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Serie Heinrich (10): Alles Gute

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10.02.2000
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Heinrich (10): Alles Gute

»Alles Gute«, flüsterte Mama in mein Ohr.
War ich noch im Traum?
»Komm, Heinrich, aufstehen! Es geht wieder los.«
Nein, kein Traum. Der erste Tag im neuen Schuljahr. Vierte Klasse. Nun einer der Großen. Und ich wurde wirklich immer größer. Von Tag zu Tag, so hatte es den Anschein. Oft klagte ich über schmerzende Beine, aber Mama schickte mich in die warme Badewanne – und am Ende in den Sport. Seit den Sommerferien ging ich zwei Mal die Woche ins Handballtraining und ebenfalls zwei Mal in Leichtathletik. Es war viel, aber ich hatte Spaß; und merkte schnell, dass mehr in mir schlummerte, als die Menschen um mich herum ahnten. Ich stand auf.
»Lass dich ansehen«, bat mich Mama. Sie legte Kleider zurecht und ich zog den Schlafanzug aus, tippte auf ihre Schulter. Gelbe Socken in der Hand, drehte sie sich um und stemmte die Hände in die Hüften.
»In einem halben Jahr hast du mich erreicht, wenn du so weiterwächst. Und die Füße werden auch immer größer. Die Socken haben schon wieder ein Loch …« Sie steckte den Zeigefinger durch. »Heinrich, Heinrich, wo ist nur der kleine Bub hin verschwunden?«
»Muss ich in die Schule?«, fragte ich wider besseres Wissen.
Sie legte den Kopf auf die Seite.
»Herr Bausch ist nicht mehr an der Schule. Du bekommst einen neuen Klassenlehrer. Ich bin mal gespannt. Du nicht auch?«
»Nein.«
Sie knuffte mich.
»Sei nicht so ein Griesgram. Zieh dich an und komm frühstücken.«
Es führte kein Weg dran vorbei, also wusch ich mich und zog die Kleider über. Das Toastbrot duftete schon.

Mama saß mir gegenüber und fischte mit einer Gabel die Toastbrote aus dem neuen Gerät, das Papa letzte Woche gekauft hatte.
»Da hat er Mist gekauft«, seufzte sie. »Die Feder ist viel zu schwach.«
»Ist Papa schon früh weg?«
Mama nickte beiläufig, belegte die beiden Scheiben mit Käse und wickelte sie in Brotpapier.
»Nach Meschede. Ein großes Schulzentrum aufmessen.«
»Dann hat er doch viel Arbeit. Das ist gut, oder?«
Sie sieht mich an und faltet die Kante der Tischdecke.
»Natürlich, Heinrich … ja, die Firma wächst so schnell …«
Ich überhörte nicht den Ton hinter Mamas Worten. Eine Angst, die ich nicht fassen konnte, aber in ihren suchenden Blicken entdeckte, die am Brotpapier hängenblieben.
»Du musst gehen, Heinrich. Vergiss deine Schulbrote nicht.«
Ich nickte und stand auf, einen Knoten im Magen. Mamas Gespür für Unheil war wie tieffliegende Schwalben. Sie kündigten Schlechtwetter an. Man konnte die Tage zählen bis zum Regen. Meine Angst und ich machten uns auf den Weg ins neue Schuljahr.

