raushauen. / Die Eisblumen blitzten im Licht der anderen Autos.

Vor 20 Jahren als er
Vor 20 Jahren, als er / Check Kommasetzung nochmal, ab hier höre ich auf, ist mir zu viel.

Fünf Minuten später passierte er mit klarer Sicht und erträglicher Innentemperatur das Ortsausgangsschild.
Bei Infos dran denken: Brauche ich die wirklich?

vor knapp 2 Jahren zusammen mit Johanna hier zum ersten Mal vorbeikam
vorbeigekommen war - Vorvergangenheit

zehn, ach so, und zwei

ihr langes, kastanienrotes Haar aufgelöst im Sonnenuntergangslicht.
Immer, wenn ein bisschen Fahrt reinkommt, nimmst du die mit sowas wieder raus.

Genau wie bei meinem Großvater dachte Lars.
, dachte / Ein sehr analytischer Gedanke dafür, dass er gerade fast einen Satz gebaut hat.

kaum 10 Stunden zu
Alles ist immer zehn irgendwas zuvor.

1m Bretts
Einmeterbrett oder 1-Meter-Brett

Schau mal der Rubin da, den hätte ich gerne. Komm kleiner Delphin, wirf ihn her
Die wird doch von anderen Kindern regelmäßig verprügelt.

>>Sei wütend, zerreiße Zeitungspapier oder boxe in dein Kissen<< hatte er nachgesetzt >>aber gib Hass keine Chance seine Kieselsteine in dir abzuladen. Was auch immer durch ihn geschieht oder nicht geschieht, wird dich zwischen ihnen zermalmen<<
Das ist fast unlesbar, rein von der Aufmachung. Und dieser Dialog. Ein bisschen Yoda oder Karatefilm, aber nicht gut imitiert. Die Figur redet hier so gestelzt, wie auch einige der Beschreibungen klingen.

Liegestuhl und trocknete sich, am ganzen Körper zitternd, ab.
Liegestuhl und trocknete sich ab, am ganzen Körper zitternd. (trocknete sich zitternd ab)

Es hätte auch ein riesiger Klumpen formlos zusammengeknautschtes Metallblech sein können.
Aus was ist das Auto denn gemacht?

Aber nicht verrückter als damals, als er Platons Apologie gelesen hatte und bei der Passage über Sokrates Todesvorstellung, von seinem Vater zu einem Fernsehinterview mit Maximilian Schell heruntergerufen wurde, gerade in dem Moment, als dieser exakt die eben gelesene Stelle zitierte.
Hast du deshalb Philosophie getagt? Weil der Prot zwischendurch mal an Platon denkt?

„Ein kleines Orientierungsproblem, kein Netz……kann ja wohl jedem passieren, gerade in dieser Erbsensuppe “ Als er die Heckklappe erreicht hatte,
Also sorry, aber solche Stellen lesen sich echt wie komplett frei Schnauze einfach hingespuckt. / „Kein Netz ... kann (. Kann) passieren in dieser Erbsensuppe." Als er die Heckklappe erreicht hatte,

Viele Grüße
JC

 

Puh JC, da bleibt ja nicht mehr viel übrig am Ende. Ich werde gar nicht erst den Versuch machen auf den Inhalt einzugehen. Da steckt so einiges an Autobiographie drin, natürlich zusammengewürfelt. Vielleicht kommt da einfach zu viel zusammen als dass es sich zu einem sinnvollen und nachvollziehbaren Erzählstrang zusammenbinden lässt. Die Tatsache, dass da Momentaufnahmen der eigenen Geschichte drinstecken macht diese Pille allerdings umso bitterer. Der Text kommt offensichtlich so rein gar nicht an, hab's verstanden, und ich scheine wohl auch sehr offensichtliche und nervige Anfängerfehler zu machen, die es dem geschulten Blick fast unmöglich machen ihn lesen zu wollen, geschweige denn zu mögen. Ist angekommen. Muss das erstmal sacken lassen und werde dann überlegen wie ich den Text umgestalte. Jedenfalls danke ich dir fürs Lesen, deine Ratschläge und Geduld.

Viele Grüße,
Baskerville

 

@Baskerville

Der Text kommt offensichtlich so rein gar nicht an,
Gerade diese aufgeblasenen Formulierungen fabrizieren am Anfang fast alle. Wichtig ist, nicht auf stur zu schalten und den unverstandenen Künstler zu geben, sonst lernt man nichts dazu. Ist wie ein Instrument: Wenn du dir ohne Vorerfahrung eine Gitarre nimmst, klingt das halt erstmal nach nichts, und dann wird's langsam immer besser.

Die Tatsache, dass da Momentaufnahmen der eigenen Geschichte drinstecken macht diese Pille allerdings umso bitterer.
Das ist jetzt ein bisschen binse, aber da wäre mein Tipp, zu überlegen, was du erzählen willst. Anekdoten der eigenen Biografie, die man wichtig oder lustig oder was auch immer findet, tun das ohne literarische Bearbeitung für den Leser meist nicht. Was anderes ist es, zum Beispiel seine Berufserfahrung als Koch in einen Krimi einzubringen, in dem jemand Restaurants damit erpresst, ihnen das Essen zu vergiften.

 

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