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Hein, Helgoland und der Durst
Hein Muckelmanns Kinn war auf die Brust gefallen. Die Augen hatte er geschlossen. Gleichmäßige ruhige Atemzüge spiegelten die Zufriedenheit seines Daseins wider.
Gottlob war es angenehm kühl im neuen großen Rathaus der stolzen Hansestadt Hamburg. Im vergangenen Jahr war der repräsentative Bau nach den Plänen des genialen Architekten Haller Senat und Bürgerschaft der Handelsmetropole übergeben worden.
Hein gehörte zu den Privilegierten, die in diesem Prachtgebäude arbeiten durften. Als Senatsdiener und Bürobote hatte er Zugang zu den großzügigen Räumen. Ihm stand eine glänzende berufliche Zukunft bevor – zum Hilfsschreiber könne er bei Bewährung in den kommenden Jahren aufsteigen. Doch davon träumte er im Augenblick auf der hölzernen Bank vor der großen Schreibstube nur. Im Unterbewusstsein fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen, als ihn eine scharfe Stimme ins Diesseits zurück rief:
„Muckelmann!“
Wie von der Tarantel gestochen sprang er in die Höhe, knallte automatisch die Hacken zusammen und biss sich kräftig auf die Zunge, als er seinen Kopf beflissen zum Diener auf seine Brust hinab stieß.
„Sehr wohl, Herr Inspektor!“
„Kommen Sie.“
Der Vorsteher des Schreibbüros hatte sich bereits abgewandt und stolzierte gemessenen Schrittes durch die hohen Gänge des Rathauses. Sie durchquerten die große Eingangshalle und stiegen die steinerne Treppe ins Obergeschoss empor.
Vor der übergroßen Tür zum Arbeitsraum des Senators blieb der Inspektor stehen und pochte gegen das Holz. Statt einer Antwort schwang der Türflügel auf. Ein älterer Mann in Uniform verbeugte sich und wies mit der Hand auf den Schreibtisch im Hintergrund:
„Der Herr Senator erwartet Sie!“
Hein wurde es weich in den Knien. Mit solch hohen Herren hatte er bisher noch nichts zu tun.
Der Senator rückte seine Nickelbrille zurecht, die für sein großes rundes Gesicht viel zu klein wirkte. Seine Haare waren im Laufe der Jahre vom Kopf zum Backenbart hinunter gerutscht, während es ungeklärt blieb, ob die knallrote Gesichtsfarbe vom engen Stehkragen her rührte, der seinen dicken Hals einschnürte.
„Sie sind Muckelmann?“, fragte der hohe Herr mit strenger Stimme.
„Sehr wohl, Herr Senator!“
Hein verneigte sich. Das laute Plopp seiner zusammenschlagenden Hacken wurde von der vornehmen Täfelung des Senatorenbüros geschluckt.
Der Senator hüstelte, bevor er weiter sprach: „Nur wenigen Menschen ist soviel Glück wie Ihnen beschieden, Muckelmann. Sie sind Zeuge eines historischen Ereignisses. Was sage ich... Zeuge? Sie dürfen daran mitwirken.“
Hein stockte der Atem. Welche Glücksgöttin hatte ihn, den kleinen Senatsdiener aus dem Gängeviertel, auserkoren?
Statt einer Antwort verneigte er sich sprachlos.
„Seine Majestät, der Kaiser, und Königin Viktoria von England haben einen der bedeutsamsten Verträge dieses Jahrhunderts geschlossen“, fuhr der Senator fort. „Sie haben sicher davon gehört, dass die Truppen unseres Kaisers und in deren Gefolge tüchtige Kaufleute große Teile Afrikas zur Ehre und zum Wohle von Majestät und Vaterland erobert haben und weiter erobern werden. Sogar in der Südsee weht die kaiserliche Flagge. Nur eine unbedeutende Insel vor Afrikas Küste, die der Krone nebenbei anheim gefallen ist, verspricht keine Prosperität. Sansibar wird sie genannt. Nun ist es unserem Kaiser gelungen, dieses Eiland einzutauschen. Statt dieser fernen Insel gehört fortan Helgoland zu unserem Reich.“
„Helgoland“, murmelte Hein andächtig. Diese Insel in der Nordsee, einst von Seeräubern und Friesen beherrscht, bis Anfang des Jahrhunderts die Engländer den roten Felsen und die benachbarte kleinere Insel eroberten, um diese als Flottenstützpunkt zur Durchsetzung der Kontinentalsperre gegen Napoleon zu nutzen. Fortan würde also die kaiserliche Flagge auf dem grün-roten Felsen wehen.