*​
»Guten Morgen, Kinder! Ich bin der Herr Milz.«
Groß, breitschultrig, die Hosenbeine viel zu lang und Arme bis zu den Knien.
»Guten Morgen, Herr Milz«, kam es wie aus einem Mund.
»Der säuft«, setzte Andi flüsternd nach. Ich meinte, meinen Ohren nicht zu trauen und schlug ihm auf den Oberschenkel. Er blickte mich an und nickte Richtung Tafel.
»Die Nase ist so rot wie sein Hemd«, fuhr er fort. »Ist wie bei meinem Alten. Ich schwör‘s.«
Klaus war hängengeblieben und Andi saß nun neben mir. Einen Kopf kleiner, blass, schmales Gesicht und schütteres, blondes Haar. Jeder erstbeste Windstoß fegte ihn von den Füßen. Dafür verfügte er über ein loses Mundwerk, das ihn immer wieder in prekäre Situationen brachte.
»Heute werden wir uns kennenlernen«, sagte Herr Milz und schrieb seinen Namen an die Tafel. »Wisst ihr, was das Wort Milz noch für eine Bedeutung hat, außer mein Nachname zu sein?«
Stille in der Klasse. Er lächelte und zeigte auf seinen Bauch.
»Hier drin gibt es ein Organ. Es nennt sich Milz. Und was macht die Milz
»Keine Ahnung«, sagte jemand in der vorderen Reihe.
»Natürlich, das werdet ihr erst viel später lernen. Deswegen sage ich euch heute nur die wichtigsten Punkte: Die Milz verwertet die alten, roten Blutkörperchen und unterstützt unser Immunsystem. Also, damit wir unsere Krankheiten schneller überwinden.«
Er schwieg und erwartete offenbar eine Reaktion. Sein Mund öffnete sich. Ich bekam den Eindruck, in einen tiefen Schlund zu blicken. Ein Mädchen links hustete und Andi zählte seine Stifte.
»Na, ich sehe schon, das ist noch nicht euer Thema«, meinte er dann. Mit Schwung umrundete er den Tisch und setzte sich auf die Platte, verschränkte die Arme.
»Aber eines kann ich euch verraten: Zwischen Leber und Milz, passt immer noch ein Pils.«
»Siehste«, sagte Andi, »ich wusste es doch.«
*​
Herr Milz war ein guter Lehrer. So viel war sicher. Er schimpfte nicht, sah nie von oben herab auf uns Wichte, setzte sich bei Problemen immer in unsere Mitte und konnte erklären, dass es selbst die ganz Doofen fast auf Anhieb verstanden. Da blieb nur ein Problem, mit dem wir nicht umzugehen wussten. Ab der vierten Stunde schlief er hin und wieder ein. Anfangs vermuteten wir, er sei nun tot – oder zumindest auf dem Weg dorthin. Aber lautes Schnarchen überzeugte alle vom Gegenteil. Der Übergang vom Wachsein in den Schlafzustand erfolgte sehr abrupt. Herr Milz schaffte nur drei Stunden zu stehen, zu erklären, mit seinen langen Armen Gegenstände in die Luft zu zeichnen, dann musste er sich setzen, war sichtlich erschöpft, fast abwesend. Und noch etwas bemerkte ich an ihm …
Eines Tages gingen er und ich in den Kartenraum, ein entgegenkommendes Mädchen vor uns stolperte, fiel hin. Herr Milz hob es wieder auf, ganz besorgt, fragte, ob alles in Ordnung sei, sortierte die Papiere auf dem Boden. Ich starrte auf seinen hochgerutschten Pullover und entdeckte eine Unmenge schlecht verheilter Wunden, lange Narben, Hautfetzen, dunkelrot, lila, bis hinunter zum Gesäß; in das mich seine weite Hose blicken ließ. Als das Mädchen alle Papiere beisammen hatte und sich artig bedankte, bat er es, beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein und drehte sich zu mir. Wir blickten uns in die Augen. Er wusste, was ich gesehen hatte und ich, dass wir nun beide ein Geheimnis teilten. Schweigend setzten wir den Weg fort, suchten und fanden die Reliefkarte von Europa mitsamt Asien, plapperten dabei Belangloses und gingen zurück.
*​
Andi kannte unsere Wohnung wohl bald besser als sein Zuhause. Er fragte an einem Tag nach dem Unterricht, ob er heute kommen könne, denn bei der einen oder anderen Aufgabe hätte er Schwierigkeiten. Bestimmt, sagte ich erfreut. Ab diesem Tag erledigten wir meist alle Hausaufgaben zusammen. An unserem Esstisch.
»Warum kommt Andi immer zu dir? Du gehst nie zu ihm«, fragte Mama. »Gibt es dafür einen Grund?«
Ich überlegte. Er hatte mir nie einen genannt. Am Verstehen der Aufgaben lag es nicht, denn damit hatte er keine Schwierigkeiten, war also nur Vorwand.
»Ich glaube, Mama, er ist nicht gern zuhause.«
Sie stutzte und setzte sich neben mich, blätterte in meinem Erdkundeheft.
»Ist er alleine?«
Markus fiel mir ein. Aber ich wusste nicht, ob es bei Andi ebenso war.
»Sein Vater trinkt, hat er erzählt.«
Mama sah mich genau an. Dann nickte sie, abwesend, ihr Blick wanderte in die Ferne.
»Er ist immer willkommen«, sagte sie dann, drückte meinen Arm und stand auf. Schon im Türrahmen zur Küche drehte sie sich noch einmal.
»Heinrich?«
»Ja, Mama?«
»Ich bin sehr stolz auf dich.«
Ich schluckte und fixierte schnell den eurasischen Teil des Kontinents auf dem Papier. Ein Träne landete auf meiner Bildunterschrift. Ural stand dort, die blaue Tinte verlief. Einem Erdbeben gleich rüttelte mich das tiefe Gefühl, allein zu sein. Allein wie Dirk aus der dritten Klasse oder Andi, Markus und Robert. Allein wie vielleicht auch Herr Milz … und allein wie Mama. Mit dem Löschpapier trocknete ich den Ural und zog das Wort nach.
*​
Der Herbst war einfach so durch die Hintertür gekommen, kaum dass wir ihn bemerkten, umklammerte er alles mit seiner nebligen Kälte. Schlotternd saß Andi neben mir auf einer der vielen Holzbänke des Schulhofs.
»Ich geh rein. Mir ist arschkalt. Kommst du mit?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich finde das schön. Geh du nur. Komm gleich nach.«
Er rieb sich die Hände und stapfte los. So wie er machten es noch viele andere Schüler. Verbrachten die Pause in der Aula. Von rechts sah ich Herrn Milz kommen, direkt auf mich zu. Er paffte seine stinkende, filterlose Zigarette. Eine nach der anderen.
»Heinrich, darf ich mich setzen?«
Ich nickte und hustete. Er sah auf die Kippe und trat sie unter der Bank aus. Von der Seite betrachtet, glich seine große rote, stark geäderte Nase ein wenig dem Nildelta. Durchsetzt mit tiefen Dellen, kraterähnlich. Und sogar auf den Backen zogen feinste blaue Adern ihre Bahn, verzweigten, endeten im fleischigen Nichts.
»Heinrich …« Ich lauschte gespannt. »Du hast gesehen, was ich auf dem Rücken habe und dich vielleicht gewundert … bist erschrocken darüber …« Sein Blick war an die gegenüberliegende Wand des Schulgebäudes gerichtet. Dann sah er mich an. Unvermittelt. Mit seinen wasserblauen Augen. »Ich weiß, dass ich dir das erzählen kann. Du bist schon ein Großer.«
Wieder nickte ich. Was sollte ich sonst tun?
»Im Krieg war das«, fuhr er fort. »Ich war bei der Artillerie. Du weißt, was das ist?«
»Ja, ich weiß.«
»Ein Treffer in unsere Munitionskisten. Die Splitter haben mir den Rücken zerrissen. Viele davon stecken heute noch drin. In den Rippen.«
Er seufzte, atmete tief ein und zog eine Filterlose aus einer Schachtel. Dann erinnerte er sich wohl an mein Husten und behielt sie zwischen den Fingern.
»Siehst du meine Nase?«
»Ja, Herr Milz.«
»Ich trinke. Und ich schlafe ein. Ich will das nicht, aber …«
Er schwieg und die Pausenglocke schrillte. Ich blieb sitzen, ebenso wie er.
»Du darfst mir das nicht übel nehmen«, sagte er dann.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Tu ich nicht«, erwiderte ich. »Und ich bin auch nicht erschrocken.«
Er lächelte und zündete sich die Zigarette an. Dann klopfte er mir auf die Schulter.
»Zeit fürs Lernen«, sagte er und stand auf.
*​
Ich überzeugte Andi davon, mit mir ins Handball- und Leichtathletiktraining zu gehen. Mein bestes Argument war, dass er in dieser Zeit nicht zuhause wäre. Schon am nächsten Tag stand er neben mir auf dem Hallenboden. In diesen wenigen Monaten, seit Beginn der vierten Klasse, spürte ich zum ersten Mal ein tiefes Band von Zuneigung, Abhängigkeit und so etwas wie Fürsorge für jemanden. Oder, um es mit Mamas Worten zu sagen: Andi ist wohl jetzt dein Freund. Die Angst, die sich immer wieder mir nichts, dir nichts von hinten an mich heranschlich, trat langsam, aber sicher, in den Hintergrund.
»Du hast einen Freund, Heinrich. Das freut mich für euch«, sagte sie lächelnd. Was das bedeutete, bis zu welchem Punkt man plötzlich bereit war zu gehen, das wusste ich noch nicht. Ich genoss diese Zeit wie ein warmes Bad an kalten Wintertagen.

Egal ob in der Freizeit, dem Sport, in der Schule, wir klebten aneinander wie Kletten. Ich hatte zwischendurch das Gefühl, einen Bruder zu haben – und Mama möglicherweise einen zweiten Sohn. Kein einziges Mal nahm Andi mich mit zu sich nach Hause. Er erzählte so gut wie nichts. Und ich fragte nicht. Mama gab mir morgens sogar fünfzig Pfennig mit für ihn, damit wir uns eine Tüte Kakao kaufen konnten am Schulkiosk. So auch an jenem Morgen, einige Tage nach den Winterferien.
»Gib mir das Geld, Heinrich. Ich renne schnell zum Kiosk«, drängelte er. Ich stopfte das Deutschbuch in den Ranzen. »Schnell! Ich muss pinkeln!« Seufzend griff ich in meine Hosentasche und zog die beiden Fünfziger raus. Er riss sie mir aus der Hand und war auch schon weg.
»Heinrich?«
Ich sah hoch. Herr Milz schrieb gerade etwas ins Klassenbuch.
»Ja?!«
Er schaute her und grinste.
»Komm mal bitte.«
Die Klasse leerte sich. Lärmend stürmten alle hinaus. Ich wartete ab, bis Platz war, dann ging ich vor ans Lehrerpult.
»Nimm dir einen Stuhl und setz dich neben mich«, forderte er mich auf, was ich gerne tat, denn Herr Milz war zu meinem absoluten Liebling geworden. Ich vertraute ihm voll und ganz. Und was er alles wusste …
»Heinrich, ich habe deinen Aufsatz über Köln gelesen. Und er hat mich sehr beeindruckt. Es gibt einen Wettbewerb für Grundschüler, der nennt sich: „Schreibe etwas über deine Heimatstadt“. Da habe ich dich angemeldet.«
Er schwieg und blickte mich erwartungsvoll an. Wahrscheinlich machte ich große Augen, mit offenem Mund oder so etwas, denn er fing an zu lachen.
»Wirklich?«
»Wirklich. Ich habe es gestern von Frau Schadt bekommen und an dich gedacht.«
»Äh, danke, Herr Milz.« Ich wurde rot. Er kratzte sich am Kopf und nickte, ohne etwas zu sagen, steckte seine Stifte ein und holte die Filterlosen aus der Ledertasche.
»Gerne, Heinrich. Und jetzt ab in die Pause.«
Ich stand auf, stellte den Stuhl zurück und rannte hinaus. Zu Andi. Das musste ich ihm unbedingt sagen. Durch den Haupteingang auf den Zwischenhof, die Treppe hoch zum Schulhof der Hauptschule, an dessen Beginn der Kiosk stand. Eine Unmenge Schüler davor. Andi war nicht dabei. Wo könnte er sein? Nichts zu sehen von ihm. Und auch nicht von meinem Kakao. Niemand wusste etwas. Als ich um den Kiosk herumging, die beiden Fahrradhäuschen hinter mir ließ und nun auf dem Schulhof der Hauptschule stand, entdeckte ich Andi zwischen drei großen Jungs. Sie schubsten ihn wie einen Wasserball herum. Er stolperte immer wieder, wobei ihn der nächste auffing und wieder von sich stieß. Sie lachten, zogen über ihn her. Was sollte ich tun? Gab es hier denn keinen Lehrer?
»Heinrich!«
Er hatte mich entdeckt und versuchte zu entkommen. Ein Schlag in den Magen hielt ihn davon ab. Andi knickte ein und lag verkrümmt wie ein Baby auf dem Boden. Neben einem der Jungen standen die beiden Kakaotüten. Einer von den Jungs trat Andi in den Hintern, dann zogen sie mit unseren Getränken ab.

Ich spürte die Wut kommen, aus der Tiefe, die Explosion, und stürmte schweigend los. Rannte auf den Größten zu, dessen Faust in Andis Magengrube gelandet war, trat ihm von hinten in die Kniekehlen, worauf er sofort einknickte und fiel. Wie der Blitz saß ich auf seinem Rücken, griff in diese braunen Haare und schlug den Kopf wieder und wieder auf die Knochensteine. Eine Faust traf mich an der Schläfe, aber da war kein Schmerz, nur ein leichtes Wanken. Andi war auf den Beinen und trat einen der anderen ins Gemächt. Ich sah Blut unter mir. Das Blut von Andis Peiniger. Es färbte die Steine rot. Dann plötzlich Andis Gesicht vor meinem. Der Kopf war immer noch in meiner Hand, landete weiter auf den Steinen.
»Heinrich! Hör auf! Heinrich!«
Starke Hände zogen mich weg. Lehrer, mehrere. Ich schlug wie wild um mich. Jemand goss einen Eimer kaltes Wasser über mich. Der große Junge rührte sich nicht. Wie eine Eisenklammer drückte mich ein Arm fest an einen Körper, den ich nicht sah. Eine Frau kam und drehte den Jungen auf dem Boden, sagte mehrmals einen Namen, bis er reagierte. Ein anderer mit Verbandskoffer erreichte die Menge um uns, all die Mädchen und Jungs, mit Händen vor dem Mund, vor Entsetzen geweiteten Augen. Ich fror plötzlich wie ein Schneider. Endlich entdeckte ich Herrn Milz. Er nahm mich diesem fremden Mann ab, auf seine langen und starken Arme, hielt mich fest. Dann weinte ich und sah durch die Tränen Andi hinter mir mit den Kakaotüten. Was hatte ich getan? Was nur!?