Der Senator wedelte mit einem versiegelten Dokument.
„Hier ist eine Abschrift des Vertrages, der mit Wirkung von heute, dem 01. Juli 1890 wirksam ist. Seine Durchlaucht, der Herr Reichskanzler Fürst Bismarck persönlich hat angeordnet, dass die Insel Helgoland der Verwaltung der preußischen Provinz Schleswig-Holstein zugewiesen werden soll.“
Zweifelsohne war es hochinteressant, was ihm der Senator dort eröffnete. Dennoch war sich Hein über seine Rolle bei diesem historischen Ereignisse immer noch im Unklaren.
„Wir haben sofort versucht, eine telegrafische Depesche zum Oberpräsidenten der Provinz nach Kiel zu senden, aber der Draht scheint unterbrochen.“
„... wahrscheinlich hat der Kröger in Quickborn wieder zuviel Köm an die Bauern ausgeschenkt“, mischte sich der Inspektor erklärend ein, „so dass die dortigen Moorbauern in ihrem Dunsche ihre Fuhrwerke zu hoch mit Torfballen beladen haben und die Telegrafenleitung wieder einmal zerrissen wurde.“
Ein strafender Blick des Senators ließ ihn verstummen.
„Gleichwohl muss die kaiserliche Depesche sofort zum Herrn Oberpräsidenten nach Kiel expediert werden. Dazu, Muckelmann, sind Sie auserwählt.“
Hein bekam weiche Knie. Er, der kleine Senatsdiener, sollte dieses staatswichtige Reichsdokument, sogar mit kaiserlichem Siegel, nach Kiel bringen.
„Der Inspektor wird Sie instruieren. Doch eines sei noch angefügt: Die Kassen unserer Stadt sind leer. Seien Sie sparsam mit den Reisekosten, die dritte Klasse sei Ihnen gestattet.“
Mit diesen Worten entließ sie der Senator.
Es war ein mühsames Reisen. Vom Rathaus hatte er den Fußmarsch zum Dammtor angetreten, war dort in die Verbindungsbahn eingestiegen, die ihn ins benachbarte preußische Altona gebracht hatte. Der Hauptbahnhof der kleinen Schwester Hamburgs war zwar wunderbar auf der Höhe des Elbufers direkt an der Palmaille gelegen, aber dennoch ein Provisorium. Es wurde allerdings schon an einem neuen repräsentativen Hauptbahnhof gebaut, einen guten Kilometer landeinwärts, dort wo die Allee zur hamburgischen Herrschaft Eimsbüttel führte.
Warm war es in diesem Sommer. Zu gerne hätte Hein etwas getrunken, aber Wasserträger wie der alte Hummel, die durch das hamburgische Gängeviertel streiften, waren in Altona nicht unterwegs.
Überhaupt, heute Abend war Hein Muckelmann mit seinen Freunden verabredet. Das schöne Wetter lockte die Menschen ins Freie, zum Bummeln, zum Flanieren oder zum kameradschaftlichen Biertrinken in den Freiluftschänken auf dem Großneumarkt.
August war zum Stauerviezen befördert worden und Wilhelm war seit zehn Jahren als Kohlenträger in Diensten seines Prinzipals. Das musste gefeiert werden. Und so hatte sich die Herrengesellschaft in den Abendstunden zum Schoppen im „Goldenen Anker“ verabredet.