*​
Mama holte mich ab, nass wie ich war, schwieg, während wir nach Hause gingen. Von einer Sekunde auf die andere war alle Freude über meinen Aufsatz, Herrn Milz‘ Mitteilung, das empfundene Glück, in einem dunklen Loch verschwunden. Mein schlechtes Gewissen zog ich mit einer Kette wie eine alte Dampfwalze hinter mir her. Es riss an jeder meiner Körperfasern. Mama schwieg immer noch, als wir uns an den Esstisch setzten. An den Knien entdeckte ich das Blut des anderen. Sie folgte meinem Blick. Dann stand sie auf und verschwand kurz, kam mit trockenen Kleidern wieder.
»Hier, bitte zieh die an.«
Ich tat, was sie sagte. Sie legte die Hose ins Spülbecken, ließ Kaltwasser ein und streute Salz auf das Blut. Dann kam sie mit schnellen Schritten aus der Küche, zog mich vom Stuhl auf die Couch, ich auf ihrem Schoß. So saßen wir und sagten einfach nichts. Ihre Hand auf meinem Kopf, die ab und zu kraulte. Vielleicht hat sie ihre Stimme verloren, dachte ich, vielleicht würde sie jetzt nie mehr mit mir sprechen. Aber sie wusste wohl einfach nicht, was sie sagen sollte. Vor dem Fenster wanderten die Schatten und wurden länger, bis sie mich von sich wegdrückte und ansah.
»Erzähl mir mal, was du fühlst, bei so einem Ausbruch.«
Das war nicht schwer.
»Wut.«
Sie überlegte.
»Du bist sehr gut in Erdkunde. Wenn die Wut ein großer Fluss sein kann, welcher von diesen großen Flüssen war deine Wut heute?«
»Der Nil.«
»Ist das der längste Fluss?«
Ich nickte.
»Wo ist denn deine Wut, wenn sie nicht aus dir herausbricht?«
»Im Marianengraben.«
Sie sah mich überrascht an.
»Was ist denn der Marianengraben?«
»Der tiefste Meeresgraben, den es gibt. Elf Kilometer unter der Oberfläche. Dort ist es immer dunkel.«
Mama atmete tief ein und aus, schloss die Augen für einen Moment.
»Hast du Angst, dass diese Wut aus dem Graben auftaucht?«
Ich fing an zu weinen, wollte mich an sie schmiegen, aber sie wartete auf meine Antwort. »Ja«, gab ich zu. Ihre Arme umschlossen mich fest.
»Wir müssen was gegen diese Wut tun«, erklärte sie. »Aber erst werde ich mit der Mama dieses Jungen telefonieren.«
Mein Herz rutschte bis hinab in den Keller und mir wurde elend schlecht.
*​
Papa und Mama fuhren am Abend dorthin. Gehirnerschütterung, hatte ein Arzt im Krankenhaus gesagt. Platzwunde. Musste genäht werden. Es war ein Schüler der sechsten Klasse. Die Eltern trafen sich tags darauf in der Schule, der Hergang wurde aufgeschrieben. Andi hatte ein sehr gutes Gedächtnis und berichtete sehr intensiv von dem, was sich davor abspielte. Zeugen wurden gesucht. Beide Seiten mussten sich entschuldigen, aber für mich blieb ein Extrabonbon. Die Bekämpfung der Wut. Man einigte sich auf den Besuch bei einem Psychologen. Nach einer Woche ging ich wieder in die Schule. Andi holte mich ab. Auf der Hälfte des Weges stoppte er kurz und hielt mich fest.
»Weißt du, was mein Papa gesagt hat, Heinrich?«
Dies war das erste Mal, dass er von daheim erzählte, von einem Gespräch. Ich war überrascht, dass dort überhaupt geredet wurde.
»Nein. Was hat er denn gesagt?«
»Bring den mal mit. Der hat Eier in der Hose
»Ich hab was?«
Andi lachte und griff sich in den Schritt.
»Mensch, du weißt schon. Eier, die zwei Murmeln da unten in deinem Sack.«
Ich wurde rot. Er lachte immer noch und hüpfte von einem Bein aufs andere. Dann blieb er wieder stehen.
»Heinrich?«
»Mh?«
»Du hast mir geholfen …« Er weinte plötzlich und ich traute meinen Augen nicht. Klar, immer, wollte ich sagen. Schwieg aber. Stattdessen schnappte ich seinen Arm und zog ihn mit mir. So trafen wir in der Aula ein und ich spürte förmlich den Unterschied, fühlte die Blicke, das Ausweichen an engen Stellen, auf der Treppe, lauschte dem Tuscheln. Was war passiert? Andi schniefte, putzte sich die Nase. Niemand sagte etwas zu uns. In der Klasse machten sie Platz in den schmalen Durchgängen. Und diejenigen, die vorher gleichgültig waren, nur ein Hallo sprachen, lächelten scheu. Ich entdeckte etwas in ihren Augen. Klaus fiel mir ein, der Sitzenbleiber. Plötzlich wusste ich, was es war. Sie hatten Angst. Sie fürchteten mich. Vielleicht sogar uns. Das war es nicht, was ich wollte. Niemals. Und doch … machte es mich plötzlich unangreifbarer. Da kribbelte etwas in meinem Magen. Ich setzte mich, legte Buch und Heft auf den Tisch, lächelte Andi an und knuffte ihn auf den Oberarm. Er packte ein Bonbon aus und reichte es mir. Herr Milz erschien, seine Ledertasche unterm Arm.
»Guten Morgen, meine Lieben!«
»Guten Morgen, Herr Milz!«, antwortete der Chor.
Er trommelte mit zwei Fingern einen Takt auf sein breites Kinn. »Wisst ihr, wer heute Geburtstag hat?« Sein Kopf schob sich nach vorne. »Na? Keiner?«
Niemand sagte etwas.
Andi grinste mich an und hob die Hand.
»Du?«, flüsterte ich. Er nickte leicht.
»Alles Gute, Andi.«

 

Lieber @Morphin,


stimmt, du schreibst wirklich fast schneller als ich die Zeit aufbringen kann, das alles zu lesen!:D
Respekt vor so viel Output. :thumbsup:

Es ist zwar sonst nicht meine Art, nur wenig Feedback zu geben, aber bei dir ist das anders.
Wäre das nun nur eine Geschichte pro Monat, würde ich mich sicherlich mit deutlich viel mehr Akribie drüber werfen, aber so und das nehme bitte als Kompliment, habe ich einfach angefangen zu lesen und mich gut unterhalten gefühlt.
Und wieder kann ich mich nur in die Wiederholung begeben, wenn ich schreibe, dass ich dich für einen guten Erzähler halte.
Alles, was du schreibst, liest sich einfach zu runter, klare Sprache, treffsichere Dialoge, du weckst Empathien für die Figuren, man lebt mittendrin im Geschehen und alles läuft dann vor mir ab wie in einem Film.
Ich lese dich gern!
Aber ganz ehrlich, die Menge macht mir schon zu schaffen.

Was mir an dieser Geschichte auffiel, war die Reaktion der Mutter. Ich muss gestehen, ich wäre da ziemlich ratlos gewesen. Man spürt, dass sie ihren Sohn wirklich gut kennt und durchschaut und das hat mich eigentlich von allen Dingen, die so passieren in dieser Geschichte, am meisten beeindruckt. So eine Mutter müsste man für jedes Kind bereit halten.

Und an dieser Stelle musste ich richtig lachen. Ja, Kinder halt, die denken dann sofort das Schlimmste. Herrlich komischer Moment.

Anfangs vermuteten wir, er sei nun tot –

Was mir dazu noch etwas gefehlt hat, war eine Schilderung, was die Klasse dann in den Minuten oder Stunden? gemacht hat. Wurde dann getuschelt, gelacht, wurde es vielleicht hie und da etwas lauter? Tobte man in der Klasse, wanderte zwischen den Tischen umher, beschoss sich mit Papierfliegern? Also mir fehlt ein wenig mehr darüber, die Reaktion der Schüler.

Was ich nicht so gut nachvollziehen konnte, war innerhalb des Gesprächs mit dem Lehrer Milz, sein Geständnis, zu trinken. Das kauf ich dem Protagonisten nicht ab, dass der Lehrer in der damaligen Zeit sich derartig geöffnet hat, vielleicht genau diesen Punkt weglassen?

Lieben Gruß

lakita

 

Ich schluckte und fixierte schnell den eurasischen Teil des Kontinents auf dem Papier. Ein Träne landete auf meiner Bildunterschrift. Ural stand dort, die blaue Tinte verlief. Einem Erdbeben gleich rüttelte mich das tiefe Gefühl, allein zu sein. Allein wie Dirk aus der dritten Klasse oder Andi, Markus und Robert. Allein wie vielleicht auch Herr Milz … und allein wie Mama. Mit dem Löschpapier trocknete ich den Ural und zog das Wort nach.
Hi @Morphin
Ich würde auch manchmal noch gerne den Ural trocknen. Ach wie kann weinen gut tun. Und deine Beschreibung ist zum weinen gut
Ich fror plötzlich wie ein Schneider.
Ich bin an der Stelle über diesen Satz gestolpert. Ich würde "wie ein Schneider" weglassen. Ist für mich hier unnötig.
Mama holte mich ab, nass wie ich war, schwieg, während wir nach Hause gingen. Von einer Sekunde auf die andere, war alle Freude über meinen Aufsatz, Herrn Milz‘ Mitteilung, das empfundene Glück, in einem dunklen Loch verschwunden. Mein schlechtes Gewissen zog ich mit einer Kette wie eine alte Dampfwalze hinter mir her. Es riss an jeder meiner Körperfasern. Mama schwieg immer noch, als wir uns an den Esstisch setzten. An den Knien entdeckte ich das Blut des anderen. Sie folgte meinem Blick. Dann stand sie auf und verschwand kurz, kam mit trockenen Kleidern wieder.
Gut gemacht wie er hier herunter kommt. Hat mir gefallen.
Ja, deine Geschichte hat mir wieder gut getan. Der Leser begleitet die Protagonisten. Du schreibst von Wunden und Du beschreibst sie. Der zweite Weltkrieg schwingt unpolitisch politisch mit. Die Zeit nach diesem Ereignis, dass die Welt veränderte, ist bei Dir immer präsent und trotzdem geht das Leben weiter. Unaufgeregt, die kleinen Abenteuer von Klassenkameraden und Lehrern.
Es ist eine berührende Erzählung von kleinen Jungs und Vätern, von Müttern und dem heranwachsen.
Ich habe sie heute, hier und jetzt, gerne gelesen. Schöne Bilder bleiben.
Danke
Ich wünsche eine erholsame Nacht.

G.
.

 

Moin @Rob F,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Gleich zuerst:

Warum drückt sie seinen Arm?
Kennst du das nicht? Liegt Mutters Hand auf deinem Unterarm, als Mutmacher, das wird schon, drückt sie leicht zu. Hab ich auch schon oft woanders gesehen und hab das auch bei meinen Kindern gemacht. Ist wie ein Klaps auf die Schulter.

Ansonsten deine Anmerkungen übernommen, hie und da noch was formuliert, weg, geändert usw.
Damals war mit Kinder- und Jugendpsychologen noch nix. Das war alles in den Anfängen zu Beginn der 70er. Da gab es bestenfalls den Erwachsenenpsychologen. Die vorherrschende psychologische Methode war noch die Ohrfeige in großen Teilen.

Ab und zu habe ich mit straffällig gewordenen Jugendlichen zu tun. Eines der größten Themen ist die Vernachlässigung - oder wie man so schön sagt - die emotionale Deprivation; durch Eltern, egal ob arm oder reich, Gesellschaft, Schule. Banal gesagt: einfaches Zuhören kann oft viel bewirken. Wirklich nicht selten haben sich viele der Jugendlichen - gleich viele Mädchen wie Jungs übrigens - durch fragen, nachfragen, Interesse, zuhören wie ausgewechselt gezeigt. Zuhören und nachfragen hat auch was von Reflexion. Vorsichtig, erst mal, aber ich war oft überrascht, wie wenig nötig ist, damit sich jemand öffnet - und so dann natürlich auch Vertrauen aufbaut. Und da waren auch Schläger dabei, Raub, Erpressung, alles mögliche.

@Rob F und @lakita,
inzwischen schreibe ich ja nur noch, oft 6 - 8 Stunden am Tag. Hab ja genug Zeit. Und wenn man sich das mal antrainiert hat, dann läuft es auch.