Bei diesem Gedanken wurde es noch trockener im Mund und Hein musste heftig schlucken.
Es dauerte ewig, bis der Personenzug nach Kiel unter dem hölzernen Dach bereitgestellt wurde.
Hein drückte das wichtige Dokument eng seinen Körper und quetschte sich mit anderen Fahrgästen in das Coupe. Acht Menschen saßen sich in der Enge auf den hölzernen Bänken gegenüber, dazwischen Pappkoffer, Tornister, ein leerer Drahtkäfig für Geflügel und anderes Reisegepäck. Eine undefinierbare Geruchsmischung lag in der Luft. Eingezwängt zwischen einer schwitzenden Bäuerin, die vom Markt zurück in ihr Dorf fuhr, und einem Seemann, der seiner Alkoholfahne nach kräftig Abschied vom Landurlaub gefeiert hatte, starrte Hein auf sein Gegenüber, einem älteren Mann im zerschlissenen Gehrock, der fortwährend mit seinen Augen zwinkerte. Bald würde der Schaffner zur Kontrolle vorbei kommen. Der Bahnbeamte hangelte sich außen am Waggon auf dem umlaufenden Trittbrett von Abteil zu Abteil.
Warm war es im Coupe. Und der Gestank wurde immer ärger. Durch das herabgelassene Fenster drang der beißende Qualm der Lokomotive ins Wageninnere.
Hein versuchte seinen Arm zu bewegen, um seine Taschenuhr hervor zu holen. Gern hätte er gewusst, wie spät es war. Währenddessen bummelte der Zug gemächlich durch die vorbeiziehende Landschaft. Es war unmöglich, am selben Tag nach Kiel und wieder zurück zu gelangen. Ausgerechnet heute, der Tag, an dem seine Herrengesellschaft sich zu dem besonderen Ereignis verabredet hatte...
Die Bauersfrau hatte versucht, ihre kräftigen Oberarme in die Hüften zu stemmen und Hein dadurch noch ein wenig mehr vom ohnehin knappen Platz genommen. Der Seemann zur Linken war eingeschlafen und schnarchte dabei so lautstark, dass er das Rumpeln des Waggons auf den Schienenstößen mit Leichtigkeit übertönte. Dabei war sein Kopf zur Seite gefallen und ruhte jetzt auf Heins Schulter. Der Mann mit den zuckenden Augenlidern gegenüber hatte es sich bequem gemacht und seine Füße weit von sich gestreckt, die jetzt auf Heins Gamaschen ruhten.
Der Senatsdiener hatte einen fürchterlich trockenen Hals. Wenigstens ein Glas Wasser hätte er im Rathaus noch trinken sollen. Einen schönen Becher kühles Wasser... Erfrischende Feuchtigkeit, die durch die Kehle rann... Und heute Abend herzhaftes Bier, helles Gebräu im Kreise guter Freunde.
Das alles war ihm nun verwehrt. Nur weil der Kaiser eine Insel getauscht hatte. Nur weil er eine dringende Depesche zum Oberpräsidenten nach Kiel zu verbringen hatte.
Nein! Weder für Helgoland noch für Sansibar, weder für Kaiser noch Vaterland wollte er in diesem erdrückenden Eisenbahnabteil dritter Klasse sein Leben lassen. Außerdem hatte er unermesslichen, unerträglichen Durst.
So sprang er in Pinneberg aus dem Zug. Schließlich war diese Station die erste Kreisstadt in der preußischen Provinz auf dem Weg nach Kiel.
Hein entschloss sich, das wichtige Dokument nicht dem Herrn Oberpräsidenten auszuhändigen, sondern dem Landrat in Pinneberg zu übergeben. Die kaiserliche Depesche würde ordnungsgemäß einem hohen kaiserlichen Beamten in Schleswig-Holstein ausgehändigt worden sein. Damit, so hatte er beschlossen, sollte seine Mission beendet sein.
Und deshalb gehört Helgoland bis heute zum Kreis Pinneberg.