@lakita,
auch Dir vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren und Grüße nach Hamburg, hoffe, da stürmt es nicht wie hier. Ja, die Realität mit 57 1/2 und lauter Absagen für Jobs wegen zu alt und zu viel Urlaub und gehen sie doch in Frührente oder für alte Leute einkaufen, hat mich erst mal geärgert, dann habe ich das durchgehende Schreiben beschlossen und mittlerweile bin es gewöhnt. Erstaunlich. So durch die Hintertür kam das. Dann hab ich erst mal festgestellt, was man so alles auf der Platte rumliegen hat. Jo, mal sehen, was daraus wird.

Es hat sich auch viel IM Schreiben geändert, aber das lasse ich auf mich zukommen. Zum Schlaf des Herrn Milz, der Arme ... er musste nach dem Schuljahr übrigens gehen ... habe ich durchaus überlegt, noch einzubauen, dass wir dann zeichneten, auf Klo abhingen, lauter wurden, bis man es bemerkte, die Eltern sich zunehmend beschwerten, aber dann dachte ich, dass es nicht zu dem Strang passte.

Das Trinken, zuzugeben, zu trinken, typisch für ihn. Ich kann ihn nur so beschreiben: ein offener, grundehrlicher Mensch, absolut auf Augenhöhe mit uns, eine fast schon unheimliche Vertrauensperson, der sagte, was er dachte oder wie er sich fühlte. Es gab niemand unter uns, der sich nicht vor ihn gestellt hätte. Aber am Ende hat ihn das auch in den Vorruhestand gebracht.

Hallo @G. Husch,
vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Bei "ich friere wie ein Schneider" erinnerte ich mich an jenen Satz, den ich von Oma hatte und auch so übernahm, quasi immer einsetzte, weil er mir gefiel. Wahrscheinlich Umgangssprache, aber wohl nicht nur in Süddeutschland. Im Prinzip ein Bezug zu einer kulturellen Wurzel, Märchen, Schneiderlein ... was - zumindest damals - von Oma, Opa, Mama hochgehalten wurde (Märchenbücher lesen, vorlesen) und ich heute immer noch gut finde, als einen Bezug zur "alter Sprache".

Ich freue mich, wenn es dir gefallen und angenehme Leseminuten verschafft hat.

Grüße an alle
Morphin

 

Lieber Morphin,

Das Trinken, zuzugeben, zu trinken, typisch für ihn. Ich kann ihn nur so beschreiben: ein offener, grundehrlicher Mensch, absolut auf Augenhöhe mit uns, eine fast schon unheimliche Vertrauensperson, der sagte, was er dachte oder wie er sich fühlte. Es gab niemand unter uns, der sich nicht vor ihn gestellt hätte. Aber am Ende hat ihn das auch in den Vorruhestand gebracht.
Schau genau diese Infos hätte ich so gern innerhalb der Geschichte gelesen. Es macht sie ja nicht um Seiten länger, wenn das da auch noch drin steht. Und ich finde auch nicht, dass dadurch deine Intention verwässert wird. Nachdem du mir mehr Hintergrund von ihm mitgeteilt hast, verstehe ich sein Geständnis auch besser und finde es nicht mehr unglaubwürdig.

Lieben Gruß
lakita

 

»Alles Gute«, flüsterte Mama in mein Ohr.
War ich noch im Traum?
Ja nur kurz noch einmal @Morphin, weil es mich belustigte.
Dein schöner Anfang, mit diesem banalen Satz. Und Du schließt mit ihm, ebenfalls.
Andi grinste mich an und hob die Hand.
»Du?«, flüsterte ich. Er nickte leicht.
»Alles Gute, Andi.«
Sehr gelungen... für mich

Nur kurz mit Gruß, weil ich das beim letzten Mal vergessen hatte, es fiel mir vor dem Lesen der Geschichte schon auf.

G.

 

Mahlzeit @lakita,

ich überlege, wie ich das einbauen kann. Mal sehen ... thx in den Norden.

Hi @G. Husch,
stimmt, ich weiß gar nicht mehr genau, wann A. Geburtstag hatte, irgendwann im Spätjahr. Bauste mal ein, hab ich gedacht ...

Grüße an diesem verregneten Mittwoch an alle.
Morphin

 

Hallo @G. Husch,
vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Bei "ich friere wie ein Schneider" erinnerte ich mich an jenen Satz, den ich von Oma hatte und auch so übernahm, quasi immer einsetzte, weil er mir gefiel. Wahrscheinlich Umgangssprache, aber wohl nicht nur in Süddeutschland. Im Prinzip ein Bezug zu einer kulturellen Wurzel, Märchen, Schneiderlein ... was - zumindest damals - von Oma, Opa, Mama hochgehalten wurde (Märchenbücher lesen, vorlesen) und ich heute immer noch gut finde, als einen Bezug zur "alter Sprache".
Jo, "wie ein Schneider frieren" wird im deutschen Sprachraum insgesamt verstanden und entstand wahrscheinlich daraus, dass Schneider als Stubenhocker und - berufsbedingt - eher als schwach angesehen wurde und - natürlich - als Aufschneider galten, wovon noch die "sieben auf einen Streich" künden.

Alles schon gesagt, aber weil ich gerade mal wieder herumwühle im Umfeld der gotischen Mythen- und Sagenwelt jenseits von Gustav Schwab - mit dem übrigens alles bei mir begann,, denn seit 1958 wohnten wir genau gegenüber einer Filiale der Stadtbücherei (mit Abteilung für Kinder und Jugendliche) und meine Alte Dame hatte schon über die "Stuttgarter Hausbücherei" reichhaltige Bestände - herumkrame (das Nibelungenlied ist ja nur ein kleiner Teil davon und zählt dazu allein schon wegen der Burgunder – die wahrscheinlich von „Haus“ aus einen gotischen Dialekt sprachen) – das liest sich weg wie eine Heldensage,

bestes Morphin weit und breit

und doch noch’n paar Flüskes

»Komm, Heinrich, aufstehen. Es geht wieder los.«
Der erste Satz schreit förmlich nach einem Ausrufezeichen!!! Du hast doch wohl keine Furcht vor dem/denen? Klopf ruhig noch mal alle Imperative und Bitten ab ...

»Muss ich in die Schule?«, fragte ich wider besseren Wissens.
Klar, so sprechen viele. Schriftdeutsch aber „wider besseres Wissen"

»Aber eines kann ich euch verraten: zwischen Leber und Milz, passt immer noch ein Pils.«
besser „… verraten: Zwischen Leber und …“ (weil dem Doppelpunkt ein vollständiger Satz folgt).

Dann kam sie mit schnellen Schritten aus der Küche, zog mich vom Stuhl auf die Couch, ich auf ihrem Schoss.
„Schoß“ – die Abschaffung des ß ist verhindert – und durch eine sinnvolle Regel begründet: doppel-s bei kurzen Silben („Fluss“), ß bei gedehnten („Fuß“)

Wie immer: Gern gelesen vom

Friedel

 

Hallo @Morphin

Was für eine tolle Geschichte, hast du da wieder geschrieben. Eine gute Freundschaft verbindet die beiden Jungs. Die Mutter eine Wutexpertin.

Siehst du meine Nase?«
»Ja, Herr Milz.«
»Ich trinke. Und ich schlafe ein. Ich will das nicht, aber …«
Er schwieg und die Pausenglocke schrillte. Ich blieb sitzen, ebenso wie er.
»Du darfst mir das nicht übel nehmen«, sagte er dann.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Tu ich nicht«, erwiderte ich. »Und ich bin auch nicht erschrocken.«
Das fällt mir schwer zu glauben.
Vielleicht war der Lehrer da betrunken und macht deshalb den Jungen zu seinem Vertrauten. Es gibt ja bekanntlich nichts was es nicht gibt. (Erscheint mir nur sehr unwahrscheinlich)
Mamas Gespür für Unheil war wie tieffliegende Schwalben.
Schöner Vergleich
Meine Angst und ich machten uns auf den Weg ins neue Schuljahr.
Ich bin dabei
Der säuft«, setzte Andi flüsternd nach. Ich meinte, meinen Ohren nicht zu trauen und schlug ihm auf den Oberschenkel. Er blickte mich an und nickte Richtung Tafel.

Wunden, lange Narben, Hautfetzen, dunkelrot, lila, bis hinunter zum Gesäß;
Die Hautfetzen konnte ich mir nicht erklären und
Er ist immer willkommen«,
Die Mutter spricht aber ganz schön vornehm. Ich hatte erwartet sie sagt: Er darf immer kommen.
»Ich bin sehr stolz auf dich.«
Ich schluckte und fixierte schnell den eurasischen Teil des Kontinents auf dem Papier. Ein Träne landete auf meiner Bildunterschrift. Ural stand dort, die blaue Tinte verlief. Einem Erdbeben gleich rüttelte mich das tiefe Gefühl, allein zu sein. Allein wie Dirk aus der dritten Klasse oder Andi, Markus und Robert. Allein wie vielleicht auch Herr Milz … und allein wie Mama. Mit dem Löschpapier trocknete ich den Ural und zog das Wort nach
Auch hier tue ich mich etwas schwer es zu verstehen: Die Mutter ist stolz auf ihn. Er hat einen neuen Freund und er fühlt sich allein und warum ist Mama allein?
Der Herbst war einfach so durch die Hintertür gekommen, kaum dass wir ihn bemerkten, umklammerte er alles mit seiner nebligen Kälte
So schön geschrieben.
Sie überlegte.
»Du bist sehr gut in Erdkunde. Wenn die Wut ein großer Fluss sein kann, welcher von diesen großen Flüssen war deine Wut heute?«
Die Mutter ist echt toll.

Gerne gelesen
Liebe Grüße aus dem Schwabenländle
CoK

 

@Friedrichard, guten Morgen,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Bin schwer beschäftigt (du weißt, an welchem Buch) und will unbedingt das Material noch da unterbringen bis zu den Sommerferien. Und frieren wie ein Schneider tu ich auch nicht, bei dem Wetter. Hab schnell ausgebessert, was da so herumlag. Freut mich, wenn es Dir gefallen hat.


@CoK
Salü und auch Dir besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Und leider ja, er war so gut wie immer betrunken, weshalb er manchmal einschlief, zu vorgerückter Stunde auch mal lallte oder den Faden verlor. Bei den Hautfetzen ... das ist gar nicht so selten ... Opa hatte das auch und ich auch. Genetisch bedingt gibt es Menschen, die mehr Fibronektin und Kollagen produzieren. Da wächst das Gewebe an Wunden quasi "über sich selbst hinaus". Wird es zu arg, kann man das mit ner heißen Drahtschlaufe abzwicken.

Beim "willkommen" muss ich diese Mutti mal in Schutz nehmen. Ich hab das übrigens auch bei meinen Kindern benutzt, weil es einen kleinen Unterschied zu "jederzeit kommen" macht. Obwohl ich aus niederem Haus stamme ... :D

Na, freut mich, wenn es dir gefallen hat und für ein paar entspannte Leseminuten sorgte in den "Daheimbleib-Zeiten".

Gesund bleiben alle.
Morphin

 

Hej @Morphin , Wochen zuvor habe ich schon Teil 6 und 7 gelesen, für einen Kommentar hat es seinerzeit nicht gereicht, aber beide haben mich in eine Zeit geführt, die mich ruhig werden ließ und weich. In meiner Kindheit habe ich Filme gesehen, die eine ähnliche Atmosphäre hatten: es ging um das Zwischenmenschliche, Interaktionen und Gespräche. Und wenn ich es recht entsinne, waren mehr Jungen daran beteiligt als Mädchen. :hmm:

Was mir an mir selbst beim Lesen dieser Geschichte auffiel war, dass ich weniger mitempfinden konnte als bei den beiden anderen Teilen zuvor. Diese hier kommt mir eiliger verfasst vor, denn während ich zuvor die Mutter sehr gut vor Augen hatte, ihre Kraft, aber auch ihre Traurigkeit spüren konnte, blieb sie hier hintergründig. Das wird natürlich Absicht sein, denn es geht in diesem Teil ja betont um die Beziehung Heinrichs zum Lehrer und zu Andi. Aber auch zwischen ihnen wird viel erklärt und deutlich dargelegt. Und frag mich nicht wieso, auch hier fehlte mir die Tiefe. Meinem Empfinden nach hast du mehr direkt Gefühle mit Worten ausgedrückt, als mit der Kraft des Nichtsagens, des Schwebens, als wollte der Autor auf Nummer Sicher gehen, dass auch alles genau so verstanden würde, wie er sich das gedacht hat. Ich hatte wenig Raum.

Auf meiner Schulter sitzt jetzt ein ... Fee vielleicht und nörgelt, das sei nun aber echt zu kryptisch und ich solle das mal schön belegen.

Ein großes Schulzentrum aufmessen
Heißt es echt nicht ausmessen?
Einem Erdbeben gleich rüttelte mich das tiefe Gefühl, allein zu sein. Allein wie Dirk aus der dritten Klasse oder Andi, Markus und Robert. Allein wie vielleicht auch Herr Milz … und allein wie Mama. Mit dem Löschpapier trocknete ich den Ural und zog das Wort nach.
An diesem Punkt bemerkte ich zum ersten Mal ein Missverhältnis. Der Erzähler erinnert sich an die Zeit des Kindseins und analysiert im Nachhinein ein Gefühl des Kindes, benennt es und versteht. Als erwachsene Leserin wäre ich aber lieber selbst darauf gekommen, meinetwegen hätte Heinrich es beim Beschreiben belassen können, denn ich dachte bereits an ein multipersonelles Gefühl ...
Dann erinnerte er sich wohl an mein Husten und behielt sie zwischen den Fingern.
an meinen Husten
Mein schlechtes Gewissen zog ich mit einer Kette wie eine alte Dampfwalze hinter mir her.
ein schönes Bild, wobei ich auf das Adjektiv verzichten könnte. Es bestärkt das Gefühl nicht, sondern zwingt mich zu überlegen, wie eine alte Dampfwalze aussieht und ob die sich jetzt schwerer ziehen lässt als eine neue. :D
So saßen wir und sagten einfach nichts. Ihre Hand auf meinem Kopf, die ab und zu kraulte. Vielleicht hat sie ihre Stimme verloren, dachte ich, vielleicht würde sie jetzt nie mehr mit mir sprechen. Aber sie wusste wohl einfach nicht, was sie sagen sollte.
Eine besondere Szene, aber auch an dieser Stelle müsste mir der gewachsene Heinrich nicht erklären, was die Mutter daran hinderte zu reden. Ich habe es bemerkt und ich wusste aus der Erfahrung mit ihr ja schon, wie klug sie ist.
»Wir müssen was gegen diese Wut tun«, erklärte sie. »Aber erst werde ich mit der Mama dieses Jungen telefonieren.«
Siehst du? So klug und lebensnah ist sie. Wohin sie allerdings mit all ihren Gefühlen ging, wäre wohl eine ganz andere Geschichte. Ich würde sie gerne lesen. ;)

Lieber Morphin, ich merke, dass mir für mein Empfinden, die Worte fehlen, vielmehr die Möglichkeit zu formulieren, aber vielleicht kannst du aus meinem Leseeindruck herausfinden, wie es gemeint ist. Nichts für ungut, denn ich mag deine Serie. Und deswegen werde ich die Kommentare für 6 und 7 nachholen und es kann ja gut sein, dass ich dann besser weiß, wie ich es dir mitteilen kann, worin der Unterschied für mich besteht ... was am Ende ja auch nicht so wahnsinnig wichtig ist. :D

Herzlicher Gruß. Kanji

 

Servus @Kanji,

sorry, ich bin wirklich im Stress, was mir gar nicht gut tut. Hab gestern gesehen, dass Du was geschrieben hast. Ich wollte antworten und dann kamen wieder Anrufe dazwischen, die ich nicht auf die Schnelle beantworten konnte ...

Zuerst mein Dankeschön an dich. Die Heinrich-Geschichten sind schon so weit nach hinten gerutscht, dass ich sie erst lesen musste, um auf deinen Kommentar antworten zu können. Ja, da hast du recht, der Mutter habe ich hier weniger Raum gegeben. Und nach dem zeitlichen Abstand dachte ich heute Nacht, dass es vielleicht nicht ganz dem Bild entspricht, der Regel der Serie, dass jeder Teil für sich stehen muss. Um sich ein Bild von der Mutter zu machen, müsste man vorige Teile lesen - oder aber anders herum: wenn man als Leser die vorigen Teile liest, mit der starken Mutter und dem schwachen Vater, dann könnte man hier enttäuscht sein; und nach der Mutter fragen. Tatsächlich dachte ich hier mehr an Freund Andi ... und wollte den Vater ein wenig in die Mitte rücken. In der Tat habe ich für die am längsten benötigt, WEIL ich einen anderen Fokus hatte.

Du schreibst: aufmessen versus ausmessen ... das sind in der Tat zwei verschiedene Methoden. Ein Architekt etwa macht ein Aufmaß, also die Gesamtheit aller messbaren Längen und Winkel bspw. in einem Haus. Ein Gebäudereiniger macht ein Aufmaß, die Gesamtheit aller zu reinigenden Flächen in einem Objekt. Innerhalb dieses Hauses etwa, kann ein Schreiner einen Tisch, eine Eckbank, eine Küche planen, auch ein Aufmaß. Aber dann muss er schreinern und die Einzelstücke vermessen, ausmessen.

Du schreibst, der Erzähler erinnert sich ...
Darüber habe ich nachgedacht vorher. Heinrich wird ja älter, also reflektierter und er erinnert sich und vergleicht. Er ist nicht mehr der Vier- oder Fünfjährige, so habe ich ihm die Gedanken in den Kopf gelegt als Erinnerungen an diese Personen. Ich erinnerte mich an mich sozusagen, und wie ich zu Erkenntnis kam. Durch Vergleich.

Die eigene Position bei so etwas zu BE- und zu ÜBERdenken, ist nicht einfach. Oder auch sie zu verlassen. Vielleicht gehört die ganze Serie nicht hierher. Dieser Teil hier ist so eine Art Brücke und ich bin unschlüssig, ob sie sie weiterbauen soll. Zumal ich momentan so gut wie gar nicht zu Belletristik komme, weil da ein anderer Stein schwer an mir zieht.

In einer PN kann ich dir dazu mehr sagen, denn das wäre Off Topic. Deine Hinweise aber nehme ich mit und werde sie für den nächsten Schritt aufbewahren. Denn der Gedanke, Mutter wie Vater mehr zu kombinieren, ist schon in meinem Hinterkopf.

Griasle und eine schöne Restwoche wünscht

Morphin

 

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